Bernd Zywietz: "German Mumblecore"

Video, Digitalisierung und Improvisation – aktuelle Freilandfilmer und ihre Welt

Aus: Harald Mühlbeyer / Bernd Zywietz (Hrsg.): "Ansichtssache. Zum aktuellen deutschen Film". Schüren Verlag 2012.
www.schueren-verlag.de

"Handschriften bedeuten auch Experimente [...]. Muss es immer die beste Kamera sein? Kann ich auch kleine, schmutzigere Formen nehmen, um trotzdem einen großen, schönen Film zu machen? Also über solche Sachen, denke ich, würde es sich lohnen, nachzudenken."
(Gabriele Brunnenmeyer, Projektbetreuung Talentfilm, Kuratorium Junger Deutscher Film) 

Quelle: missingFILMs, DIF
Peter Trabner, Heiko Pinkowski in "Dicke Mädchen"

1. Vom Wert der Marke und des einfach(en) Machens

Wie könnte man das deutsche Kino wiederbeleben, künstlerisch und im Filmerleben interessanter machen – oder zumindest einen Weg einschlagen zwischen kalkuliertem Kommerz-, teurem Kostüm-, staatstragendem Gedenk- und themengewichtigem Problembesinnungs- sowie idiosynkratischem Kunstkino? Natürlich sind solche Grobkategorien, die Schubladen, die man für den deutschen Film beschriften mag, heute ebenso irreführend und klischiert wie früher. Schemabildung und Stereotypisierung allgemein gehören jedoch zum evolutionären Rüstzeug des Menschen, dienen der Komplexitätsreduktion und Lernfähigkeit angesichts allzu vieler alltäglicher Phänomene, Eindrücke und Erscheinungsformen; schließlich auch: der Verständigung. Dabei gibt es neben, außerhalb und innerhalb des "Systems" Solitäre, auch namhafte oder namhaft namenlose Randgestalten, gibt es Widerständler, Querulanten, Untergrundler; was das institutionelle Filmemachen in Deutschland anbelangt, etwa Genre-, in seinem Fall Krimiverfechter Dominik Graf, aber auch Irrwisch Wenzel Storch, Helge Schneider, die "Kölner Gruppe" um Rainer Knepperges, Bernhard Marsch und Markus Mischkowski. Oder Klaus Lemke mit seinem Diktum in Großbuchstaben: "DER DEUTSCHE FILM GEHÖRT BEFREIT AUS DEN GEFÄNGNISSEN DER FFA", und mit seiner rigorosen Aburteilung der "Staatsknete" als Alexander Kluges Rache dafür, dass damals niemand die Oberhausener sehen wollte, mit seiner Ablehnung des Finanzierungsregimes, das "de facto der Anschluß an das Staatskino der DDR" sei. "So kann man eigentlich nicht sagen, daß der deutsche Film weg vom Fenster ist. Bis dahin ist er gar nicht erst gekommen." Solche Ausnahme-, Unikats-, Individualisten- und Rabauken-Schubladen, ob fremdverordnet oder selbst ausgesucht, sind natürlich auch nur Registerreiter in der Aufmerksamkeits- und Meinungsregistratur der deutschen Filmlandschaft. Oder eben ein Label, das für Blockbuster-Garanten wie für Autorenfilmer nützlich ist, denn die Bedeutung des Sich-Verkaufens (und Sich-Verkaufen-Lassens), einer eigenen Markenprägung und damit einer Marktpositionierung ist immens.

Wie wären die betreffenden Filmemacher wohl wahrgenommen worden und hätten sich im Bewusstsein gehalten, wenn uns die Franzosen nicht als "Nouvelle Vague Allemande" eine (damit quasi reimportierte) "(Neue) Berliner Schule" mit ihren "Generationen" gebrandet hätte. Der Einwand, Christopher Hochhäusler oder Benjamin Heisenberg hätten ja in München studiert und gar nicht an der dffb, entlarvt denn auch so naive oder kleingeistige Toren, die wahrscheinlich ebenso das Weimarer Kino einzig mit der entsprechenden Goethe-Stadt assoziiert sehen wollen – oder die ernsthaft glauben, dank Toyota sei nichts unmöglich und Müllermilch wecke, was in dir steckt.

Quelle: Rif Film, DIF, © Rif Film
Nina Proll, Claudia Basrawi in "Die Quereinsteigerinnen" von Rainer Knepperges und Christian Mrasek

Selbst Klaus Lemke weiß um den Wert der Ware Aufmerksamkeit im Kinogewerbe und um die entsprechende Attraktivität öffentlicher Inszenierung und Erklärungen, siehe sein "Manifest", dem "Hamburger" als quasi Anti-Oberhausener. Die Marken "Bernd Eichinger", "Til Schweiger", "Bully", aber auch "Wim Wenders" besetzen – ebenso wie "Mercedes-Benz", "Afri-Cola" oder "Tempo" – Raum im Gehirn, im Gedächtnis, im Gefühls- und Stimmungshaushalt, ob positiv oder negativ. Der Mensch ist ein Etikettentier. Es ist von Vorteil, wenn man ein "Brand" (also: ein Brandzeichen) vertritt oder darstellt, schlecht aber, wenn man nur in diffuse, allzu vereinheitlichende Grabbelkisten-Rubriken einsortiert wird wie "Handwerker", "Künstler" oder, hierzulande besonders gerne benutzt: "Filmhochschulabsolvent". Selbst "Pornofilmer" hätte man zwecks Schärfung des Ich-Profils (und vielleicht gar des Originalitäten-Marktwerts) lieber auf der Visitenkarte stehen. Man muss sich nicht schämen für diesen kommunikativen Sozial- und Kulturkonstruktivismus, sich ihm gar verweigern, denn das Pendel schlägt in beide Richtungen aus. Das meint, dass ebenso viele (oder wenige) reale Schulen, Bewegungen, Tendenzen, Wellen oder Strömungen ohne schmissiges Label unter- oder gar außerhalb des Radars liegen, dabei es jedoch wert sind, gebündelt, benamt und betrachtet zu werden. Sie eint ein Set an Gemeinsamkeiten und Charakteristika, werden aber nicht oder kaum als zusammengehörig und relevant wahrgenommen. Ein markanter, treffender Oberbegriff kann da Abhilfe schaffen und zu mehr Sichtbarkeit verhelfen.

Das Festival "achtung berlin – new berlin film award" hat 2012 in seiner achten Auflage entsprechend nicht für Verkauf und Marketing, sondern aus Erfahrung der letzten Jahre heraus für sich selbst und jenseits eines schwammigen Nachwuchs- und Ausprobier-Diskurses über (ach zu viele!) junge und jüngere Filmemacher eine solche Begriffs- und Bezeichnungsarbeit für eine Gruppe von Künstlern, ihre Vision und Methoden geleistet. Dabei ist ein kluger, wiewohl nicht ganz befriedigender (weil nicht zuletzt fertig importierter) Begriff herausgekommen. "Berlin Mumblecore – Neues Independent Cinema aus Deutschland" hieß ein Podiumsgespräch im Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz, das sich mit einer schnellen, spontanen und gewitzten Art des Filmemachens befasste. Der Titel bzw. das zentrale Label muten allerdings symptomatisch für die allgemeine Orientierungssuche in Sachen deutsches Kino an.

Quelle: deutschfilm, DIF
Saralisa Volm, Klaus Lemke bei den Dreharbeiten zu "Berlin für Helden"

Ein wenn nicht naiver, so doch pingeliger Zeitgenosse – siehe "Berliner Schule" – mag auf die fahrlässige lokale und regionale Beschränkung hinweisen, die das "Berlin" mit sich führt, und das auf den Veranstaltungsrahmen zurückzuführen ist. Denn was da thematisiert wurde, ist zwar ein vielleicht typisches, nicht aber ausschließlich Berliner Phänomen; mehr aber noch soll und darf es gar kein solches lokales sein, sondern weit über die Grenzen der armen, aber sexy Republikhauptstadt hinaus inspirieren oder wenigstens Mut machen. Die Mischung aus Englisch und Deutsch ("Neues Independent Cinema") wiederum verweist auf den eigentümlichen Reflex, sich hierzulande zur Selbstbestimmung und Definition vor allem in kulturellen und künstlerischen Fragen zunächst am – bevorzugt angloamerikanischen – Ausland zu orientieren, um sich im selben Zug von diesem abzugrenzen.

Was genau meint "Berlin" oder, im Folgenden, "German Mumblecore" mit seiner neuen Unabhängigkeit? Unter "Mumblecore" werden einzelne US-Regisseure, vorwiegend männliche Jungfilmemacher, und ihre Teams bezeichnet, die sich vor allem auf dem South-By-Southwest-Festival in Austin, Texas, als Verwandte im Geiste Anfang / Mitte der 2000er Jahre erkannt haben, sich und die Darsteller untereinander austauschen (z.B. die "Queen of Mumblecore" Greta Gerwig), so denn die Regisseure, die oft selbst die Kamera führen, nicht auch vor selbiger und der von Freunden und Kollegen stehen. Was "Mumblecore"-Filme eint, ist vor allem die thematische Selbstbeschäftigung mit ihresgleichen, mit jungen Weißen irgendwo zwischen Slacker- Existenz, (abgebrochener) Collegeausbildung, Arbeitslosigkeit und kreativberuflicher Semiprofessionalität. Beziehungswirren und private Zukunftsfragen stehen oft im Mittelpunkt, die Selbstfindung, Orientierungssuche, vor allem aber, insgesamt gesehen, die authentische Atmosphäre einer aparten Lebenstristesse. Diese werden von einer bestimmten Stilart und einer konkreten Produktionsweise getragen. Zu den maßgeblichen Vertretern des "Mumblecorps" zählen u.a. der oft als Initiator gehandelte Andrew Bujalski (Jahrgang 1977) mit Filmen wie dem Frühwerk "Funny Ha Ha" (2002, noch auf 16-mm-Film gedreht), "Mutual Appreciation" (2005) oder "Beeswax" (2009), Aaron Katz (Jahrgang 1981; u.a. "Dance Party, USA" aus dem Jahr 2006, "Quiet City" von 2007), die Brüder Jay und Mark Duplass (geb. 1973 bzw. 1976 – u.a. "The Puffy Chair", 2005, "Baghead", 2008) oder der medial umtriebige und produktive Joe Swanberg (Jahrgang 1981) mit "Kissing on the Mouth" (2005), "Hanna Takes the Stairs" (2005) oder "LOL" (2006). Der Begriff "Mumblecore" selbst spielt auf die anfänglichen Mängel der Dialogaufnahmen an; manches wirkt ad hoc ausprobiert, die Szenen im Ablauf und den Dialogen oft ungeplant, hingemurmelt. Die charmant-entspannten Filme als Mischung von Gegenwartsethnografie, Autodokumentation, nicht unironischem Befindlichkeitskunstwerk und Heimvideo entstehen mit Minimalbudgets und wurden entsprechend erst ermöglicht durch die Segnungen der Videotechnik und Digitalisierung. Vertrieb und Rezeption setzen neben den klassischen Wegen auf Video-on- Demand-Vertrieb oder Social-Media-Fanbase.

