German Mumblecore

Quelle: Daredo Media, DIF, © Timon Schäppi, Daredo Media
Franz Rogowski, Lana Cooper in "Love Steaks"

 

Anlässlich des Symposiums GERMAN MUMBLECORE am Freitag, 28.11.2014 im Deutschen Filmmuseum Frankfurt und am Samstag, 29.11.2014 bei FILMZ – Festival des deutschen Kinos in Mainz publizieren wir auf filmportal.de Texte, Materialien und Videos zum Thema.

 

Die Podiumsdiskussionen und Filmgespräche des Symposiums GERMAN MUMBLECORE:

1. Podiumsdiskussion: "Improvisation als Stilmittel? Neue Wege in der Filmproduktion"

2. Podiumsdiskussion: "German Mumblecore – Vorläufer, Selbstverständnis und Ausblick" (+ Kurzvortrag von Bernd Zywietz)

3. Podiumsdiskussion: "Chancen und Risiken neuer Vertriebs-, Verleih- und Abspielformen und die Zukunft des German Mumblecore" (+ Kurzvortrag von Urs Spörri)

Filmgespräch mit Aron Lehmann und Peter Trabner zu "Kohlhaas oder Die Verhältnismässigkeit der Mittel"

Es tut sich was im deutschen Film: Eine neue Generation von Filmemachern und Filmemacherinnen erobert die Leinwände – und dies fast gänzlich ohne Drehbücher! Improvisation ist das A und O für die jungen Wilden aus Berlin. Ihre Filme sind Abenteuer für die Macher und die Zuschauerinnen. Sie stecken voller Energie und Unvorhersehbarkeit und faszinieren und irritieren zugleich. Sie werden gefeiert auf Filmfestivals und mit Preisen überhäuft. "Love Steaks" von Jakob Lass gewann 2013 als erster Film sämtliche Förderpreise "Neues deutsches Kino". Sogar für das beste Drehbuch, obwohl es eigentlich gar keines gab.

Genannt wird die Bewegung "German Mumblecore", in Anlehnung an die US- amerikanische "Mumblecore"-Szene. Die Regisseurinnen und Regisseure kennen sich größtenteils, haben meist an der Filmuniversität Babelsberg "Konrad Wolf" studiert und leben und arbeiten in Berlin. Mit geringen technischen Mitteln und vielfältigen Arten der Improvisation beschreiten sie, wie ihre amerikanischen "Mumblecore"-Pendants Andrew Bujalski, Lena Dunham oder Mark und Jay Duplass, zukunftsweisende Wege außerhalb des etablierten Fördersystems. Das gab es freilich schon häufiger in der Filmgeschichte, allein in Deutschland arbeiten der seit den 1960ern aktive Provokateur Klaus Lemke, die Kölner Gruppe um Rainer Knepperges sowie Deutschlands Vorzeige-Improfilmer Andreas Dresen auf ähnliche Weise. Wie Lemke schreiben die Nachwuchstalente Manifeste, die sie "Fogma" (Jakob Lass) oder "Sehr gute Filme" (Axel Ranisch) nennen. Mit ihrer rotzig-frechen Art des Filmemachens bilden sie einen Gegenpol zu der seit den Neunzigerjahren etablierten "Berliner Schule" um Christian Petzold, Thomas Arslan und Angela Schanelec. "Die hatten den Ansatz: Wir reden nicht miteinander, wir stehen uns nur gegenüber. Jetzt kommt die Gegenbewegung. Und alle sind so Randale und so", beschreibt Regisseurin Isabell Šuba ihre Haltung.

Quelle: missingFILMs, DIF
Heiko Pinkowski in "Dicke Mädchen"

