Hermann Nickol: Kino und Jugendpflege (1919)
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Buchcover |
Der Königliche Regierungs- und Schulrat Hermann Nickol beschäftigt sich in seiner Schrift "Kino und Jugendpflege" von 1919 mit dem Verhältnis Kino und Jugend – ein Thema, das in der Kinoreformbewegung der 1910er Jahre eine wichtige Rolle spielt. Seine 31-seitige Abhandlung versteht er als Einführung in die Thematik; zahlreiche Quellenangaben und ein Literaturverzeichnis sollen zur weiteren Beschäftigung mit dem Einsatz des Kinos in der Pflege der Jugend anregen. Die Veröffentlichung ist eine von drei Monografien zur Kinoreform, die 1919 erscheinen.
Nickol publiziert bis Anfang der 1930er Jahre regelmäßig zu pädagogischen Fragen. Mehrere Jahre lang ist er auch "Mitglied der Kinozensur" (S. 17), womit eine in Düsseldorf während des Krieges für das Gebiet des VII. und VIII. Armeekorps eingerichtete Filmprüfstelle gemeint sein dürfte. Bei seinem Buch handelt es sich um eine geringfügig erweiterte Fassung seines gleichnamigen Aufsatzes in der Zeitschrift "Die Volksschule" (14. Jg., Nr. 5, 1.6.1918, S. 129-135 und Nr. 6, 15.6.1918, S. 161-171), der auf einen in der Niederrheinischen Frauenakademie in Düsseldorf gehaltenen Vortrag zurückgeht. Tatsächlich atmet der Text noch die im Kriege vorherrschende stramm vaterländische Rhetorik.
Sein Buch reiht sich ein in die große Zahl von Veröffentlichungen der ab 1907 aktiven Kinoreformer, einer publizistisch äußerst aktiven Bewegung aus Lehrern, Erziehern und Geistlichen, die gegen die sog. Schundfilme zu Felde zogen, von denen sie einen negativen sittlichen Einfluss auf die Kinobesucher befürchtete. Vom Filmprogramm ließen sie nur die Naturfilme gelten, also populärwissenschaftliche Dokumentarfilme, die ihnen, da mit den wilhelminischen Bildungsidealen vereinbar, zur Belehrung und Unterhaltung der Jugendlichen als geeignet erschienen.
Nickol indes sieht im Kino eine "großartige und so entwicklungsfähige Erfindung" (S. 19) und argumentiert gegen eine einseitige Ablehnung des Mediums. Die Kritiker des Kinos hätten gar durch "Unkenntnis und Verständnislosigkeit, Einseitigkeit und Engherzigkeit" (S. 3) zu dessen negativer Entwicklung beigetragen. Er erkennt an, dass breite Schichten einschließlich der Jugend im Kino "ihre Unterhaltungs- und Erholungsstätte" (S. 5) gefunden haben und nicht mehr darauf verzichten wollen. Würde man gegen das Kino ankämpfen, verliere man die Jugendlichen, die man doch erreichen wolle und gelte als Rückständiger, der "Neuzeitliches nicht versteht und übersieht." (S. 5) Gleichwohl soll die Jugendpflege das Kino nicht übernehmen, sondern vielmehr die Jugend vor den Schäden des Kintopps – dieser Ausdruck wird hier als Synonym für Kino in seiner schlimmsten Form verstanden – bewahren. Das Kino solle als Hilfsmittel genutzt werden, um die Jugend "in vaterländischer und sittlich-religiöser Hinsicht erzieherisch zu beeinflussen" (S. 5). Diese Arbeit mache jedoch nur einen kleinen Teil der Jugendpflege aus; sie erlaube es aber, auch jene Jugendliche zu erreichen, die sich sonst deren "heilsamen Einwirkungen" (S. 31) entziehen.
Leider sei das Kino sowohl international als auch als "Geschäftssache" ausgerichtet. Daher würden kaum wissenschaftliche Filme gezeigt und die wenigen patriotischen Filme seien "durchweg elende Mache" (S. 6). Sogar während des Krieges seien weiterhin französische, amerikanische, italienische und englische Filme sowie Streifen aus den neutralen Ländern zu sehen gewesen. Vor allem die französische Firma Pathé habe systematisch antideutsche Hetze betrieben, um das Land "in den Augen der Welt auf eine möglichst niedrige Kulturstufe herabzudrücken" (S. 6). Nickol bedauert, dass Deutschland während des Krieges nicht imstande gewesen war, eine ähnlich wirkungsvolle Filmpropaganda aufzuziehen wie seine Kriegsgegner. "Wir waren international im Kinowesen und auf das Vaterländische nicht eingestellt. Groß und Klein sah widerspruchslos täglich die Bilder fremder Menschen, fremder Länder und fremden Denkens und Handelns. Wir gerieten in fremde, besonders französische Abhängigkeit" (S. 7). So sei die Jugend durch den Kinobesuch internationalisiert und vaterländischen Gefühlen entzogen worden.