Quelle: Delphi, DIF
Thorsten Merten, Steffi Kühnert in "Halbe Treppe" von Andreas Dresen

Ihre deutschen Pendants, zumindest und nicht zuletzt die im Folgenden vorgestellten, unterscheiden sich inhaltlich besonders durch etwas schrägere Geschichten, die über die Befindlichkeitsthemen deutlich hinausgehen und "erfundener", gleichwohl gefunden, wirken. Das mag daran liegen, dass sie mit dem hiesigen staatlich geförderten Besinnungskino, das in Amerika in dieser Form und in diesem Ausmaß fehlt, bereits Folien haben, auf die sie sich beziehen können und gegen die sie immer auch lustvoll angehen. Mit ihren Vettern jenseits des Atlantiks haben sie allerdings gemeinsam, dass beide Gruppen Vertreter einer neuen Generation D.I.Y. (Do It Yourself) sind – junge Filmemacher, die u.a. mit den Potenzialen und der Impulskraft des Web 2.0 und seiner Kultur nicht (länger) auf den Einstieg in die reguläre Filmbranche und seine Institutionen warten wollen und müssen. Bezeichnend ist denn auch, dass die hier vorgestellten "Autoren" oder "Spielleiter" (denen damit natürlich kein Alleinvertretungsanspruch für ihresgleichen zugesprochen sein soll) mit dem "Mumblecore"-Begriff wenig anzufangen wissen. Das liegt daran, dass die so gefassten US-Lo-Fi-Filme und ihre Macher, verglichen mit anderen Independent-Protagonisten (etwa Richard Linklater), verhältnismäßig wenig Breitenaufmerksamkeit außerhalb der Staaten – zumindest außerhalb von hiesigen Filmfestivals – erlangten. Dies lässt die internationale Ähnlichkeit als das erkennbar werden, was sie ist: eine zeitsymptomatische Parallelität, globales Phänomen einer historischen medien- und kulturtechnologischen Umwälzung. "Mumblecore made in Germany" brauchte folglich einen Swanberg oder Bujalski weder als Leitfigur noch als Stichwortgeber, um, mitunter zeitgleich und unabhängig voneinander, auf seine Art des Filmemachens zu kommen, eine Art, die vielleicht nicht in allen Einzelaspekten, aber im Zusammenspiel von Thema, Produktionsweise und -technologie, Ästhetik und künstlerischer Philosophie ein bemerkenswertes prozessuales Gesamtkunstwerk hervorbringt.

Als Vorgänger, Vorbilder oder Ideengeber kennen und nennen die im Folgenden porträtierten Regisseure – Jan Georg Schütte, Tom Lass, Jakob Lass und Axel Ranisch – Größen wie John Cassavetes sowie natürlich die Dogma-95-Gruppe mit, um oder im Fahrwasser von Lars von Trier, Thomas Vinterberg und Søren Kragh-Jacobsen mit ihrem (hier auch wieder) werbewirksamen "Manifest" und dem darin formulierten, wiewohl oft gebrochenen inszenatorischen Regelwerk als erzählerisches und technisches bzw. ästhetisches Keuschheitsgelübde. Fragt man sie nach dem zentralen Element des Stegreiffilmens, der Improvisation und des Reduktionismus, werden als hiesige Orientierungsfiguren Andreas Dresen v.a. mit seinem Erfolg "Halbe Treppe" (2002) genannt oder auch Vanessa Jopp mit "Komm näher" (2006). Denn die Produktionsweise dieser Filme zeichnet auch deutschen Mumblecore aus: nicht nur das kleine Budget, sondern auch das fehlende durchgestaltete Skript für die Darsteller vor Kamera. Die ermöglicht als DSLR-Modell mittlerweile großartige HD-Bilder zu kleinem Preis und damit auch den flexiblen, intuitiven Einsatz, der den spontan agierenden, ihre Rollen im und aus dem Moment heraus entwickelnden Darstellern den nötigen Raum lässt. Der Film entsteht denn auch weit mehr und buchstäblicher als bei konventionellen Projekten "im Schnitt", erreicht (oder behält sich) dadurch eine seltene Frische, Unmittelbarkeit und Dynamik, die, wie bei Axel Ranischs "Dicke Mädchen" (2012) oder Tom Lass' "Papa Gold" (2011), gleichwohl eine erstaunlich genaue und effiziente Dramaturgie hervorbringt. Vier dieser geistesverwandten deutschen Mumblecorer, der Frei- und Guerillafilmer werden mit ihren Karrieren und Filmen zunächst vorgestellt, ehe wichtige Einzelfragen und -aspekte, Chancen, Probleme und Gemeinsamkeiten in den Blick genommen werden. Die Grundlagen bilden ausführliche Gespräche mit den Regisseuren. Bei ihnen möchte ich mich ganz herzlich für ihre Mithilfe, Zeit und Mühe bedanken.

Quelle und © Jan Georg Schütte, Foto: Andreas Weiß
Jan Georg Schütte

2. Jan Georg Schütte

Ein "alter Hase" und dabei vom Theater stammend ist Jan Georg Schütte, Jahrgang 1962. Schütte, der in Hamburg und New York zum Schauspieler ausgebildet wurde, stand unter anderem in Essen, Düsseldorf, Köln und Hamburg auf der Bühne. Mit seiner schlaksigen Gestalt, dem markanten hageren Gesichts, den tief liegenden – nach Bedarf fixierenden oder trüben – Augen, der hohen Stirn und dem nordischem Dialekt trat er auch im Fernsehen auf, im "Tatort", dem "Großstadtrevier" oder als so windiger wie erratischer Trödelhändler in der Folge "...und raus bist Du" (2011) des Rostocker "Polizeiruf 110".

Von den Festanstellungen und den Nebenrollen hatte Schütte Anfang der 2000er erstmal genug und wollte sein eigenes Ding machen. Zum grandiosen Drehbuch samt Dialogen reichte es zunächst aber nicht. Daher entwarf Schütte eine kleine Skizze zu (noch) namenlosen Figuren. Deren Rollen schlug er nach einiger Zeit Schauspielerfreunden und -kollegen (darunter Stephan Schad, Susanne Wolff und Ole Schlosshauer) sowie Marie Bäumer als "Gaststar" vor, die begeistert zusagten: für das Projekt "Swinger Club". Darin geht es um ein Ehepaar, das zum Hochzeitstag Freunde einlädt. Auf tragische wie humorvolle, vor allem aber auf sehr lebendige Weise treten heimliche Liebesverhältnisse, Beziehungsbrüche und Querelen unter den Mitt- / End-Dreißigern zutage, werden besichtigt, verhandelt. Für ihre Rollen, und nur für diese, bekamen die sieben Darsteller Hintergrundinformationen, um daraus eigene Charaktere zu erarbeiten. Hinweise zur Entwicklung der Handlung wurden etwa im Bad des Bungalows versteckt, der praktisch als Handlungsort und Kulisse diente. Mit zwanzig Stunden Drehzeit, vier geliehenen Digitalkameras und einem gewöhnlichen PC, auf dem rund ein halbes Jahr lang das Material zusammenmontiert wurde, kam ein Spielfilm in Doku-Anmutung für etwa 1.000 Euro nominelle Produktionskosten heraus, der das Gros des Publikum beim Max-Ophüls-Preis 2006 in Saarbrücken dank seines Schwungs und des intuitiven Elans begeisterte. Einen Sonderpreis der Jury des Festivals des deutschen Films in Ludwigshafen gewann "Swinger Club" im selben Jahr.

Für das nächste Projekt griff Schütte auf dasselbe Prinzip zurück, diesmal mit Meret Becker als prominentem Namen, der nicht nur als ein katalysatorisches Element in die eingespielte Gruppenchemie eingeführt wurde, sondern – so gibt Schütte augenzwinkernd zu – auch als Verkaufsargument. "Die Glücklichen", der bis kurz vor der Premiere auf dem Filmfest München 2008 noch "Hans im Glück" hieß, handelt vom Loser Hans (Stephan Schad), der seinen früheren Freunden und deren Partnern in einem Haus am See für eine Wochenende den Erfolgreichen vorspielt. Lebensmodell, -lügen und -träume sowohl in Sachen Karriere wie in puncto Freundschaft und Liebe kommen auf den Tisch – und abermals waren bei diesem Film bloß der Rahmen und einige dramatische Punkte vorgegeben. Zwei Tage dauerten die Dreharbeiten, eine Anschubfinanzierung von 10.000 Euro gab es von der Filmförderung Schleswig-Holstein (mittlerweile fusioniert mit der Filmförderung Hamburg). Das Projekt kostete 5.000 Euro in der Produktion. Mit seinem freien Spiel und seiner Schauspielergemeinschaft, die mittlerweile als "Die Glücklichen" unter der informellen adaptierten Bezeichnung des Films firmiert, hat Schütte auch jenseits des Spielfilms erfolgreich gearbeitet: Vom NDR und Radio Bremen in Auftrag gegeben entstand die dreiteilige Mini-TV-Serie "Koffie to Go", die im Januar 2010 ausstrahlt wurde. Ein kleines Bremer Café wird darin Dreh- und Angelpunkt des Liebesreigens von Gästen und Angestellten.

