Max Prels: Kino (1919)

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Quelle: Jeanpaul Goergen
Buchcover

Max Prels in der Reihe Velhagen & Klasings Volksbücher erschienene Abhandlung "Kino" ist undatiert, lässt sich aber an Hand des Textes auf 1919 datieren. Das Buch ist mit 70 Abbildungen auf 80 Seiten auffallend reich ausgestattet; die Bildqualität auf dem Nachkriegspapier ist jedoch bescheiden. Als farbiges Umschlagbild dient das Gemälde "Aus Tausend und einer Nacht" von Lore Uphoff-Schill, einer Malerin der Düsseldorfer Schule. Die orientalische Fantasieszene verweist aufs Prels These, dass der Film "die größte Massensuggestion der letzten Zeit" (S. 8) sei, die zu "Kino-Gläubigkeit" (S. 4) und einem "Filmfieber" (S. 5) geführt habe. 1926 erscheint eine zweite Auflage mit einem anderen Titelbild und zum Teil anderen Abbildungen auf besserem Papier.

Prels will die "seelischen Voraussetzungen" (S. 5) des Films erkunden, den er als eine "volkspsychologische Frage ersten Ranges" (S. 8) ansieht. Kinoreformerisch ist seine These, der Film gäbe sich volkstümlich, sei aber im tiefsten Wesen volksfremd. (S. 8, 78) Kinoreformerisch ist auch sein Lob des Films im Dienste der Wissenschaft und einer "ernsthaften Aufklärungsarbeit" (S. 32).

Den Film charakterisiert Prels als Taschenspieler, der dem Volk seine billigsten Sensationsbedürfnisse abgelauscht habe und ihm diese im Kino wieder als Ersatz anbiete: "Dort, wo aus der Empfindungssphäre des Volkes nur gesteigerte, aber keine vertieften Stimmungen losgelöst werden, ist nur Täuschung möglich; nicht aber Spiegel und Abbild" (S. 78). Das Publikum sieht er in eine "Filmlüge" (S. 69) verstrickt und "mit volkstümlicher Kraft in eine volksfremde Welt verliebt" (S. 79). Zwar könne Film auch Kunst sein, allerdings nur in einem sehr engen Rahmen. Lubitschs Film "Madame Dubarry" zeige den neuen Weg auf, den das Kino gehen müsse.

Im leichten Plauderton und mit großer Fabulierfreude schreibt sich Prels durch fast alle Gebiete der Filmproduktion, lästert hier, stichelt dort. Neben genauen Beobachtungen verliert er sich gelegentlich aber auch in Allgemeinplätzen. Eine eigene Filmtheorie entwickelt er nicht; das war wohl auch nicht Absicht seiner populärwissenschaftlichen Schilderungen. Allerdings ist seine Einschätzung des Mediums Film überwiegend negativ. Die Kritik der Kinoreformer macht er sich größtenteils zu eigen, auch wenn er nicht explizit von "Schundfilms" spricht und dem Film auch Entwicklungsmöglichkeiten jenseits des Dokumentarischen und Lehrhaften zubilligt.

Nach einem nicht ganz fehlerfreien Ausflug in die Geschichte der bewegten Bilder stellt er die Aufgaben ausgewählter Filmberufe in einem Glasatelier vor: der Operateur, der nur mit Handschuhen anzufassen sei, der Hilfsregisseur, der als Sündenbock für alle und alles herhalten müsse, der bei den Aufnahmen eigentlich überflüssige Dramaturg, die Schauspieler und Komparsen, die unter der "Berufskrankheit des Films, dem Warten" (S. 16) leiden, der Regisseur und der gelegentlich auch anwesende Direktor, der "ein paar Brillanten über seinen wohlgenährten Leichnam blitzen" lässt und im Geiste überschlägt, "wie teuer er den Meter wird verkaufen können" (S. 18).