Das Kino nimmt Nickol als "geschlossenen Ring des internationalen Kinokapitals" (S. 16) wahr. Die gewaltige Ausbreitung der Kinematografie sei mit ihrer "völligen Unterwerfung unter die Macht des Geldes" (S. 8) einhergegangen. In der Filmindustrie sieht er nur ein reines Geschäft im internationalen Maßstab "ohne jedes höhere sittliche Ziel". Filme würden allein nach ihrem geschäftlichen Erfolg bemessen, nicht nach ihren inneren Werten. Ob er damit nur die Weltkriegs-Alliierten meint, oder ob nicht auch das antisemitische Vorurteil vom "internationalen jüdischen Kapital" mitschwingt, dem es stets nur ums Geld, nicht aber um ideelle Werte gehe, sei dahingestellt.
Die Jugendpflege müsse den wirtschaftlichen Gegebenheiten der Filmbranche Rechnung tragen und eine Nachfrage nach für die Jugend einwandfreien Filmen schaffen, etwa "wenn die zusammengeschlossenen Jugendpflegeorganisationen durch ständige und selbständige Kinovorführungen regelmäßige Abnehmerin solcher Lichtbildstreifen würden" (S. 8). Den Jugendlichen selbst sei zu zeigen, "wie verächtlich die sind, die um des schnöden Geldes willen, nur um hohe Dividenden zu gewinnen, die Volksgesundheit, die Volkssittlichkeit hinopfern [...]. Es muß ihnen klar werden, daß auch sie selbst durch ihren Besuch schlechter Kinovorführungen solchen gewissenlosen Unternehmern mithelfen, ihr Blutgeld zu gewinnen." (S. 21)
Nickol fragt dann nach der Anziehungskraft des Kinos insbesondere auf die Jugendlichen. Neben dem "Bildhunger" (S. 9) führt er die leichte Konsumierbarkeit des bewegten Bildes an, die ohne beschwerliche Gedankenarbeit auskomme. Kino bedeute Genießen ohne Grenzen. Ohne Aufsicht eines Lehrers oder eines Vorgesetzten fühlten sich die Jugendlichen "selbständig, erwachsen, unbevormundet" (S. 10). Das Kino sei zudem ein Ort ohne lästige Konventionen: "Man ist immer fertig für den Kino, und der Kino ist immer fertig für den Besucher, der kommen und gehen kann, wann er will." (S. 10)
Anschließend skizziert er positive Einsatzmöglichkeiten der Kinematographie, etwa als Anschauungsmittel in der Schule oder zur Unterstützung bei der Berufswahl. Die belehrenden Filme im Beiprogramm der Kinos vor 1914 seien vor allem aus dem Ausland gekommen; nach deren Verbot kurz nach Kriegsausbruch hätten die Kinobesitzer die so entstandene Lücke leider mit einem zweiten Hauptfilm gefüllt.
Im Folgenden referiert Nickol zustimmend die wichtigsten Argumente der Kinoreformer gegen die negativen Einflüsse des sogenannten Schundfilms auf die Schuljugend und die schulentlassene Jugend. Der häufige Kinobesuch gefährde sowohl die "Entwicklung des sittlichen Urteils" (S. 13) als auch die Gesundheit. Damit ist nicht nur die schlechte Luft in den Kinos gemeint, sondern auch der von den Filmen ausgehende starke Nervenreiz. Besonders schwächliche, reizbare Kinder und Halberwachsene könnten "tiefe Erschütterungen ihres Nervensystems" (S. 13) erleiden.
In einem längeren Kapitel beschreibt Nickol anschließend den Kampf gegen den Schundfilm und referiert ausführlich entsprechende Beschlüsse von Kirche und Schule sowie die gesetzlichen Regelungen zum Jugendschutz. Für die Filmzensur fordert er eine gesetzliche Grundlage, die Filme nicht nur nach polizeilichen, sondern auch nach erzieherischen Grundsätzen beurteile. Auch verlangt er ein allgemeines Kinoverbot für Jugendliche, die nur Jugendvorstellungen besuchen dürften.