Quelle und © Jan Georg Schütte
Oliver Sauer, Meret Becker, Stephan Schad in "Die Glücklichen"

Mit älteren Akteuren wiederum – darunter Brigitte Buhre, Nicole Heesters und Christoph Bantzer – nahm Schütte die NDR-Hörspiel-Improvisation "Altersglühen oder Speed Dating für Senioren" auf und gewann damit den Deutschen Hörspielpreis 2011.

Im selben Jahr hat Schütte seinen dritten Langfilm mit den Glücklichen abgedreht: "Leg ihn um!" In mehrfacher Hinsicht ist das Projekt ein Abschied vor der kleinen, flexiblen wie spontanen Low- bis No-Budget- Arbeit, auch thematisch. Zum ersten Mal hat Schütte eine Produktionsfirma, Riva Film, zur Seite und ein Budget, das den Namen verdient und u.a. aus Hamburg sowie von der Nordmedia-Förderung (Niedersachsen u. Bremen) stammt: 150.000 Euro. Das mag zwar der "Portokasse eines Tatorts", so Schütte ironisch, entsprechen. Nichtsdestotrotz bedeutet es zunächst, je nach Rechnung, das 30- bis 150-fache der Kosten von Schüttes ersten beiden Filmen. "Leg ihn um!" handelt von dem sterbenskranken Firmen- und Familienpatriarchen Manzl (gespielt vom großen Hans-Michael Rehberg), der seine neurotische Sippschaft antreten lässt, um ihnen ein Angebot zu machen: Wer ihn ins Jenseits befördert, erbt. Das fördert die Gier und die familiäre Konkurrenz, doch so einfach ist ein Mensch, schon gar nicht der Herr Papa, dann doch nicht ums Leben zu bringen.

"Leg ihn um!" ist, man kann es ahnen, eine Krimi-Tragikomödie, tendiert daher mehr oder zumindest deutlicher als Schüttes vorangegangenen Werke zum Genre. Auch sonst ist der Film eine Mischform. Dank der Finanzierung mussten die Darsteller diesmal ihre Kostüme nicht selbst mitbringen, es gab ein echtes Catering, Maskenbildner, Ausleuchtung; einen Großteil des Geldes fraß die Motivmiete für das Barockschloss Gartow des Grafen von Bernstorff in den Auen des Wendlands. Allerdings: Gage für die Darsteller gab es auch diesmal nicht, die Kameraleute arbeiteten nur für einen Bruchteil ihrer üblichen Gehälter. Eine Woche wurde gedreht (zwei wären besser gewesen, meint Schütte im Rückblick), mit einem neuen Sony F3 Camcorder (Listenpreis ohne Stativ: 13.800 Euro). Auch ein Buch gab es jetzt, denn die wechselnden Locations auf dem Herrschaftsgut machten eine genaue Konzeption der Szenenfolge notwendig. Und schließlich wollte auch die Förderung zumindest halbwegs wissen, was sie sich einkaufte. Die genaue szenische Auflösung blieb jedoch bis zuletzt offen, und auch die Dialoge fehlten, um den Schauspielern Raum zur Entfaltung zu lassen, den Schütte so zu schätzen gelernt hat und den ihn und seine Filme auch für so viele seiner Bühnen- und Filmkollegen – eine eigene "große Familie" nach zwanzig Jahren Theatererfahrung – attraktiv gemacht hat.

Quelle: Aries Images, DIF, © Aries Images, Foto: Andreas Weiss
Hans-Michael Rehberg in "Leg ihn um - Ein Familienfest"

Spontane neben schönen "gebauten" Bildern, um die herum improvisiert wird – "Leg ihn um!" versucht sich in der Kombination von freiem Spiel und festgefügtem Sujet, der festen Struktur einer schwarzhumorigen Geschichte, die in ihren Elementen und Standardsituationen (wie ein Mordversuch im Wald) vorgeplant und -organisiert werden wollen. Eine bedauerliche Abkehr vom reinen Pfad des freien und puristischen Im-Moment-Spiels? Auf Jan G. Schütte kommen jetzt die großen Sender zu; "Leg ihn um!" ist vor allem auch durch das Interesse des Intendanten von Radio Bremen möglich geworden, über den bereits "Koffie to Go" lief. Eine seltene Glücksbekanntschaft, denn bei der Fülle von Stoffen, die auf den Tischen der Redakteurinnen und Redakteure landen – vieles davon von etablierten Branchenprofis oder Filmhochschulabsolventen mit Connections und Newcomer-Reiz – ist es schwer, Aufmerksamkeit für seine Idee zu gewinnen, und praktisch aussichtslos, wenn dabei der Ausgang des "Experiments" noch so ungewiss ist, wie es bei einem Improvisationsprojekt von Schütte und Co. der Falls sein kann.

So weit Schütte denn nun auch schon gekommen ist, es deuteten sich die nächsten Hürden an. "Leg ihn um!" wurde zunächst von den Filmfesten abgelehnt, nur eine "Saarbrücker Premiere" bot der Max Ophüls Preis an. Mittlerweile hatte er in Hof 2012 Debüt und mit Aries einen Verleih gefunden, der den Film Anfang 2013 in die Kinos bringt. Doch der Grund für die Anlaufschwierigkeiten (verglichen mit den ersten beiden Filmen) mag in der "kommerziellen" Mischung aus Krimi und Humor liegen, in der Leichtigkeit, die nun zu sehr nach Genre riecht, welches sich wiederum mit dem Ideal des Künstlerisch-Ungeplanten in den Köpfen oft schlecht verträgt. Ebenso schwer wiegt sicher, dass Schütte nun mit seinem dritten Film den Nachwuchs-Bonus des Debütanten nicht mehr hat – ein Status, der eine Art Kindchenschema in der deutschen Filmkulturlandschaft bedeutet –, was ihn beispielsweise auch formal vom Wettbewerb in Saarbrücken ausschließt.

Quelle: Jakob Lass, © Andreas Müller
Jakob Lass

3. Jakob Lass

Franz (Franz Rogowski) streift durch die Stadt, vertreibt sich seine Zeit auch mal mit Penthouse-Besichtigungen inklusive ausgiebiger Toilettensitzung, was schließlich doch den Makler auf die Palme bringt. Eine Affäre mit der älteren Ursula (Gabi Herz) geht er ein, die dafür ihre leicht inzestuösen Spielereien mit ihrem Sohn Adrian (Simon Finkas) lässt, der wie die beiden anderen Figuren auf der Suche nach sich selbst ist und dabei durch Berlin treibt, sich befreien will, nur: wovon und wozu? "Frontalwatte" (2011) bietet weniger eine kohärente Story als ein in kuriosen, bizarren bis berührenden Momenten und Handlungslinien, zwischen Tollereien im Wald, Kiefern-Operation, Poetry-Slam und Triangelunterricht eingefangenes Kaleidoskop – Zeitbild eines Berlins im rasanten Wandel, einer Stadt, die wie die Protagonisten in Jakob Lass' Film nicht wirklich weiß, wohin sie mit sich will. "Frontalwatte", so versteht es auch der Regisseur, erzählt von einem Gefühl, dem weichen ergebnislosen Verpuffen von Kraft und Energie, die man in etwas steckt.

Jakob Lass, geboren 1981, ist der zwei Jahre ältere Bruder von Tom Lass, mit dem er die Produktionsfirma Lass Bros. ins Leben gerufen hat. Beide haben sich einst, in den 1980ern (so das offizielle Statement der Firma), "in einer Schwabinger Wohnung getroffen", ihre "gemeinsamen Interessen" entdeckt und daraufhin die künftige Zusammenarbeit beschlossen. Von München, wo beide bereits Kurzfilme drehten und Jakob am Schauspiel München lernte, und über Fürth, wo er rund Jahre auf der Bühne stand, verschlug es ihn nach Berlin. Dort studierte er an der freien, selbstorganisierten FilmArche e.V. und seit 2009 an der HFF "Konrad Wolf" in Potsdam Regie.

Sein erster Festivalbeitrag, der Kurzfilm "Bademeister Paul" (2007) über einen so selbsternannten wie des Schwimmens unkundigen Hallenbadaufseher, gewann Preise und wurde vom schwedischen Fernsehen aufgekauft. Als eine freiwillige Kameraübung an der HFF anstand, machte Jakob aus den maximalen fünf Drehtagen fünf Wochen – mit dem 78-minütigen "Frontalwatte" als Ergebnis. Gedreht hatte er mit einer Canon 7D im Sommer 2010 in und um Berlin; die Figuren waren vorgedacht, die Handlung jedoch komplett improvisiert, mit bisweilen wilden Auswüchsen der Authentizität: Rogowskis Kiefern-OP, die im Film zu sehen ist, war eine echte, und trotz erheblichem Blutverlust (infolge von sich anschließenden Komplikationen) stand er für die Poetry-Slam-Szene auf der Bühne des leider nur eben zu diesem Zeitpunkt stattfindenden echten Dichterwettstreits, um dort, natürlich, zu improvisieren.

Quelle: Daredo Media, DIF, © Timon Schäppi, Daredo Media
Lana Cooper in "Love Steaks"

Noch dokumentarischer ist Jakob Lass' aktuelles Projekt ausgefallen, "Fogma#1" [inzwischen: "Love Steaks"; Anm. d. Red.], der in der Vorproduktionsphase den Arbeitstitel "Suite Heart" trug. Dafür fuhren Lass und sein Team an die Ostsee. Im Grandhotel & Spa Kurhaus Ahrenshoop wurde gewohnt und gedreht: die schwierige Liebesgeschichte zwischen einem Masseur und einer Köchin. Was zunächst nach zarter Beziehungsgeschichte à la "Lost in Translation" klingt, kommt mit ähnlicher Skurrilität daher, wie sie schon "Frontalwatte" auszeichnete. Auch Franz Rogowski stand wieder vor der Kamera, zusammen mit Lana Cooper, die unter anderem bereits im Hamburger Schauspielhaus unter der Regie von Rocko Schamoni, Jaques Palminger und Heinz Strunk auf der Bühne stand und in Rolf Peter ("RP") Kahls "Bedways" (2010) zu sehen gewesen ist. Neben den beiden Hauptdarstellern und außer Akteuren in Kleinstauftritten "spielt" nur das echte Personal des Hauses mit – gedreht wurde im laufenden Hotelbetrieb. Zum Einsatz kam die RED Epic; sie wie die übrige Technik finanzierte das Team mit HFF-Ausbildungsmitteln und mit Mamoko Entertainment als Co-Financier. Das Ergebnis sind 78 Stunden Material (entstanden an 28 Tage über sechs Wochen verteilt) – "nicht sonderlich viel", so Jakob Lass, "für einen Dokumentarfilm": "Fogma#1" ist von der Story her zwar rein fiktional, die Arbeitsweise jedoch (semi-)dokumentarisch.

