Curt Thomalla: Vier Aufsätze zur medizinischen Kinematographie (1919)
Quelle: Photographische Korrespondenz, 66. Jg., Nr. 2, Bd. 787, Februar 1930 |
Abb. 1. Dr. von Rothescher Aufnahmeapparat |
Am 1. Juli 1918 wird bei der Kulturabteilung der Ufa ein medizinisches Filmarchiv eingerichtet. Die Vorgeschichte geht auf November 1917 zurück, als der Leiter des Kaiserin-Friedrich-Hauses für ärztliches Fortbildungswesen in Berlin, Prof. Kurt Adam, dem Bild- und Filmamt (BuFA) vorschlug, auch wissenschaftliche Lehrfilme herzustellen. Adam hatte bereits vor Kriegsbeginn entsprechende Versuche unternommen. Sein Vorschlag konnte aber nicht umgesetzt werden, da das BuFA als eine militärische Dienststelle rechtlich dazu nicht befugt war. Als es Ende 1918 die Filmproduktion einstellte, wurde Adams Anregung von der Ufa aufgenommen. Dort hatte im Februar 1918 auch der in Breslau tätige Arzt Curt Thomalla einen Vorschlag zur Einrichtung eines medizinischen Filmarchivs eingereicht. Auch der in Berlin tätige Chirurg Alexander v. Rothe hatte die Ufa wegen der Schaffung eines chirurgischen Filmarchivs angeschrieben. Aus der Zusammenarbeit des Kaiserin-Friedrich-Hauses und der Ufa entstand schließlich das medizinische Filmarchiv, als dessen Leiter am 1. Januar 1919 Curt Thomalla engagiert wurde.
Der zeitlich frühste Aufsatz von Thomalla über die Notwendigkeit eines medizinischen Filmarchivs ging am 19. September 1918 bei der "Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie" ein, die ihn im Dezember 1919 unter dem Titel "Ein psychiatrisch-neurologisches Filmarchiv" publizierte. Es handelt sich um jene Überlegungen, die er bereits Anfang 1918 "in allgemeinerer Form" (S. 88) der Kulturabteilung der Ufa vorgelegt hatte.
Ausgangspunkt von Thomallas Überlegungen ist die Beobachtung, dass in medizinischen Veröffentlichungen immer häufiger zu lesen sei, dass die besprochenen Fälle auch filmisch dokumentiert wurden. Auch bei Fachvorträgen würden vermehrt Filme vorgeführt. Die Ansicht sei unbestritten, "dass der Film in der medizinischen Lehr- und Forschtätigkeit noch einen überragenden Platz einzunehmen bestimmt ist, da gerade in der Ausbildung des Arztes das 'Sehen' durch kein Erklären, Bücher- und Bilder-Lehren zu ersetzen ist" (ebd.).
Aktuell würden medizinische Filme vor allem zur Dokumentation krankhafter Zustände, verwickelter pathologischer Bewegungsakte (in Psychiatrie und Neurologie) sowie bei Fällen aus dem Bereich Psychopathologie eingesetzt. Dagegen gäbe es noch kaum "medizinisch und hygienisch aufklärende Films allgemeinverständlicher Art" (ebd.).
Thomalla beklagt, dass diese bereits vorliegenden wertvollen Filme nur selten aufgeführt würden und somit keine größere Fachöffentlichkeit erreichten. Daher würde allein "die Gründung eines medizinischen Filmarchivs, das alle bisher schon vorhandenen wissenschaftlichen Films sammelt und für die gesamte Ärzteschaft zur Benutzung bereit hält, schon lohnend und aussichtsreich sein" (S. 87 f). Dort müssten sie anschließend katalogisiert und zum Verkauf oder zum Verleih angeboten werden. Voraussetzung dafür sei aber auch, dass der Film viel stärker in der ärztlichen Ausbildung eingesetzt werde. Thomalla ist optimistisch: "In einigen Jahren wird in keinem Kolleg mehr neben dem jetzt schon eingeführten Projektionsapparat für gewöhnliche Bilder und Präparate der Kinematograph fehlen" (S. 88).