Es ist diese unbeschwerte Direktheit, die alle "German Mumblecore"-Filme eint: Jeder der Filme hat mindestens eine zentrale Szene oder einen wichtigen Dialog, der eine geradezu explosionsartige Entwicklung nimmt und mit einer selten gesehenen Wucht und Dynamik den Zuschauer in den Kinosessel presst. Die Energie der Filmschaffenden überträgt sich auf die Leinwand. Immer wieder auftretende theatrale Elemente werden gepaart mit erfrischender Authentizität. Selbst Schauspieler und Kameraleute wissen in manchen Szenen nicht, was auf sie zukommt. Die Kamera wird zur Protagonistin und spielt mit. Die skelettartigen Drehbuch-Konstrukte ermöglichen zudem ungeahnte Freiheiten – Freiheiten, die sich auch in den häufig sehr realistisch anmutenden Stoffen widerspiegeln und einen Ausbruch aus dem Berliner Alltag bedeuten. Raus, auf jeden Fall raus. Und dann mal gucken, was einen dort erwartet. Nur der Regisseur weiß ungefähr, wohin die Reise geht. Hat man sich festgebissen und es geht einmal nicht weiter – dann wechselt wie bei "Kaptn Oskar" von Tom Lass spontan der Drehort, Nebenfiguren verschwinden auf Nimmerwiedersehen, oder es stirbt auch mal ein Protagonist nach dreißig Minuten wie in "Ich fühl mich Disco" von Axel Ranisch. Stephan Geenes "umsonst" funktioniert ähnlich spontan und driftend, nur ist er wesentlich politischer: Coming of Age trifft hier auf Gesellschaftskritik im gentrifizierten Berlin. Eine junge Frau auf Sinnsuche reißt aus, die Mutter verzweifelt – und neben ihr wohl jeder Freund der klassischen Dramaturgie. Fast mutet es an wie die Reaktion von Henry Fonda auf den New-Hollywood-Klassiker seines Sohnes Peter, der beim ersten Sehen von "Easy Rider" (1969) sinngemäß fragte: "Wohin fahrt ihr da eigentlich die ganze Zeit?" Die jungen Wilden des deutschen Films sind jetzt auf dem Weg. Alle anderen stehen am Wegrand und staunen.

Fast immer münden die Filme des "German Mumblecore" in das Genre der Tragikomödie. Nur ist das Lachen herzlicher und das Tragische alltäglicher, als man es aus vergleichbaren deutschen Filmen kennt. Der Humor ist nicht auf Pointen ausgelegt, sondern oftmals mit einem charmanten Augenzwinkern versehen. Wenn in "Dicke Mädchen" die Oma des Regisseurs Axel Ranisch auf die beiden Aushängeschilder der neuen Berliner Improfilm-Szene Peter Trabner und Heiko Pinkowski trifft, dann ist das außerdem großes Kino zum kleinen Preis: 512,37 Euro soll die Produktion gekostet haben.

Quelle: Filmfestival Max Ophüls Preis 2014, © süsssauer Filmproduktion, Mehrdad Taherivand
Kathrin Waligura, Peter Trabner in "Familienfieber"

Dieses Kino nimmt sich auch gern mal selbst aufs Korn, wenn der fiktive wie reale Regisseur Aron Lehmann seinen "Kohlhaas" mit der "Verhältnismäßigkeit der Mittel" konfrontiert und nach dem Rückzug des Finanziers den Historienklassiker einfach mit Kühen statt edlen Schlachtrössern zu Ende dreht. Die Grenzen verschwimmen: 
Wer da noch Laie ist und wer einen Laien spielt, das ist nicht mehr klar ersichtlich. Überhaupt das Spiel mit Identitäten: Wer ist eigentlich echt bei "Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste"? Ist es die fiktive Regisseurin, die gespielt wird von einer Schauspielerin, während die Regisseurin selbst als Kamerafrau unter falschem Namen agiert und der echte Produzent einen fiktiven Produzenten im Film spielt? Und gemeinsam sind sie in Cannes vertreten mit einem Kurzfilm (von der echten Regisseurin), doch vor Ort steht die falsche Regisseurin auf der Bühne und beackert die (echten?) Größen der Branche. Verwirrung pur. Aber immer mittendrin im Leben.

"Ein Masseur. Eine Köchin. Ein junges Paar aufs Maul." Das ist die Tagline von "Love Steaks", bei dem sich Clemens und Lara so lange aneinander reiben, bis es knallt. Dann geht der Film durch die Decke. Slapsticknummern reihen sich an wilde Auseinandersetzungen, ein Jump Cut an den nächsten. Und dann sind da noch die echten Laien, die realen Hotelmitarbeiterinnen im Luxushotel an der Ostsee, die für die nötige Prise Realismus sorgen. Das ist schon fast Mockumentary, zumindest aber quasidokumentarisches Arbeiten. Gedreht wird entsprechend oft stundenlang. Es entstehen Atmosphären und Stimmungen, die erst im Schnitt verdichtet werden. Wie das vor Ort am Set funktioniert, hat Nico Sommers Kameramann Eugen Gritschneder beschrieben, als er bei "Familienfieber" das Aussteigen des Protagonisten aus einem Auto drehen sollte: "Der Schauspieler steigt aus dem Auto aus. Zwanzig Minuten später ist der durch alle Zimmer gelaufen, ist heulend zusammengebrochen, schreiend in den Garten raus, und nach 26 Minuten war der Take zu Ende." Alles kann, nichts muss. Der "German Mumblecore" ist für alle Beteiligten unberechenbar. Das ist seine Stärke.

Urs Spörri