"Fogma", das klingt nicht von ungefähr nach "Dogma 95". Jakob sieht sich von Vintenberg oder von Lars von Trier beeinflusst; Fogma komme eben im Alphabet nach Dogma , sei sozusagen das "Dogma der Zukunft". Auch hier ein Augenzwinkern und zugleich hinreichender Ernst für die Sache. Jakob Lass schätzt durchaus Filme und Filmemacher, die man gemeinhin der "Berliner Schule" zuordnen kann. Nur: Nach jedem dieser Filme, so erklärt er, komme die Unruhe, der Frust, schließlich: der Drang, aus der ästhetischen und gestalterischen Starrheit auszubrechen. Für ihn und sein Team ist "Fogma#1" eine klare und anvisierte Weiterentwicklung gegenüber "Frontalwatte", was die Methoden und Verfahren anbelangte. Es gibt mehr als nur eine Art des Improvisationsspiels – und Anschlussmöglichkeiten an andere Stile, Richtungen und eben auch: Gattungen. Eine Dramaturgie mit achtzehn strukturgebenden Szenen für die fiktionale Handlung war vorhanden, erneut wurde auf vorgefertigte Dialoge verzichtet, doch zugleich gab es das Umfeld, das Lass und sein Team bewusst als solches einbezogen, eines, das sie und ihre Arbeit im Moment prägten: Der Ort und die Arbeitsumgebung gaben den Darstellern und der Geschichte konkrete Umstände und Dynamik vor. Das Label oder Konzept "Fogma" steht dabei nicht nur für ein Programm, eine Vision oder einen idealistischen Leitbegriff, es ist schlicht auch ein Mittel der Selbstreflexion und -bestimmung.

Quelle: Daredo Media, DIF, © Timon Schäppi, Daredo Media
Franz Rogowski in "Love Steaks"

Lass: "Wir wollten und brauchten einen festen Namen für die Art, wie wir es jetzt machen wollten. Darüber, dass es improvisiert ist, hinaus. Viele Gedanken zu Kamera, zum Ganz-im-Moment-Sein. Wie wir Filme machen und machen wollen – das braucht viel mehr Aufmerksamkeit füreinander".

Ein halbes Jahr haben sich die "Fogmas" täglich getroffen, gemeinsam überlegt und diskutiert, wie man Filme nicht nur machen soll, sondern machen muss. Sich dabei auch selbst in Frage gestellt, eigene Horizonte aufgelockert. "Was sind die Konventionen, wie kann man sich davon befreien, was ist uns wichtig ..." Tatsächlich gab es auch Grundprämissen, was aber auch hieß, nicht alles so gut wie möglich abzusichern, sondern Risiko zu fahren, zu testen und wagen. Mit der wichtigste Begriff war der Begriff des "Flows", was auch bedeutet: die ideale Balance zwischen Über- und Unterforderung des Teams. Bei gleichzeitiger maximaler Nutzung einer besonderen reglementierten Freiheit. "Die Arbeitsthese hinter 'Fogma#1' lässt sich also auf die Formel: Improvisation + Skelett + Dokumentation = 'Fogma#1' herunterbrechen" heißt es im noch unveröffentlichten Fogma-Manifest, wobei sich Fogma, solange es der "visuellen und narrativen Qualitätssteigerung dient", auch klassischer Filmtechniken und ‑mittel bedient – inklusive Kunstblut, Pyrotechnik und Stunts. Dabei gilt allerdings stets die Devise "so wenig wie möglich, so viel wie nötig".

Die entscheidende ästhetische Strategie zielt dabei allerdings nicht auf Inhalte und Anwendung konkreter Vorgaben ab, sondern auf die Auseinandersetzungen mit Regeln und Reduktionen überhaupt – weniger Spielregeln als Spiel mit (den) Regeln. "Wir glauben", so Jakob Lass, "dass durch das Abarbeiten an formalen Beschränkungen ganz neue Perspektiven und Erfahrungswelten erreicht werden können".

Ob "Fogma" oder "Mumblecore": Derartige Formen des Filmemachens, ihre Freiheit und Augenblicksverhaftetheit verlangen vom gesamten Team, ob am Set oder am Schnittplatz, oftmals mehr ab als das konforme Kontrollspiel, wie man es ansonsten kennt. Andererseits entfallen weitgehend auch Diskussionen mit Geldgebern, Streits, Überzeugungsarbeit, was – angeblich – ja ebenfalls an die Substanz geht.

Quelle: Filmfestival Max Ophüls Preis 2011
Tom Lass

4. Tom Lass

Hohe Stirn unter dünnem schwarzem Haar, dazu die hohen Wangenknochen und dunkle Augen mit energischen dunklen Augenbrauen und hängenden, stets ein wenig Müdigkeit oder Langweile signalisierenden Lidern – Tom Lass' Gesicht über dem schmalen Körper mit seinen langen Gliedern kann mal als "dreieckig" bezeichnen. Nur der große Mund stört ein wenig die Symmetrie, und dessen Lippen vor den ausgeprägten Schneidezähnen weiß der Schauspieler gekonnt einzubringen und in Szene zu setzen. Sei es, dass er sie beim Apfelessen im Profil um die Frucht stülpt wie in "Papa Gold" (2011) oder seinem Kurzfilm "0+0=1" (2008) (wo dieses Bild auch das Motiv für das Plakat stellt), sei es, dass er selbst daran herumzupft oder sich von der aktuellen Bettgespielin in die ausgeprägte Unterlippe beißen und sie langziehen lässt. Tom Lass, geboren 1983, ist der jüngere Bruder von Jakob Lass und damit zweiter Kopf der Lass Bros. Früh wurde er entdeckt: als 11-Jähriger von einem Ferienlagerbetreuer, der in Potsdam Regie studierte und ihn für seinen Übungskurzfilm vor die Kamera holte. Mit 15 hatte Tom eine Nebenrolle in Marc Rothemunds "Harte Jungs" (2000), und allerhand andere folgten, im Kino (z.B. "Die Nacht der lebenden Loser", 2003; "Krabat", 2007) oder im Fernsehen. Seine Karriere bringt Tom selbst auf den Punkt: Je größer der Film, desto kleiner der Auftritt, und unterschieden werden können die guten Rollen von den gut bezahlten. Formal gelernt hat er nichts ("nur das Abitur habe ich – irgendwo"), aber, als (Wahl-)Berliner, kann er natürlich alles. Neben der Schauspielerei zum Beispiel Schnitt – oder Spielleitung.

Wie sein Bruder ist Tom in die Spreemetropole gezogen, hat dort an der FilmArche Regie studiert und an dieser auch unterrichtet. Noch vor Studienbeginn drehte er im Sommer 2009 seinen ersten eigenen Langfilm, "Papa Gold", der 2011 vom Verband der deutschen Filmkritik (VDFK) bei "achtung berlin" ausgezeichnet wurde. Der Film handelt einmal mehr von einem verschleppten Dasein, ist dabei effektiv ohne Effekthascherei und urkomisch in seiner Lakonie. Es geht um den jungen Denny (Lass selbst), der, unwiderstehlich lethargisch, mit vielen wechselnden Damenbekanntschaften und wenig Verbindlichkeiten in den sommerlichen Kiez-Alltag hinein lebt. Eines Tages taucht Frank (Peter Trabner) auf, der "zweite Mann" von Dennys Mutter. Der Sohn hat seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen, und um das zu ändern, ist der leicht tölpelige Frank in die Großstadt gereist. Er wird von Denny erst unterkühlt begrüßt, dann doch aufgenommen (um nachts, wenn sich Frauenbesuch ankündigt, auf den nächsten Treppenabsatz des Mietshauses ausquartiert zu werden). Nach und nach freunden sich die unterschiedlichen Charaktere jedoch an – und es wird klar, dass jeder von ihnen sich vor etwas drückt: Frank vor der Familie daheim, Denny vor dem Erwachsenwerden und der (Selbst-)Verantwortung.

Quelle und ©: Lass Bros Filmproduktion
Peter Trabner, Tom Lass in "Papa Gold"

Auch "Papa Gold" ist ein Zeit- und vor allem Berlindokument, manche Locations waren schon kurz nach dem Dreh verschwunden. Lass geht offensiv mit dem spontanen Dokumentar-Spiel und seiner Ästhetik um, bietet dabei zwar hervorragende Bilder von beiläufiger Schönheit (wie den Mauerpark in der Abenddämmerung), aber auch ein mit Jump-Cuts und anderen Ellipsenformen gespicktes, mitreißendes Erzählen zwischen den Bildern, das die Maulfaulheit und den Witz der herzhaften Geschichte befördert. Den Anstoß zum Projekt lieferte Schauspieler Peter Trabner. Der wollte von Tom lediglich einen Bewerbungsfilm von sich, Ergebnis war seine erste Spielfilmhauptrolle. Die Aufnahmen dauerten 21 Tage (12 Hauptdrehtage plus umfangreiche Nachdrehs) und fanden vor allem im sommerlichen Prenzlauer Berg statt, wo in der Danziger Straße die damalige lebenssatte Wohnung von Kameramann Anselm Belser zu der Dennys wurde. Belser drehte auf einer Canon 5D, Tom schnitt in einem Zeitraum von vierzehn Monaten auf Final Cut (wobei u.a. gedrehte Mockumentary-Interviews mit den Protagonisten entfielen). Insgesamt kostete die Entstehung von "Papa Gold" 2.500 Euro; deutlich mehr freilich brauchte Lass hernach für eine Kinoauswertung: der teuren Musikrechte der verwendeten Songs wegen. Vielleicht springt ein Sender ein – einen Verleiher jedenfalls hat Tom schon: Jonas Knudsens und Roman Avianus' Joroni Film. Ein Kinostarttermin steht jedoch noch nicht fest.