Der Hauptteil seines Aufsatzes detailliert die zahlreichen Vorteile des medizinischen Films insbesondere in der Ärzteausbildung. Bei der Besprechung einer Ellenbogenluxation könnten nicht nur eine zufällig zur Verfügung stehende Art der Verrenkung, sondern per Film und erklärendem Vortrag "alle verwandten Fälle und Komplikationen" vorgestellt werden. Auch in psychiatrisch-neurologischen Vorlesungen könnten mit Hilfe von Filmaufnahmen deutlich mehr Krankheitsbilder als gerade zur Verfügung stehende lebende Demonstrationsfälle erläutert werden. Skeptiker beruhigt Thomalla mit dem Hinweis, dass durch den Einsatz des kinematographischen Bildes "weder das belehrende Wort noch die lebendige Krankendemonstration ersetzt oder verdrängt werden kann; nur Ergänzung, Ausfüllen von Lücken, Unabhängigkeit vom Material soll der Film bringen" (S. 89f).
Thomalla kann sich zudem Sammelfilme "möglichst vieler Kranken mit den verschiedenen körperlichen Symptomen" (S. 90) ebenso wie Langzeitbeobachtungen einzelner Patienten vorstellen. Insbesondere in der Neurologie könne der Film wertvolle Dienste leisten, in dem er den Studierenden Zustände wie etwa epileptische Anfälle, die im Hörsaal kaum vorführbar sind, im Bild vorstellt. Auch in der Aus- und Weiterbildung des fertigen Arztes könne der Film wertvolle Dienste leisten. Zudem könne er über die Anwendung neuer Apparate und Instrumente aufklären. Schließlich schwärmt Thomalla davon, "was für eine wunderbare Sammlung kriegschirurgischer Films" sich jetzt noch während des Krieges anlegen ließe, "von der richtigen Verwendung des Verbandpäckchens und anderen feldmäßigen Behelfsmitteln angefangen, über die Tätigkeit im Sanitätsunterstand und das Transportwesen, bis zum Feld- und Kriegslazarett" (S. 93).
In der Ausbildung der Pflegerinnen, Desinfektoren und Schwestern könne der Film wertvollste Dienste leisten. Auch ein Einsatz für Examenszwecke zieht er in Erwägung. Schließlich formuliert er Anforderungen an den medizinischen Film in der Volksaufklärung – ein Gebiet, auf dem Thomalla später vor allem tätig sein wird. "Nach dem Kriege werden wir in weit erhöhtem Maße an der Erhaltung unserer Volkskraft, der Verminderung der Sterblichkeit, der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu kämpfen haben. Von Erfolg kann solche Arbeit nur gekrönt sein, wenn sie verstanden und bis in die tiefsten Schichten des Volkes gewürdigt wird. Was wäre wirksamer, den Laien in die grundlegendsten Begriffe der Hygiene, der Säuglingsfürsorge, der Kindererziehung einzuführen, ihm die immer noch verkannten Gefahren fürchten und meiden zu lehren, als der 'Kientopp', zumal er hier, ohne zu ahnen, dass er belehrt wird, sich gut unterhält" (S. 94). Damit umreißt Curt Thomalla bereits das Programm der zahlreichen populärwissenschaftlichen Aufklärungsfilme der Kulturabteilung der Ufa.
In einem auf den 13. Dezember 1918 datierten Nachtrag zu seinem Aufsatz berichtet Thomalla von der erfolgreichen Gründung eines wissenschaftlichen Filmarchivs bei der Kulturabteilung der Ufa. Man habe bereits brauchbare Filme angekauft und auch eigene Filme fertiggestellt.
Quelle: Medizinisches Filmarchiv bei der Kulturabteilung der Universum-Film AG (Hg.): Die Geburtshilfe im Lehrfilm, Berlin 1920. |
Abb. 2. "Geburt in Steißlage". Zeichnungen von Emil Kneiß aus dem Lehrfilm der Minerva-Film |
Einige Wochen später, am 31. Januar 1919 referierte Thomalla in der medizinischen Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur in Breslau über wissenschaftliche Kinematographie. Der Text seines Filmvortrags erschien Anfang April unter dem Titel "Wissenschaftliche Kinematographie" in der "Berliner Klinischen Wochenschrift". Nun ging es ihm darum, den erreichten Leistungsstand der wissenschaftlichen Kinematografie zu demonstrieren und darauf aufmerksam machen, "dass sie, folgerichtig weitergebaut, ein gewaltiger Faktor des ganzen Lehrbetriebes zu werden geeignet und würdig ist" (S. 322). Ohne exakte Filmtitel anzugeben, erwähnt er erste Versuche in dieser Richtung etwa von Pathé frères auf dem Gebiet der Bakteriologie. Eine besondere Rolle spiele der Aufklärungsfilm, "der im Rahmen eines alltäglichen Spielfilms in leicht fasslicher Form Fragen hygienisch-sozialer Art behandelt" (ebd.). Bisher habe der Film aber als Bildungsmittel versagt. Denn es reiche nicht aus, wissenschaftliche Filme aufzunehmen, sie müssten auch, vergleichbar wissenschaftlichen Büchern, jederzeit "leicht sichtbar zugänglich" (ebd.) sein.