Dass die Filmaufnahmen nicht in der Reihenfolge der Handlung aufgenommen werden, vielmehr "Dekorationen abgespielt" werden, dem Darsteller somit die "Erregung des fortschreitenden Spiels" (S. 18) fehle, nimmt Prels als Beleg für die Unehrlichkeit des Kinos: Was unehrlich sei, könne auch nicht künstlerisch sein. Prels beschreibt dann Dreharbeiten in freier Natur sowie die Bauten und Kulissen, die am Rande der Filmateliers emporwachsen. Es folgen Ausführungen über Entwicklung und Montage des Films sowie über die Virage: "Naturaufnahmen werden grün viragiert, erleuchtete Zimmer erhalten einen orangefarbenen Ton, Nachtbilder einen blauen, Feuer einen roten Ton" (S. 24).

Der "Erbfluch der Kinematographie", ihre Stummheit, werde zwar durch Zwischentitel behoben, damit würde aber auch die Täuschung vollendet. Die Titelgebung sei eine der schwierigsten Aufgaben, die nur selten angemessen gelöst werde. "Die Titel sind immer irgendwie unbeholfen, sprachlich unkultiviert, aufgeblasen oder hanebüchen kindisch. Es gibt, selbst im Film [...] keinen Menschen, der spräche wie die Titel. Die Notwendigkeit, sich knapp auszudrücken, verführt zu einer manchmal geradezu lächerlichen Vergewaltigung der Sprache, andererseits hat der kolportagemäßige Grundzug des Films gerade im Titel ein Werkzeug gefunden, in Hintertreppenstilen zu schwelgen" (S. 26 f).

Erst in letzter Zeit hätten Drehbuchautor versucht, "dramatische Kultur mit den Bedingungen der Kinematographie" (S. 28) in Übereinstimmung zu bringen. Allerdings hätten nur wenige Schriftsteller Talent für Filmmanuskripte. Das Durchschnittshonorar für ein Manuskript übersteige kaum 1.000 Mark.

Prels beschreibt dann verschiedene Filmarten von der Groteske über das Lustspiel hin zum Kultur- bzw. Lehrfilm, auf den er ausführlicher eingeht. Dieser umfasse "alle Gebiete der anorganischen Natur, der Pflanzenwelt und des Tierreiches, das weite Feld der Medizin, zahlloser menschlicher Zivilisationsbestrebungen und Kulturerrungenschaften" (S. 32). Er hebt die Stillstandsvorrichtungen bei Schulkinematographen ebenso hervor wie den Einsatz von Zeitlupe und Zeitraffer und erwähnt neben dem landwirtschaftlichen Film auch den Industrie- und Sportfilm. Breiter geht er auf den medizinischen Film ein. So führt er den Film über eine von dem Chirurgen Ernst von Bergmann ausgeführte Unterschenkeloperation an, der am Berliner Kaiserin-Friedrich-Haus in der ärztlichen Ausbildung eingesetzt wird. Diese um 1903 entstandene Aufnahme einer "Amputation eines Unterschenkels" ist erhalten und wurde 1939 von der Reichsstelle für den Unterrichtsfilm ediert. Auch berichtet er von einer Vorführung der Ufa-Kulturabteilung mit Filmen über die Folgen der Geschlechtskrankheiten, die am 22. Mai 1919 in der Berliner Urania stattgefunden hatte.

Alsdann beklagt Prels, dass Deutschland während des Krieges nicht mit den unwahren und geschmacklosen Propaganda- und Hetzfilmen seiner Gegner mithalten und nur im Inland für die deutsche Zivilisation werben konnte. Den Begriff Propaganda spannt er zeittypisch sehr weit: "Der Propagandafilm wirbt wie nicht bald ein Mittel für Zeitgedanken, er kann der lautlose und doch beredteste Demagoge sein; ein Volksprediger, ein Volkslehrer, ein Volkserzieher. Er kann die tiefere Volksfremdheit des Lichtspieldramas wett machen durch die wahre, innere Volkstümlichkeit des aufklärenden, kulturtragenden, Gedanken vermittelnden propagandistischen Reichtums" (S. 38, 40).

Anschließend empört er sich, auch das charakteristisch für die Kinoreformbewegung, über die nach Aufhebung der Zensur florierenden Aufklärungsfilme, die er als "falsche Kulturfilme" (S. 42) ablehnt. Als Ausnahme lässt er jedoch die Filme von Richard Oswald gelten; auch dessen Film "Die Prostitution" von 1919 sei frei von Übertreibungen. Er lobt zudem den Tuberkulose-Aufklärungsfilm "Siegende Sonne" von 1917. Prels ruft aber nicht nach einer Wiedereinführung der Zensur, sondern appelliert an den guten Geschmack des Publikums, um "Machwerke" (S. 42) abzulehnen.