Joroni produzierte nun auch Toms nächsten Film "Kaptn Oskar" (Arbeitstitel: "Blume"). "Kaptn Oskar", das ist auch ein Film in Berlin und aus Berlin heraus, über junge Leute, Paare, Sex, Liebe. "Die Geschichten", so Tom Lass, "fliegen einem da zu". Gedreht wurde im September und Oktober 2011, erneut auf der 5D. Die Geschichte um eine "gefährliche Liebschaft" mit bewährt Lass' schem Trockenhumor hat neben Lass Amelie Kiefer in der Hauptrolle, die u.a. in Dennis Gansels "Die Welle" (2008) oder Dietrich Brüggemanns "Renn, wenn du kannst" (2010) und "3 Zimmer / Küche / Bad" (2012) auftrat und die als Leukämiekranke im ARD-Fernsehfilm "Die Drachen" (2009) unter anderem für den Deutschen Fernsehpreis nominiert war. Kamera führte Jonas Schmager, "Director of Photographie" von David F. Wnendts "Kriegerin", den Tom auch über einen Übungsfilm Wnendts kennt. An 18 Drehtagen, verteilt auf rund einen Monat, kamen 29 Stunden Material zusammen; wie bei "Papa Gold" wurden die einzelnen Takes nicht wiederholt, was dem Film denselben "jump-cuttigen" Flair verleiht. Zugrunde lag dem 7.000-Euro-Projekt abermals nur eine Din-A-4 Seite Konzept – entsprechend gelitten habe er, so Tom, bei der Montage, um ein stimmiges Ganzes zu kreieren. Immerhin hatte er dabei nun Erfahrung mit dem Ton-Bild-Versatz der 5D, wegen dem er den Ton bei "Papa Gold" mehrfach anlegen musste.

Quelle: missingFILMs, DIF, Foto: Dennis Pauls
Axel Ranisch

4. Axel Ranisch

Wo andere sich für ihre Projekte mit verkniffenen 18-Stunden-Drehtagen aufreiben, sieht Axel Ranisch (Jahrgang 1983) – auch anderweitig Glückskind des deutschen "Mumblecorps" – kein Problem: Mit (s)einem kleinen Team ist er schon öfters verreist, nach Ungarn etwa oder Brandenburg, um dort in gelöster Atmosphäre "Ferienfilme" zu drehen. Eine Ferienwohnung wird gemietet, sich eine schöne Zeit gemacht und gedreht, was die Natur vorgibt. "Ich kann da sehr entspannen", bekennt der sympathische Frohgeist mit dem runden Gesicht: "Da gibt es keinen großen organisatorischen Aufwand. Jeder darf machen, was er will: der Kameramann schöne Bilder drehen, wenn er zwischendurch die Improvisation erträgt, die Schauspieler frei agieren, der Regisseur sich verrücktes Zeug ausdenken. Am Ende schneide ich das zusammen und mit Glück kommt sogar ein schöner Film heraus."

Einfach drehen, um zu drehen – wahnsinnig entspannend sei das. "Diego Alonso" (2011) ist etwa dabei entstanden, ein "surrealer, religiöser, homoerotischer Naturfilm-Western", 56 Minuten lang und "geschossen" auf Super 8 und MiniDV in Nordfriesland und Fuerteventura. Was das Drehen ohne Skript und mit knappem Zeitrahmen betrifft, hat Ranisch langjährige Erfahrung: Als Medienpädagoge arbeitete er vielfach mit Jugendlichen, Behinderten oder Ärzten (zum Thema Qualitätsmanagement) zusammen; sein Konzept dabei: Sich anfangs eine Geschichte ausdenken, diese mit den Teilnehmern der Workshops innerhalb einer Woche realisieren, fertigstellen und abschließend vor Publikum aufführen. Harte Arbeit, aber auch: ein kreativer Rausch; die Euphorie am Ende. Eine Menge Kurzfilme – "viel Schrott dabei" – sind als Ergebnis dieser Videowerkstätten entstanden, aber auch während der Studienzeit: An der HFF "Konrad Wolf" hat Ranisch sich schließlich für das Regiefach eingeschrieben. Erst dort erlernte er die klassischen Schritte wie Stoffentwicklung, Drehbuchschreiben, die Auflösung von Szenen oder den Umgang mit Schauspielern, die Texte auswendig lernen. Jedoch: "Das klassische Drehbuchschauspiel meiner Hochschulfilme hat mich nie so überzeugt im Vergleich zu meinen früheren Improvisationsarbeiten. Das mag damit zusammenhängen, dass ich kein Talent fürs Drehbuchschreiben habe oder dass mir die Ausbildung im Umgang mit Darstellern fehlt. Vielleicht ist es aber auch ein Talent, Schauspielern Freiraum zu lassen."

Sein Diplomfilm und bislang größter Erfolg heißt "Dicke Mädchen" (2011). Heiko Pinkowski, mit dem Ranisch regelmäßig zusammenarbeitet ("zu ihm fallen mir ganz viele Geschichten ein"), spielt darin Sven, der zusammen mit seiner dementen Mutter Edeltraut – Ranischs Großmutter Ruth Bickelhaupt, Jahrgang 1921 und Tänzerin vor dem Zweiten Weltkrieg – lebt, sich gar das Bett mit ihr teilt. Unterstützung im Umgang mit ihr erhält Sven durch den Pfleger Daniel (Peter Trabner, den Ranisch als Zahnarzt-Darsteller bei Tom Lass’ Dreharbeiten zu "Papa Gold" kennenlernte). Die beiden wohlbeleibten Männer in ihren Vierzigern verlieben sich ineinander, was nicht ganz einfach ist, denn Daniel ist verheiratet, hat einen Sohn. Und dann entschläft auch noch Edeltraut sanft...

Quelle: missingFILMs, DIF
Peter Trabner, Heiko Pinkowski in "Dicke Mädchen"

"Dicke Mädchen" wurde innerhalb von drei Wochen an zehn Drehtagen, zwischen Trabners und Pinkowskis anderen Projekten, auf MiniDV gedreht, ad hoc, ohne Set-Beleuchtung. Dem Film zugrunde lag ein zweibis dreiseitiges Handlungskonzept, als Kulisse diente unter anderem Oma Ruths echte Plattenbauwohnung ("die ist so schön, die hätte man gar nicht bauen können"). Natürlich wartet "Dicke Mädchen" nicht mit der gewohnten High-End-Ästhetik auf, die man mittlerweile schon bei den übrigen "Freifilmen" mit ihrer erschwinglichen HD-Technik kennt. Orangestichig sind beispielsweise oft die Innenaufnahmen am Abend, matschig bisweilen das Bild, aber, wie Hajo Schäfer vom "achtung berlin" Festival, wo "Dicke Mädchen" 2012 den Hauptpreis gewann, konstatierte: Schnell gewöhnt man sich dran, ist flugs in der Handlung und ganz dicht an den Figuren. Und bei aller Dynamik des Improvisierens, der Lebendigkeit des Moments, die dem Film seine Rauheit, aber auch Energie verleiht: "Dicke Mädchen" ist – wie vor allem auch "Papa Gold" – bei aller Skurrilität, bei allen Ecken und Kanten erzählerisch ein erstaunlich runder Film in der Dramaturgie und überraschend berührend, in bester Weise "besinnend", wenn es um das liebevolle und vor allem so unerhört selbstverständliche Zusammenleben Svens mit seiner hilfsbedürftigen Mutter geht. Dazu Ranisch: "Das ist ganz wichtig: Dinge nicht zu problematisieren. Man kann alles abbilden. Dann kommt es im Jetzt an". Das ganze Potenzial und die Güte des filmischen Augenblickserzählens, allen äußeren und inneren Bedingungen und Zielen zum Trotz, kulminiert in "Dicke Mädchen" in einer ergreifenden Szene, in der Sven und Daniel erst für, dann zusammen mit Edeltraut eine Clowns- und Kabarettnummer im kleinen Allerweltsrentnerwohnzimmer inszenieren. Ein echter, weil kleiner Moment selbstvergessener Freude und ausgelassenen Glücks ist das, einer, den man dank der Art des Filmens weniger dargeboten bekommt, als dass man sein Zeuge werden darf – und der, so meint man zu spüren, stattgefunden hätte, ob man nun zugeschaut hätte, dabei gewesen wäre oder nicht. Axel Ranisch weiß entsprechend um die Magie.

"Ich liebe es, wenn vor der Kamera etwas entsteht, was nicht abgesprochen war. Wenn man plötzlich merkt, dass die Figuren, die man sich ausgedacht hat, zu Menschen werden, weil sie in dem Momentan ganz authentisch handeln müssen, etwas Neues passiert. Mystische Sache."

Ein solcher Augenblick war, als ohne Absprache ("Oma ist immer dann am besten, wenn man ihr nicht so viel erzählt") Ruth Bickelhaupt vor laufender Kamera begriff, dass aus der Bekanntschaft von Sven und Daniel eine Liebesgeschichte wird. Diesem Moment, so Ranisch, liegt ein besonderer überraschender Zauber inne. Im Film kann man ihn sich ansehen. Als Regisseur kennt Ranisch aber auch die Last der Spontanität. Düpiert war er zunächst, als ein von ihm geplanter "Plotpoint", ein gesetzter Moment, beim Dreh schlicht nicht zustande kam: Oma Edeltraut büxt aus, und auf der Suche nach ihr im nächtlichen Berlin sollten sich die beiden Männer näher kommen. Aber dieser Moment kam trotz mehrfachen Drehortwechsels schlicht nicht zustande. Ranisch wurde langsam sauer – doch sein Schauspieler Peter Trabner erklärt ihm lapidar seine Figur und die Situation: "Vergiss es, der macht das einfach nicht, der hat gerade andere Probleme." Natürlich hatte Trabner Recht, was sich auch dramaturgisch letztlich als glücklich erwies. Ranisch: "Man muss als Regisseur abschätzen: Beharre ich auf meinem Willen und der Idee – oder höre ich auf meine Schauspieler, weil sie mehr in der Rolle drinstecken als ich, der ich mir einen bestimmten Dreh- und Angelpunkt gewünscht habe? In dem Moment habe ich gemerkt, dass ich den Schauspielern vertrauen muss. Habe ich grummelig akzeptiert. [...] Und natürlich ist es viel schöner, wie es jetzt ist."