Thomalla schildert die Entstehungsgeschichte des medizinischen Filmarchivs und betont, dass die Kulturabteilung der Ufa "keinerlei Erwerbsinteressen nachjagt, dass sie seit ihrem kurzen Bestehen Hunderttausende Mark für kulturelle Zwecke verausgabt, jedoch noch nicht fünf Pfennige Verdienst eingesteckt hat" (ebd.). Die Ufa habe jetzt die meisten der vorliegenden, aber allerorten verstreuten medizinischen Lehrfilme gesammelt und auch schon zahlreiche eigene Aufnahmen gemacht.
Anschließend zeigte er neun wissenschaftliche Filme und stellte ihre jeweiligen Vorzüge in der ärztlichen Ausbildung und Forschung heraus. Die in seinem Text genannten Titel sind hier nach Angaben zeitgenössischer Kataloge des medizinischen Filmarchivs angesetzt: "Tripanosoma Brucei", "Tripanosoma Levisi", "Steißlagengeburt mit Zange", "Herztätigkeit und Blutumlauf", "Muscarin-Atropin Frosch", "Endstadium einer Athetose", "Säuglingspflege", "Schematische Eröffnung der Gebärmutter" sowie "Blinddarmoperation". Letzter wurde mit einer von dem Chirurgen Alexander von Rothe konzipierten und von der Ufa gebauten Aufnahmevorrichtung gefilmt, die aseptisch über dem Operationstisch angebracht war und mit Fußkontakten bedient werden konnte. [Abb. 1] Es handelt sich vor allem um dokumentarische Filme; nur "Steißlagengeburt mit Zange" ist ein Animationsfilm, der an der Frauenklinik von Prof. Dr. Albert Döderlein in München entstand und den Geburtsvorgang an Hand von schematischen Zeichnungen des Münchner Malers Emil Kneiß vorstellt [Abb. 2].
Der wissenschaftliche Film solle aber nicht an Stelle der lebendigen Demonstration treten; er könne "selbstverständlich stets nur eine Ergänzung, eine Erleichterung und Bequemlichkeit bedeuten" (ebd.). Zu den Vorteilen zählt Thomalla u.a. auch die Verringerung der Tierversuche und die Reduzierung der Kosten bei der Anschaffung der Tiere. Mit einem Ausschnitt aus dem populär gehaltenen Film "Säuglingspflege" über die Ausbildung von Pflegerinnen weist Thomalla erneut eindringlich auf die Möglichkeiten einer breit angelegten Aufklärung hin: "Selbst im kleinsten Provinznest kann der Kreisarzt die Hebammen und Wochenpflegerinnen im ortsüblichen 'Kintopp' in einer Vormittagsstunde versammeln, kann Mütterkurse oder Aufklärungskurse für schulentlassene Mädchen dorthin berufen und an Hand des sachverständig ausgearbeiteten Begleitvortrages, der mit dem Film gleichzeitig geliefert wird, Vortrag halten und Belehrung geben, die ihm sonst nicht leicht wären" (S. 324). Zum Schluss seines Vortrags wirbt Thomalla auch für eine "praktische Unterstützung" (S. 325) der Kulturabteilung der Ufa.
Eine weitere Mustervorführung medizinischer Lehrfilme hielt Curt Thomalla am 30. März 1919 im Kaiserin-Friedrich-Haus für das ärztliche Fortbildungswesen in Berlin ab. Die "Wiener klinische Wochenschrift" publizierte den Wortlaut des Vortrags Ende August 1919 unter dem Titel "Verwertungsmöglichkeiten des medizinischen Lehrfilms". Ziel dieser Präsentation war die Gründung einer Zentralstelle für medizinische Kinematographie. Sie erfolgte in Zusammenarbeit mit der Ufa und verfolgte den Zweck, "medizinische Filme für den ärztlichen Unterricht und wissenschaftliche Forschung herzustellen und zu vertreiben" (Berliner klinische Wochenschrift, Nr. 14, 1919, S. 336).