Dann geht Nickol auf die bisher vorgeschlagenen Mittel ein, um der Kinonot Herr zu werden. Polizeiliche Maßnahmen allein reichten nicht aus. Nickol will vielmehr unmittelbar erzieherisch auf die Jugend einwirken, d.h. sie von dem häufigen und regelmäßigen Kinobesuch abhalten "und sie vor dem schädlichen Einfluß der ihr unheilvollen Schundfilme schützen" (S. 19). De facto verlangt er ein Besuchsverbot für "fast alle Dramen, Detektiv- und Literaturfilme" (S. 20). Am ehesten könnte man noch die episch-historischen Filme für die Jugendlichen freigeben, etwa die Paul-Wegener-Filme "Der Golem" (1914/15) und "Rübezahls Hochzeit" (1917), ferner die italienischen Großproduktionen "Quo vadis" (1913), "Die Herrin des Nils" (1913), "Die letzten Tage von Pompeji" (1913) und "Julius Cäsar" (1914).
Positiv für die Jugendarbeit bewertet Nickol die Naturfilme, also Dokumentarfilme, "die in ihrem weitaus größten Teil ganz einwandfrei, z.T. sehr sehenswert und lehrreich sind, besonders die naturgeschichtlichen und erdkundlichen Lichtbildstreifen" (S. 20). Nickol will nicht mit Verboten arbeiten – womit er sich aber selbst widerspricht –, sondern "belehrend und mahnend" (S. 20) auf die Jugendlichen einwirken und ihnen Alternativen anbieten: Spiele und Wanderungen am Nachmittag und Veranstaltungen wie gemeinsames Lesen guter Bücher oder das Aufführen kleiner Bühnenspiele am Abend. Noch sei nicht die ganze Jugend "kinodurchseucht" (S. 20); es gelte, aus den Einzelpersönlichkeiten, die dem Zauber des Kinos noch nicht verfallen sind, einen guten Stamm heranzubilden, der die übrigen Jugendlichen positiv beeinflusse könne. Hierzu gehöre die Ausbildung von Urteilskraft, Geschmacksbildung und Stärkung der Beobachtungsgabe, etwa der Hinweis "auf die Schönheit der Gottesnatur in unserem Vaterlande, die sie wandernd schauen, auf die Größe des Heldentums im großen Kriege, die sie jetzt miterleben, ein ganz anderes Heldentum als das der Detektivs und der Gauner des Kientopps" (S. 20).
Nickol listet sodann Unternehmen auf, die jugendgerechte Filme verleihen, und gibt Ratschläge für Filmveranstaltungen in Jugendheimen oder als Sonderprogramme in öffentlichen Kinos. Abschließend führt er einige Beispiele zur Ausgestaltung von jugendpflegerischen Kinoveranstaltungen an, gibt Hinweise zur Dauer der Programme und empfiehlt, Filmprogramme durch Musik zwischen den Akten aufzulockern. Bei patriotischen Filmen könnten vaterländische Lieder intoniert werden; zu "Der Rhein von der Quelle bis zur Mündung" empfiehlt er Lieder und Gedichte von Straßburg und der Lorelei. Auch Lichtbilder könnten gewinnbringend eingebaut werden. Besonders wichtig seien jedoch Vorträge und Erläuterungen, die "kurz, treffend, überall verständlich" (S. 25) sein sollten.
Die von Nickol exemplarisch angeführten Veranstaltungen zu einer Sedanfeier und zum Kaisergeburtstag vereinen Filme und Lichtbilder mit Festansprachen, Rezitationen und Gesang zu einem alle Sinne einnehmenden Ganzen. Ein Programmvorschlag für Vaterländische Frauenvereine und Müttervereine kombiniert das Gedicht "Meiner Mutter" von Detlev von Liliencron, einen Vortrag über Mutterschutz, den Film "Mutter" (1917) von Hanna Henning, das Lied "Schlaf, holder Knabe" von Carl Löwe, ein weiterer Vorschlag einen weiteren Vortrag über Säuglingsfürsorge, den Film "In Todesangst um ihr Kind" (1912) von Arthur Schloßmann sowie ein abschließendes Musikstück.
Zum Schluss führt Nickol neuere Aktivitäten der Kinoreformbewegung wie die Gründung "Deutsche Heimat. Gesellschaft für künstlerische Lichtspiele", die Filme über das deutsche Wesen und deutsche Eigenart plane, den "Deutschen Ausschuß für Lichtspielreform", den "Deutschen Lichtspielverein" sowie den "Bilderbühnenbund deutscher Städte" an – alles Unternehmungen, die dazu beitragen könnten, die Arbeit der Kinoreform für die Jugendpflege auf breitere Schultern zu heben.
(Jeanpaul Goergen, Dezember 2018)
Hermann Nickol: Kino und Jugendpflege. Langensalza: Verlag Julius Beltz 1919, 31 Seiten (= Aktuelle Fragen aus der Pädagogik der Gegenwart; 18)
Traub/Lavies: 145, 1613
dnb: http://d-nb.info/361950136