Quelle: Edition Salzgeber, DIF, © Edition Salzgeber, Gordon Welters
Heiko Pinkowski, Frithjof Gawenda in "Ich fühl mich Disco"

Es erscheint denn auch gar nicht mehr so kurios, dass "Dicke Mädchen" 2011 auf dem 22. Kinofest Lünen nicht nur für den besten Titel, sondern auch, ausgerechnet, für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, wenn man bedenkt, dass rein nach dem fertigen Film geurteilt wurde. Nach diversen anderen Festivalauftritten und Prämierungen wie einem Spirit of the Slamdance Award 2012 hat Ranisch bekommen, wovon viele Kleinstfilmer träumen: einen Verleiher, Missing Films, und einen Kinostarttermin (15. November 2012).

Regelrecht einen Jackpot hat er aber mit seinem nächsten Projekt geknackt, das den Arbeitstitel "10 Meter" trägt und wohl final "Ich fühl mich Disco" heißt. Was Ranisch die Aufmerksamkeit der Szene, vielleicht gar ein bisschen Neid garantiert, ist, dass der Film ordentlich gefördert wird, mit 300.000 Euro vom Kleinen Fernsehspiels des ZDF sowie mit weiteren 100.000 Euro der Medienboards Berlin Brandenburg. Alles ohne fertiges Skript, nur auf Basis eines 11-seitigen Entwurfs. So ganz märchenhaft ging es dann allerdings näher betrachtet nicht zu. Es gab durchaus ein konventionelles Drehbuch und erheblich Vorlaufzeit: Vier Jahre war "10 Meter" schon in der Entwicklung, elf unterschiedliche Buchfassungen entstanden dabei mit zusammengenommen 1.300 Seiten, die nun für das Konzept kondensiert wurden, in dem die Szenen skizziert sind. Das hatte gleichwohl Vorteile: "Man sagt nicht Seite 64 unten rechts und kommt dann vom Tausendsten ins Gesamte zurück", so Ranisch, "sondern man legt eine Handlung dar, wo zumindest jede Szene klar ist, und über die verständigt man sich. Die kann man dann gut finden oder nicht – aber alles, was dann passiert, wird dem Schicksal überlassen, dem Talent der Schauspieler."

"10 Meter" ist denn auch nicht so etwas wie "Dicke Mädchen 2". Die Story ist über Jahre hinweg gewachsen, eine autobiografisch gefärbte Vater-Sohn-Geschichte. Wieder mit Pinkowski in einer der Hauptrollen, doch für die zweite, fertig ausgedachte und in der Vorstellung Ranischs schon ausdefinierte Figur wurde gecastet. Nicht mehr auf MiniDV wird gedreht, wenn auch auf einer kleinen Digitalkamera; die Drehzeit mit üppigen 35 Tagen entspricht schon der einer regulären Produktion. Das Team bleibt gewohnt klein, doch die Vorarbeiten wie der Setbau ("Wir drehen nicht mehr in der Wohnung meiner Oma") machen deutlich, dass hinter "Dicke Mädchen" und "10 Meter" zwei unterschiedliche Philosophien stehen. Bei ersterem wurde noch mit dem gearbeitet, was da war, gab es zunächst die Darsteller und erst dann, von diesen entwickelt und ausgestaltet, die Charaktere. Für "10 Meter" ist es umgekehrt, wird nun nicht mehr – wie auch bei Jan Georg Schütte mit "Leg ihn um!" – die Geschichte den Gegebenheiten angepasst, beeinflusst Letzteres nicht mehr Ersteres. Eine, vielleicht unvermeidliche, Abkehr, ein langsamer Abschied vom propagierten idealen, dem: "guten" Filmemachen?

Quelle: Edition Salzgeber, DIF, © Edition Salzgeber, Gordon Welters
Frithjof Gawenda, Christina Grosse in "Ich fühl mich Disco"

Zusammen mit Schauspieler Heiko Pinkowski sowie der Produzentin Anne Baeker und Kameramann Dennis Pauls hat Ranisch eine Produktionsgesellschaft mit dem selbstbewussten Namen "Sehr gute Filme" gegründet. Was ein sehr guter Film ist? Für diesen ist das Drehbuch nur Bedienungsanleitung; Redakteure, Produzenten und Förderer sollten sehr gutes Geld in sie investieren, ohne das scheue Pflänzchen Intuition dabei qua inhaltlicher Bevormundung zu vergiften.

"Ein sehr guter Film hängt nicht vom Budget ab. Er entsteht in Freiheit, selbstbestimmt und unabhängig, quasi von glücklichen Filmautoren. Sehr gute Filme sind die Bio-Produkte der Deutschen Filmlandschaft", heißt es auf der Seite der Gesellschaft. Natürlich in einem ("sehr guten") Manifest.

6. Herausforderungen, Bedingungen und Nachteile

Die vier vorgestellten Filmautoren mit ihrer Art des Filmemachens sind nur eine Auswahl, viele andere, auch junge und künstlerisch wie in der kritischen Rezeption erfolgreiche, lassen sich immer wieder ausmachen. Erinnert sei an den furiosen mittellangen, (wie Tom Lass' "Kaptn Oskar") von Joroni Film koproduzierten "Torpedo" (2009) – das Debüt der damals 16-jährigen Helene Hegemann, das man in und über der unseligen Plagiatsdebatte um Hegemanns Roman "Axolotl Roadkill" (2010) leider vergessen hat. Wie sie das Sozialproblemkino auf die Schippe nahm und dabei frech ihre überdrehte Geschichte mit unvermittelt eingestreuten Outtakes und dergleichen erzählt, ist noch immer eine Pracht.

Ist German Mumblecore also vielleicht nicht der, aber ein neuer Weg fürs deutsche Filmemachen? Vielleicht nicht Heilsversprechen, aber Faszinationskraft geht davon aus. Und sei es nur, weil eine so schwungvolle wie anti-larmoyante "Wir-machen-jetzt-einfach"-Attitüde hinter den Filmen steckt, die man als "US-amerikanisch" zu apostrophieren versucht ist. Auch Jan G. Schütte ist überzeugt, dass es besser ist, im Zweifelsfall seine eigenen, wenn auch nur kleinen Kreativprojekte zu verfolgen, als nur zu Hause zu sitzen, zu warten und zu klagen: Ach, es geht alles nicht, würde ich doch nur Finanzierung bekommen.

Quelle: Filmgalerie 451, DIF
Alice Dwyer in "Torpedo"

Die engagierte Haltung von Ranisch, Lass und Co. wie die verfügbaren technischen Möglichkeiten von erschwinglichen professionellen Schnittprogrammen über hochauflösenden Camcordern zu bezahlbaren Miet- oder gar Kaufpreisen (so man nicht gleich mit der HD-Kamera des Handys dreht) sind jedoch kein Garant für gute Filme. Festivals vor allem mit Nachwuchsschwerpunkt können von einer Schwemme amateurhafter "Heimvideos" berichten, die nun als "Ich-auch!"-Kunstwerke eingereicht werden. Es gilt also, die Goldgräbereuphorie etwas zu bremsen (oder zu kanalisieren), nicht zuletzt, um die Qualität der Filme, das notwendige Können der Macher zu betonen – sowie die doch erheblichen unterschiedlichen Ressourcen.

Schütte mag beispielsweise das Wort "Improvisation" eigentlich nicht mehr hören. Er versteht seinen Ansatz als ein freies, selbst geführtes Spiel, etwas, das jeder kann, der den Beruf ernst nimmt und daran Spaß hat. Das sei das Wesen des Schauspiels. In diese Richtung verweist auch Ranisch, wenn er sich nicht die Bezeichnung Regisseur gibt, sondern die des "Spielleiters". Das Improvisieren (wir bleiben bei dem etablierten Begriff) vor der Kamera ist eben nicht zu verwechseln mit Laienspiel, geschweige denn Amateurarbeit oder gar Dilettantismus, selbst wenn derlei unter Umständen künstlerisch sinnvolle und gewinnbringende Konzepte sein können. Es sind erfahrene und oft ausgebildete Schauspieler, die in den German-Mumblecore-Filmen agieren und reagieren, die sich in ihre Rollen einzufühlen und ihnen die nötige Tiefe zu verleihen verstehen. Dass dabei viele von der Bühne kommen wie Peter Trabner oder die Darsteller bei Schütte, ist wenig verwunderlich und vor allem kein Problem für das Impro-Spiel vor der Kamera. Pheline Roggan hatte bei ihrem Auftritt in "Die Glücklichen" keine Bühnenerfahrung, konnte entsprechend so angenehm "schlicht" spielen, wie es im Film eher gesucht ist. Susanne Wolff hingegen nutzte die Energie, die das Theater verlangt, um es für die Kamera im Ausdruck herunterzufahren – und schließlich die Bühne mental "auszuschalten".

Ebenso sind die Kameramänner, die weniger als Bildgestalter denn als Mitspieler fungieren, vom Fach, Profis oder in der entsprechenden Ausbildung: Anselm Belser ("Papa Gold") etwa studiert sein Metier an der dffb, der Schweizer Timon Schäppi ("Frontalwatte") an der HFF Potsdam- Babelsberg. Und selbst wenn wie bei "Dicke Mädchen" der Regisseur, Drehbuchautor und Co-Produzent Ranisch selbst die Kamera führt, hat dieser durch seine Arbeit als Medienpädagoge gehörige Übung darin.