Im Wesentlichen wiederholte Thomalla seine bereits in den vorhergehenden Vorträgen angeführten Argumente, stellte aber auch einige neue Filme vor, deren Titel hier nach Angaben der zeitgenössischen Kataloge des medizinischen Filmarchivs angesetzt sind: "Phagocytose bei Trypanosomen", "Vollständiger Lungenschwund", "Röntgenbild des Magens in Funktion", "Die Wassermann'sche Reaktion" sowie ein nicht zu identifizierender Animationsfilm mit schematischen Zeichnungen von Emil Kneiß über die Tätigkeit der Herzklappen und das Schema des kleinen und großen Blutkreislaufs.
In vielen Fällen, so Thomalla, sei die medizinische Kinematographie den bisher üblichen Demonstrationen im Hörsaal überlegen, die häufig unter den Raumverhältnissen und Problemen bei der Bedienung des Mikroskops litten. Durch Zeitraffer könnten mit dem Auge nicht wahrnehmbare Vorgänge sichtbar gemacht werden. Mikroskopische Aufnahmen ermöglichten die Vorführung von in wenigen Minuten Filmlaufzeit zusammengefassten langwierigen Experimenten. Bei der Röntgenkinematographie seien aber noch Schwierigkeiten zu überwinden.
Im Oktober 1919 gab Thomalla in der neugegründeten Zeitschrift "Die Kinotechnik" eine ausführliche Beschreibung der von dem Chirurgen Alexander von Rothe entwickelten aseptischen Aufnahmevorrichtung. Die bisher vorliegenden Operationsfilme seien aus größerer Distanz aufgenommen worden und konnten daher die feinen Handgriffe bei der Operation nicht zeigen; sie waren somit für den Unterricht unbrauchbar. "Es galt also nun, eine Apparatur zu schaffen, die eine Filmaufnahme aus solcher Nähe gestattete, dass auf dem Bild nur das Wundgebiet, die arbeitende Hände des Chirurgen und seine Instrumente kamen" (S. 15).
Der von Dr. v. Rothe konzipierte Aufnahmeapparat [Abb. 1] ist unmittelbar senkrecht über dem Operationstisch angebracht. Eingestellt wird er von einer Person, die nicht im aseptischen Operationsraum anwesend ist, sondern über dessen Decke sitzt. Da es nicht möglich war, während der Operation die Kamera mit der Handkurbel zu bedienen, wurde sie an einen Motor angeschlossen, den der behandelnde Chirurg mit einen Fußhebel ein- und ausschalten konnte. Diese Vorrichtung wurde von der Kulturabteilung der UFA nach v. Rothes Angaben gebaut und in dessen Privatklinik eingebaut.
Auch für die Beleuchtungsfrage fand die Ufa eine Lösung. Da die mit Kohlenstiften arbeitenden Bogenlampen Unmengen feinsten Kohlenstaubs verbreiteten, wurden sie "über das Oberlichtfenster des Operationsraumes montiert". (ebd.) Vier Scheinwerfer werfen ihr Licht "gegen ebenso viele Spiegel, die durch das Glasdach hindurch alle vier Lichtkegel an dem Aufnahmeapparat vorbei auf das kleine Operationsgebiet konzentrieren" (S. 16). Neben den bereits fertiggestellten Filmen über eine "Blinddarmoperation" und eine "Tumor-Exstirpation" seien zahlreiche neue Aufnahmen angefertigt worden, wobei die Bedienung der Apparatur ständig verbessert würde.
(Jeanpaul Goergen, Juli 2019)
Curt Thomalla: Ein psychiatrisch-neurologisches Filmarchiv, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 45. Jg., Nr. 1, Dezember 1919, S. 87-97
Curt Thomalla: Wissenschaftliche Kinematographie, in: Berliner Klinische Wochenschrift, 56. Jg., Nr. 14, 7.4.1919, S. 321-325
Curt Thomalla: Verwertungsmöglichkeiten des medizinischen Lehrfilms, in: Wiener klinische Wochenschrift, 32. Jg., Nr. 35, 28.8.1919, S. 883-886
Curt Thomalla: Die aseptische Kinematographie des blutigen Eingriffs, in: Die Kinotechnik, 1. Jg., Nr. 2, Oktober 1919, S. 14-16