Das Gelübde der Keuschheit. Eine Streit- und Kampfschrift (1919)
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Deckblatt |
Bei Aufführungen des Spielfilms "Das Gelübde der Keuschheit" (1919) von Nils Chrisander kam es in Düsseldorf, aber auch in Köln und Essen zu Störungen durch katholische Kreise. Daraufhin veröffentlichte die Rheinische Lichtbild-Aktiengesellschaft im Bioskop-Konzern eine "Streit- und Kampfschrift", um "einmal deutlich zu zeigen, wie gewisse Kreise in ihrem Übereifer aus einer harmlosen Tatsache eine Sensation machen, wie gewisse Kreise versuchen, jede Meinung, die mit der ihrigen nicht parallel läuft, systematisch zu unterdrücken." Im unsignierten Vorwort heißt es weiter, die Angriffe auf diesen Film seien "typisch für den Anfang einer neuen reaktionären Entwicklung". Deshalb wolle man "jenen Zeloten und Muckern, die befürchten, dass man das Volk aufklären könne und dass die Behandlung gewisser Probleme den Glauben gefährde" den Kampf ansagen.
Das Vorwort stellt die Angriffe auf "Das Gelübde der Keuschheit" in den Kontext der Auseinandersetzung um dem sog. Aufklärungsfilm, die gegenwärtig ihren Höhepunkt erreicht habe. Leider werfe man auch "künstlerische vollwertige Erzeugnisse" mit Filmen, "die aus rein finanziell-spekulativem Interesse" gedreht würden, in einen Topf.
Die Handlung von "Das Gelübde der Keuschheit" dreht sich um die Gewissensnot eines Mönches zwischen Sinneslust und Keuschheitsgelübde. Johannes, gerade aus dem Klosterseminar entlassen, trifft sich häufiger mit einem jungen Mädchen namens Maria. Als er erfährt, dass sie die Tochter einer Prostituierten ist, will er sie auf den rechten Weg führen, allerdings ohne Erfolg. Er selbst ist Mönch geworden, nachdem er erfahren hatte, das er ein uneheliches Kind ist. Einige Zeit später begegnet er zufällig Maria wieder, und die alte Leidenschaft bricht erneut auf. Beide ziehen sich in ein Landhäuschen zurück. Der Mönch entdeckt zwar, dass Maria sich weiterhin prostituiert, findet aber nicht die Kraft, sich von ihr lösen. Die Klosterbrüder entdecken das Versteck der Liebenden. Pater Raimund versucht vergeblich, sie auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Als Maria am folgenden Tag zur Beichte geht, trifft sie erneut auf Pater Raimund. Er macht ihr heftige Vorwürfe, erreicht damit aber das Gegenteil: Maria versucht ihn zu verführen. Als Johannes beide überrascht, bricht er zusammen und stirbt. – Der Film scheint nicht erhalten zu sein.
In seinem Beitrag "Zur Idee und zur Tendenz des Films 'Das Gelübde der Keuschheit'" berichtet Peter Heuser, Generaldirektor der Deutschen Bioskop, wie es zu den Angriffen auf den Film gekommen ist. Die ersten Vorführungen seien von Presse und Publikum mit Interesse aufgenommen worden; die Uraufführung im katholischen München habe auch bei der dort noch bestehenden Zensur keinen Anstoß erregt. Auch in Düsseldorf sei der Film fünf Tage lang ohne Beanstandungen gelaufen. Nachdem jedoch in einer sozialistischen Zeitung der Hinweis erschienen sei, dass es sich um einen Tendenzfilm gegen das Zölibat der katholischen Priester handele, "erscheint in Düsseldorf in unserem Theater der Pfarrer Moser mit dem Küster der Maximilianskirche und einem Haufen junger Leute, meistens Mitglieder der Gesellenvereine, und unterbricht die Vorstellung mit Gewalt, ruht nicht, bis die Leinwand in Stücke gerissen ist" (S. 2). Die herbeigerufene Polizei habe aber nicht gegen die Urheber des Protestes eingegriffen, sondern das Kino geschlossen. Heuser merkt an, dass die ganze Hetze auch einen antisemitischen Charakter gehabt habe, "was schon deshalb unsinnig ist, weil ich als Hauptaktionär und Leiter der Fabrik – bis jetzt immer ein sehr guter Katholik gewesen bin" (S. 3).