Quelle: Filmfestival Max Ophüls Preis 2013, © Joroni Film
Tom Lass in "Kaptn Oskar"

Zu relativieren sind in diesem Zusammenhang auch die werbewirksamen Mini-Budgets der Filme. Sie nähren natürlich die attraktive Legende der Wildpflanze, die gegen alle Unbill des deutschen Finanzierungssystems und seiner Regeln und Regime blüht, das schöne, klassische Ideal der Künstlerschaft, die das profane Materielle hinter sich lässt und ganz auf die, vielleicht geniale, Eingebung und Kreativität baut und damit triumphiert. Das ist aber nicht nur zu kurz gedacht, sondern kann auch schnell problematisch werden. Hinter den kleinen Produktionskosten, "Papa Gold"s 1.500 Euro oder den bewundernswerten, gar verführerisch läppischen 500 Euro für "Dicke Mädchen", steckt quasi unsichtbar und wie so oft bei engagierten, "nicht-industriellen" Projekten ein Vielfaches an Sponsoring, Rückstellungen, Sonder- und Umsonstleistungen. Allein die Darsteller in Schüttes "Leg ihn um!" hätten, wären ihnen regulären Gagen gezahlt worden, mit jeweils zwei- bis dreitausend Euro pro Tag zu Buche geschlagen (gar mehr noch hätten Namen wie Hans-Michael Rehberg, Meret Becker, Marie Bäumer gekostet). Jungschauspieler, Nachwuchstechniker und -aufnahmeleiter aus / in Berlin mögen weniger verdienen, aber auch sie leisten geldwerte Arbeit. Es ist klar: Derartige Projekte beruhen auf dem Prinzip der (Selbst-)Ausbeutung, und das entsprechend zu veranschlagende Herzblut mag den Filmen ihre Unmittelbarkeit und ihren Verve, ihre Lebendigkeit und Energie verleihen, aber es wäre zynisch, das eine zur Bedingung des anderen zu machen oder als solche einzufordern (etwas, das in halbgaren Kommentaren in der aktuellen Urheberrechtsdebatte um das "wahre" Wesen der Kunst oft zu beobachten ist). So attraktiv man sich mit den kleinen Summen verkaufen kann, so schnell geraten Jungfilmer und nicht nur sie in die Dumpingfalle. Jakob Lass mahnt zu Recht: "Es ist gefährlich zu sagen: der Film kostet nur fünfhundert Euro – und man lässt die ganzen anderen Sachen weg. Weil dann die Leute kommen, das Geld auf den Tisch legen und sagen: 'Hier, mach mir mal einen Spielfilm für fünfhundert Euro'."

Für Unabhängige wie Schütte oder Ranisch sind ein oder mehrere Hunderttausend eine Menge Geld, und die Wagnisbereitschaft und Experimentierlust der involvierten Sender und Förderanstalten sind lobenswert. Gleichwohl kostet ein Fernsehfilm in der Regel deutlich mehr als eine Million Euro in der Herstellung. Auch wenn ein solches Budget in diesen Fällen und vor allem bei einer Beteiligung des Kleinen Fernsehspiels als eines der letzten öffentlichen Bekenntnisse zum Unkonfektionierten sicher unpassend wäre, sollte man für die Zukunft darauf achten, dass unter dem Deckmantel der Innovation nicht lediglich teure Sendeplätze mit kostengünstigen – oder auf lange Sicht dann: billigen – Inhalten gefüllt werden. Nachdem "Swinger Club" und "Die Glücklichen" auf DVD erschienen sind, hat Schütte jedenfalls die Filme an den ZDF-Kulturkanal verkauft. Viel hat er nicht dafür bekommen. Mehr bezahlt hat man ihm für "Leg ihn um!", und seine Schauspieler können es sowieso gut gebrauchen, dass ihre Gesichter im Fernsehen zu sehen sind. Schütte begreift seine Arbeit als Investition. Langfristig zahle es sich nicht nur seelisch oder künstlerisch aus, sondern auch finanziell, weil einem Türen aufgingen, auch für ihn als Schauspieler. Mumblecore-Filme sind nicht zuletzt Visitenkarten. In den USA jedenfalls haben beispielsweise die Duplass- Brüder mit "Cyrus" (2010), in dem Jonah Hill, Marisa Tomei und John C. Reilly mitspielen, oder mit "Jeff, Who Lives at Home" (2011) mit Susan Sarandon und Jason Segel den Weg in den (Independent-)Mainstream gefunden. Greta Gerwig wiederum ist in Woody Allens "To Rome with Love" (2012) gelandet.

Quelle: NFP Marketing & Distribution, DIF, © NFP / Little Shark / Martin Menke
Axel Ranisch in "Ruhm"

Ewig so weiter machen wie bisher, zumindest auf diesem unsicheren wirtschaftlichen Level, will in Deutschland eigentlich keiner. Die Regisseure, ihre Crew und Cast wollen und müssen schließlich Geld verdienen. Was sie auch können, meint Ranisch, nur eben: bei anderen Projekten. "Alle wissen, dass sie, wenn sie mit uns arbeiten, nicht das große Geld verdienen, aber wir machen schöne Filme, und das hat eine Zukunft." Ihn selbst haben zwei Filmrollen knapp zwei Jahre finanziert: die Hauptrolle in der kleineren dänisch-österreichischen Thomas-Glavenic-Adaption "Wie man Leben soll" (Österreich, 2011) von David Schalko und ein Nebenpart in Isabel Kleefelds Daniel-Kehlmann-Verfilmung "Ruhm" (2012). Spielfilmmachen als Hobby? Weniger optimistisch, nicht zuletzt aus einer anderen Erfahrungsgeschichte heraus, ist Tom Lass. Das befreundete, eingespielte Team, das mit seinem Ensemblecharakter bei jedem der Filmemacher eine eminente Rolle spielt, kann schnell in die Bredouille geraten, zerfallen, wenn andere, eben gut bezahlte oder überhaupt: bezahlte Projekte dazwischenkommen. Noch schneller geht es mit jenen, die einem von vornherein nicht so verbunden sind. "Und dagegen kannst du auch nichts sagen, was kannst du ihnen schon bieten?" Außer eben dem Mitwirken an schönen, guten Filmen, von dem allein man leider nicht die Miete bezahlen oder die Familie ernähren kann. Jakob Lass: "Das ist wirklich nur eine zeitweilige Sache; das kann nicht lange gut gehen. Das kann nicht die Zukunft des Films sein, dass man auf lange Sicht sagt: 'Ein Film ist etwas, was man gerade macht, weil man Zeit hat und keine großen Geldsorgen'."

German Mumblecore ist denn auch charakteristisch für eine prekäre junge und untereinander vernetzte Kreativszene, sei es die des Theaters, sei es die der Filmhochschulen und ihres Umfelds. Die dort Beheimateten sind (noch) nicht im regulären Betrieb der Film- und Fernsehindustrie angekommen und müssen angesichts zunehmend knapper Kassen und sich auflösender Karrierestrukturen bei gleichzeitigen neuen Angeboten an Existenz- und Kunstabsatz-, Selbstpräsentations- und Verdienstmodellen ihren Weg selbst suchen und finden.

Unweigerlich kommt man dabei heute auf verheißungsvolle Begriffe wie "Social Media" und vor allem: "Crowdfunding". Beeindruckende Zahlen (vor allem in den USA) und Vorzeigeprojekte wie "Iron Sky" (2012), der "Stromberg"-Kinofilm oder der Kurzfilm "Hotel Desire" (2011) von Sergej Moya als "Beispiel für perfektes Marketing" (Handelsblatt) wecken Hoffnungen. Jenseits von Trash-Fan-Massen, die sich für Nazis auf dem Mond begeistern lassen, einer etablierten Marke oder dem Versprechen auf (teamworx-unterstützte) Hochglanz-Erotik, sind die Ergebnisse in Sachen Schwarminvestment und -sponsoring aber ernüchternd. Tom Lass mit "Papa Gold" und Schütte mit "Leg ihn um!" haben es versucht; Lass, um den Film ins Kino zu bringen, Schütte für die Produktion. Beide haben festgestellt, dass vor allem eine professionelle und zeitintensive Betreuung von derlei Kampagnen nötig ist. Die Art ihrer Filme, das Ungefähre, das "Mal-schauen-was-rauskommt" hilft dabei nicht, und auch in Zukunft, wenn immer mehr Projekte unterschiedlichster Art um das Geld und die Aufmerksamkeit buhlen, wird Crowdfunding sicher nicht leichter oder ergiebiger werden. Immerhin, selbst wenn es finanziell nicht allzu erfolgreich war, so Schütte, war die generierte Aufmerksamkeit, die die Menschen für das Projekt interessierte und sie daran band, die Aktion wert – mehr wert gar als das Ergebnis der letztlich zugesagten 3.500 Euro. Daher würde er es wieder machen.

Quelle und © Von Fiessbach Film / Teamworx 2011
Saralisa Volm, Clemens Schick in "Hotel Desire"

Ein noch größeres Problem ist darüber hinaus das der Auswertung, die Suche nach dem Verleiher und dem Weg zum Publikum. Allerdings ist dieses nicht ein spezifisches dieser Filme, sondern eines, so Jakob Lass, "das wir uns mit jedem deutschen Film teilen, der mit wenigen Kopien startet und kein riesiges Werbebudget hat." Festivals bleiben Sprungbrett, nur sollen es die Werke schließlich über die Filmfestszene hinaus schaffen. Und auch wenn es das Fernsehen gibt, die DVD oder Online- Videotheken und Video-On-Demand-Dienste, bleibt immer noch die Kinoleinwand das anvisierte Ziel. Insbesondere, weil auch und gerade German-Mumblecore-Filme keine bloßen Konsumgüter sind. Jakob Lass: "Natürlich kann man auch jeden Kinofilm auf DVD schauen oder auf kino.to oder ihn auf YouTube-Qualität runterskalieren. Aber Leute kucken sich das an und ignorieren es völlig. Wenn ich mich entscheiden könnte, wo sich Leute meine Filme anschauen, dann bitte im Kino."

Denn, und das werde oft unterschlagen oder von den "Nutzern" vergessen, ein Großteil des Filmerlebnisses gehe schlicht aufgrund der minderen Qualität (des Bildes, des kleinen Screens etc.) verloren. Allen vier Filmemachern gilt trotz Mini-DV-Bildern oder hochgezüchteten Wohnzimmern, bei denen der Begriff "Home Cinema" seine Ironie und Metaphorik stark verloren hat, das "Lichtspielhaus" nach wie vor als angestammte Stätte der Rezeption und Begegnung, ein soziales Erlebnis, wozu man aus dem Haus und unter fremde Leute gehen muss. Es ist nicht nur ein Gewinn für das Publikum: "Die Konzentration eines solchen Raumes ist viel größer", so Schütte, der sich dort nicht zuletzt eine eigene Art Lohn für seine Mühe abholt: "Wenn ich den Film im Kino sehe mit 500, 600 Leuten zusammen und er dann funktioniert, dann ist das einfach unglaublich erfüllend.