Ausführlich geht Prels auf die verschiedenen Ausprägungen des Spielfilms ein. Beim fantastischen Film erwähnt er "Der Student von Prag" (1913), "Alraune" (1919), "Homunculus" (1916) sowie "Svengali" (OT: "Trilby", USA 1915), Mit dem Detektivfilm habe die Kinematographie allerdings "den denkbar äußersten Tiefstand" (S. 44) erreicht. Literaturverfilmungen würden zumeist zu einer Verflachung und Veräußerlichung führen; als positives Beispiel führt er die Verfilmung des Romans von Otto Julius Bierbaum "Prinz Kuckuck" (1919) durch Paul Leni an. Schließlich spricht er noch kurz den Monumentalfilm und den historischen Film an und geht auf den Filmtrick ein. Sodann behandelt er den Zusammenklang von Bild und Ton beim Tonbild und informiert über die Entwicklung der Lichtspieloper bzw. -operette.

Im letzten größeren Kapitel beschreibt Prels die Traumfabrik als Sehnsuchtsort; die "Massenhypnose Kino" habe eine fast schon krankhafte Filmleidenschaft ausgelöst. Er schildert aber auch die Not der Komparsen und bezeichnet die Filmbörse als "menschliches Warenlager" (S. 56). Interessant seine Bemerkung über den Filmvorführer, der auch für die variable Handhabung der Vorführgeschwindigkeit verantwortlich ist: "Er muss Gefühl für das Tempo einzelner Szenen haben, er ist gewissermaßen das musikalische Element im technischen Filmbetrieb" (S. 57).

Unter den Regisseuren habe mit Iwa Raffay in den letzten Jahren "auch eine Frau das männliche Vorrecht der Filmregie durchbrochen" (S. 58). Abschließend charakterisiert er Filmstars wie Asta Nielsen, Henny Porten, Fern Andra, Hella Moja und Mia May sowie Bruno Kastner, Max Landa, Harry Liedtke, Paul Wegener und Albert Bassermann. Die letzten Abschnitte behandeln das Verhältnis des Films zur Presse, die Bedeutung der Reklame, den Filmverleih und abschließend die verschiedenen Arten von Filmtheater.

Eine unsignierte Besprechung in der schweizer Zeitschrift "Zappelnde Leinwand. Eine Wochenschrift fürs Kinopublikum" (Nr. 9, 1921, S. 13 f) charakterisiert den Band als "Volksbuch", amüsant und lehrreich zugleich: "Wenn man es ausgelesen hat – aufmerksam ausgelesen hat: ist man ein halber Fachmann". Hinter jedem Scherz stecke aber "ein ernster, wohldurchdachter Gedanke – steht ein ernster, durchgebildeter Mensch."

Max Prels, am 28. Juli 1878 in Wien geboren, studierte Jura und Philosophie. Er etablierte sich als Erzähler und Journalist, zog nach Berlin, wo er u.a. als Redakteur beim Ullstein-Verlag arbeitete. Er war offenbar stärker in der Filmbranche involviert und publizierte u.a. im Branchenblatt "Der Kinematograph". Prels war einige Jahre mit der Schriftstellerin Vicki Baum verheiratet. Er starb in Berlin-Halensee am 29. April 1926.

(Jeanpaul Goergen, April 2019)

Max Prels: Kino. Bielefeld, Leipzig: Verlag von Velhagen & Klasing [1919], 80 Seiten, mit 70 Abb. und einem farbigen Umschlagbild (= Velhagen & Klasings Volksbücher; 142)
Traub/Lavies: 271
dnb: http://d-nb.info/362070296
Online: https://gutenberg.spiegel.de/buch/kino-10735/1

Max Prels: Kino. Bielefeld, Leipzig: Verlag von Velhagen & Klasing 1926, 2. Auflage, 80 Seiten, mit 73 Abb. im Text, 8 Tafeln in Doppeltondruck und einem farbigen Umschlagbild von Adolf Propp (= Velhagen & Klasings Volksbücher; 142)
Traub/Lavies: 272
dnb: http://d-nb.info/36207030X