Im folgenden werden Rezensionen aus der Filmfachpresse sowie aus Tageszeitungen abgedruckt. Dokumentiert ist auch die Rede des Drehbuchautors Reinhard Bruck bei einer Vorführung des Films am 15. August 1919, in der er grundsätzlich auf das Verhältnis Film und Theater eingeht. Er betont, "dass dem Film hauptsächlich dann Stoffe von nicht nur äußeren Werten gewonnen werden, wenn die optische Wirkung bereits immanent geistige Ausstrahlung enthält [...]. Hier ruht meiner Meinung nach die absolute Selbständigkeit des Kinos gegenüber der Bühne. [...] Zur Frage steht also allein, ob es dem Film im Gegensatz zur Bühne verwehrt sein soll, Motive des Seelenlebens zu behandeln, wenn sie den Kampf des Menschlichen gegen das Göttliche schildern" (S. 13 f). Bruck gibt allerdings zu bedenken, dass das Medium Film das Gedankliche "leicht verflacht und in die Nähe des Kolportagehaften" rückt – und bittet dann die Zuschauer zu beurteilen, ob es dem Film gelungen sei, "jeder Versuchung zur Ausschmückung erotischer und anderer, auf niedrige Instinkte berechneter Details zu widerstehen" (S. 14).
In einem ausführlichen Gutachten bescheinigt Hans Brennert (in der Broschüre als "Brenner" falsch geschrieben) als Vorsitzender des Verbandes Deutscher Filmautoren, dass der Film sich nicht gegen Einrichtungen der katholischen Kirche wende, sondern dass die Konflikthandlung mit dieser Einrichtung nur der künstlerischen Darstellung eines Einzelschicksals diene.
Weitere kurze Filmkritiken beschließen den Band. Interessant ist eine Bemerkung der "Berliner Zeitung am Mittag", die nachvollziehen kann, dass der Film besonders streng gläubige Kreise unangenehm berühren könne und deshalb anregt, "ähnlich einigen ausländischen Kopien deutscher Filme" (S. 21) für die rein katholischen Gegenden ein weniger krasses Ende zu finden.
Anläßlich einer Sondervorführung in den Berliner Kammerlichtspielen im August 1919 wandte sich der Generaldirektor der Deutschen Bioskop, Peter Heuser, erneut gegen Versuche, "dieses im Grundgehalt unanfechtbare Filmwerk zu unterdrücken. Dass man die Vorführung teilweise zum Anlass antisemitischer Kundgebungen gemacht hat, ist umso unberechtigter, als sich unter Darstellern, Verfasser und Spielleiter kein Jude befindet." (F.-m., in: LichtBildBühne, Nr. 33, 16.8.1919, S. 22)
Die Streit- und Kampfschrift zu "Das Gelübde der Keuschheit" ist ein spannendes Zeugnis zum Kino der frühen Weimarer Republik als einem umkämpften Ort. Die Debatte um die nach Kriegsende florierenden "Aufklärungsfilme" und die Diskussion um die Wiedereinführung der im Zuge der Novemberrevolution 1918 aufgehobenen Filmzensur spielen hier ebenso eine Rolle wie die weiterhin wirksamen Angriffe der Kinoreformer und konfessionell gebundener konservativer Kreise gegen das ihnen höchst suspekte Medium.
In dem einzig bekannten Exemplar in der Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz sind noch 16 Seiten Pressestimmen aus der Filmpublizistik sowie aus Hamburger und Münchener Tageszeitungen angebunden. In einer Art Vorwort zu dieser Sammlung steuert Hans Weißbach unter der Überschrift "Der Edelfilm" Überlegungen über "die so notwendige Veredelung von Film und Kino" (S. 3) bei. Auch wenn es sich bei diesem Text um eine womöglich bestellte Laudatio handelt – er lobt "Das Gelübde der Keuschheit" in den höchsten Tönen – , so sind doch seine Ausführungen über bisherige Mängel der Filmproduktion beachtenswert. So beklagt er, dass der Film in den letzten Jahren nicht an Tiefe gewonnen habe. Dennoch ist er von einer Entwicklung hin zur Film-Kunst überzeugt. Zu einer Zeit, als es noch keine Filmarchive gab, macht er auf einen entscheidenden Unterschied zu anderen Künsten aufmerksam: Die meisten Filme würden nach wenigen Tagen Laufzeit auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Seine Hauptkritik an der Ausgestaltung der meisten Filme ist aber, dass sie sich über die Grundgesetze der dramatischen Kunst hinwegsetzten. Auch das Starunwesen und die Unsitte des Blockbuchens – die Verpflichtung der Kinobesitzer, komplette Film-Serien auch mit weniger wertvollen Titeln zu mieten – würden sich negativ auf die Qualität der Filme auswirken.
Um 1920 brachte der Filmschriftsteller Julius Urgiss ein nach dem Film entstandener Roman mit dem gleichen Titel "Das Gelübde der Keuschheit" heraus, diesmal ohne Skandal zu erregen.
(Jeanpaul Goergen, April 2019)
Rheinische Lichtbild-Aktiengesellschaft, Bioscop-Konzern, Presseabteilung (Hg.): Das Gelübde der Keuschheit. Eine Streit- und Kampfschrift. Berlin: Berliner Buchdruck-Gesellschaft 1919, 22 Seiten
Traub/Lavies: 603
Julius Urgiss: Das Gelübde der Keuschheit. Nach dem gleichnamigen Film von Reinhard Bruck. Pößneck; Berlin: Schertling [1920], 131 Seiten
dnb: http://d-nb.info/576738832