7. Aussichten

Ohne Auswertung keine Refinanzierung und damit Chance auf tragfähiges nachhaltiges Modell. Bleiben also doch nur wieder die Filmförderanstalten und Sender? Bei Ranisch und Schütte kam von diesen die Unterstützung, doch die etablierten Geldquellen des Systems sind wenig auf die freie Form des Filmemachens eingestellt oder ausgerichtet. Noch immer und ja nicht ganz grundlos gilt vor allem ein Drehbuch als Entscheidungsgrundlage für Projekte, wenn nicht schon ein allgemein oder persönlich bekannter Name die Bedeutung einer solchen Vorlage relativiert (selbst Andreas Dresen hatte es jedoch mit und für "Halbe Treppe" nicht leicht). Die klassische Entwicklung des "Stoffes" dauert aber, muss nicht selten für Jahre durch die Instanzen, und das ist schlecht vereinbar mit jenem Spontanen, Intuitiven – auch was mögliche Themen und Zeitstimmungen anbelangt –, für das Ranisch, die Lass-Brüder oder Schütte (ein-)stehen. Hinzu kommt, dass mit der Zeit schlicht persönliche Energien verloren gehen. Die Freilandfilmer wollen loslegen, nicht mitsamt ihren engagierten Produzenten ihre Kräfte in Anträge, ins Hoffen und Harren und in die Sorge vor Finanzierungslücken investieren.

Quelle: Jakob Lass, © Timon Schäppi
Franz Rogowski in "Frontalwatte"

Die Professionalisierung und Projektierung mit höheren Budgets bedeutet, davon abgesehen, gleichwohl nicht zwangsläufig eine Versteifung und inhaltliche, ästhetische und kreativmethodische Konfektionierung, selbst wenn der Trend in der Praxis bisweilen dahin zu gehen scheint. Es sind ohnehin vorsichtig und je individuell die Dimensionen des Improvisierens einzuschätzen: Dass beispielsweise die Dialoge fehlen, muss in Sachen Skript nicht viel heißen, so Drehbuchautorin Ruth Toma ("Solino", "Gloomy Sunday", "Emmas Glück"), denn: "Ein Drehbuch ist am allerwenigsten Dialog. Das denkt man immer, weil der Dialog die fassbarste Form des Drehbuchs ist. Das wichtigste am Drehbuch ist, dass es die Geschichte erzählt, die Struktur der Geschichte vorgibt." Gerade wenn man Freiräume für sich, den Moment und seine Entwicklung sowie die Schauspieler und ihre Figuren schaffen will, muss noch präziser geplant werden. Allein um den Darstellern den Blick fürs Ganze zumindest in der Funktionalität der Dramaturgie abzunehmen. Die sehr langen Zeiten, die die Regisseure alleine oder mit Editoren anschließend im Schnitt verbringen, um das Material zu strukturieren und formen, können diese Vorarbeit nicht ersetzen.

Nichtsdestotrotz: "Mumblecore" mit Kennzeichen D ist eine andere Art des Films und des Filmens, und Axel Ranisch will sie weiterverfolgen, seine Nische und seinen Weg finden, jetzt eben auch mit Produktionsfirma, Sender und Förderung. Vielleicht sei das ein Signal für andere, die Kreativen, die Entscheider: "'Der macht auf diese Weise persönliche, sperrige Filme, aber die werden gut.'" Die Vision: sich einen eigenen Platz etablieren auf dem deutschen Filmmarkt. Auch wenn der nicht groß ist, denn massenkompatibel sind diese Wildwuchsfilme wohl (noch) nicht, doch was heißt das schon, und das Potenzial für einen größeren Nischenerfolg, thematisch wie formalästhetisch, ist da, wenn auch nicht als Dauerprogramm oder als neues "Genre".

Apropos, Stichwort "Genre", wäre das nicht mal eine Richtung? Dominik Graf propagiert sie ja immer wieder für das deutsche Kino, und auch die Mumblecorer aus den USA haben sich bisweilen, nachdem ihre Art der Selbstbespiegelungen langsam an Reiz einbüßte, Genrestoffen zugewandt oder sie für ihre eigenen Sujets, Themen- und Figurenwelten appropriiert: den Noir-Krimi bei Aaron Katz mit "Cold Weather" (2010), den Horrorfilm bei Jay und Mark Duplass mit "Baghead" (2008) und bei Joe Swanberg mit "Silver Bullets" (2011) oder seinem Beitrag zum Mockumentary- Episodenfilm "V / H / S" (2012).

Ja, sicher sei das interessant, sagt Schütte, und schließlich geht "Leg ihn um!" genau diesen Weg. Ranisch ist dafür wiederum wenig zu begeistern. Musik hat er früher viel gehört, aber nur wenig Filme gesehen – erst als er anfing, selbst welche zu machen und natürlich dann an der Hochschule. Für Genres müsse man sich aber sehr gut darin auskennen, sagt er. Vielleicht mal einen Musikfilm... Generell interessiert ihn aber mehr die Geschichte als das reine Genre. Und: "Ich bin immer ein Freund von Vermischung und Überraschung. Kein Freund der Verabredung mit dem Publikum".

Quelle: Aries Images, DIF, © Aries Images, Foto: Andreas Weiss
Hans-Michael Rehberg und Pheline Roggan in "Leg ihn um - Ein Familienfest"

Wie Ranisch sieht Jakob Lass die Möglichkeiten des Improvisierens zwar noch nicht ausgereizt; wichtig sei aber, dass es nicht zur Routine oder Masche werde. Er findet jedoch auch: "Wie es einmal befreiend sein kann, zu improvisieren, kann es auch wieder befreiend sein, wenn man was Festes hat." Die klassische Filmarbeit, so Jakob Lass, reize ihn, klar. Sich selbst begreift er schließlich auch als klassischen Schauspielregisseur, der Lust hat, sich auch in dieser Hinsicht auszutesten. Letztendlich muss freilich das eine nicht das andere ausschließen: die althergebrachte Drehbuchinszenierung, angereichert durch Improvisationsarbeit, warum nicht? Die möglichen Variationen, Mischungsarten und -verhältnisse sind vielfältig. Auch sein Bruder Tom überlegt, beim nächsten Film mal etwas anderes zu machen – nicht bloß, um die Kommunikation zu potenziellen Geldgebern zu erleichtern, sondern auch, "weil ich es jetzt ein paar Mal ausprobiert habe, dieses extrem Offene. Ich will mal kucken, was passiert, wenn man es doch etwas genauer plant." Tom weiter: "Am Anfang vertritt man auch viel extreme Standpunkte. Zum Beispiel das Nicht-Wiederholen beim Dreh – da geht die Frische und Überraschung verloren, die Schauspieler spielen nie wie beim ersten Mal, versuchen, das Gute zu wiederholen. Mittlerweile gehe ich aber doch das Risiko ein und zahle diesen Preis dafür, um mehrere Einstellungen zu haben, um aus verschiedenen Perspektiven und dann klassischer schneiden zu können. Der Vorteil ist auch, dass ich mehr formen kann. Was ich aber dann aufgebe, ist die absolute Frische in dem Spiel."

Der eine mag noch lange zwischen lukrativen Industriefilmen und Kleinstrollen seine Filme weiter als engagierter, leidenschaftlicher Heimkünstler machen; der andere sich irgendwann als Fernsehregisseur verdingen; der dritte mit seinem Ideal des freilaufenden, glücklichen Filmemachens den Marsch durch die Institutionen antreten, auf diesem Wege seine Vision verwässert und deformiert bekommen und aber – zugleich und warum nicht? – dabei das System ein bisschen, vielleicht gar nachhaltig, verändern, aufrauen, erweitern: die Förderungen, schließlich unser Kino, unser Sehen und unsere Vorstellung davon, wie Filme sein müssen. Oder können.

Sicherlich ist es aber falsch, eine Kontinuität oder gar persönliche artistische Entwicklung anzumahnen, von Stagnation zu sprechen oder, im andern Fall, von Ausverkauf oder Verrat der Idee. Die vielen Stimmen nicht nur aus dem Kreis dieser Kreativen haben Recht: Nur mit einem guten Ansatz und Begeisterung lassen sich auf Dauer solche Filmprojekte nicht realisieren. Oder doch? Die Frage ist, worauf man diese Dauer bezieht. Bestimmt nicht auf den einzelnen Filmautor, dem die Wegbegleiter des Ensembles davonwachsen, der älter wird und an die Existenzsicherung denkt, an die Familie. Das bedeutet jedoch nicht, dass damit "Sehr gute Filme" aussterben oder "Fogma" in einen institutionalisierten Rahmen gespannt werden müsste, selbst wenn die Etablierung von Fördertöpfen für solche Projekte und vor allem die spezielle Arbeitsweise eine famose Sache wäre. Geldsorgen und Auswertungsflaschenhälse hin oder her, das Filmen des frechen Spontanen, Wilden, des kantigen Im-Moment-Seins ist eine Art Staffelstab, der weitergereicht wird. Egal, was aus dieser Generation wird, die nächste wird kommen, die Idee aufgreifen oder sich neu finden und auf ihre Weise entwickeln. Ob als Impro-Filme oder "German Mumblecore", "Sehr gute Filme", "Fogma": Dank der immer verfügbareren digitalen Aufnahme-, Bearbeitungs- und Schnitttechnik, der Kompetenz, sie zu nutzen sowie dem – womöglich damit verbundenen – Hunger nach Authentizität in und hinter den Bildern und Stories sind diese Filme gekommen und bleiben. Egal unter welchem Label sie firmieren oder welches Etikett zuvor schon für ihresgleichen gebraucht wurde.

© Bernd Zywietz, Harald Mühlbeyer, Schüren Verlag