Matthias Dell: Schauspieler, die wie Laien aussehen

Neue Erzählformen
Quelle: missingFILMs, DIF
Ruth Bickelhaupt, Peter Trabner, Heiko Pinkowski in "Dicke Mädchen"

Um nicht nur in Abhängigkeit des fernsehsenderbedingten Fördersystems arbeiten zu müssen, hat sich eine Kultur von Low- bis No-Budget-Filmen ausgebildet – und erweitert die deutsche Filmlandschaft.

"Staub auf unseren Herzen" ist aus einem traurigen Grund zu einem Susanne-Lothar-Film geworden. Der Film kam im Januar 2013 in die Kinos – ein halbes Jahr nachdem Lothar im Alter von nur 51 Jahren verstorben war. Hanna Dooses Spielfilmdebüt gehört damit, unfreiwillig, zum Vermächtnis einer großen Schauspielerin.

Eigentlich ist "Staub auf unseren Herzen" aber ein Stephanie-Stremler-Film. Es spricht für die Souveränität von Susanne Lothar, sich auf eine Produktion einzulassen, in deren Zentrum sie nicht steht. Stephanie Stremler ist eine Schauspielerin mit besonderer Vorgeschichte: Sie gehörte zu den vier Absolventen der Ernst Busch-Hochschule, die der Dokumentarfilmer Andres Veiel für seine Langzeitbeobachtung "Die Spielwütigen" von 1997 bis 2003 begleitete.

Stremler war diejenige der vier, bei der man am ehesten fürchtete, sie scheitern zu sehen – so eigensinnig musste sie dem Betrachter erscheinen, dass man sie sich unmöglich als jemanden vorstellen konnte, der große, schwere Dramenfiguren verkörpert. "Eigentlich kann ich mich gar nicht verstellen", sagt Stremler denn auch in "Staub auf unseren Herzen". Dort spielt sie die 30-jährige Kathi, eine allein erziehende Mutter und prekär lebende Schauspielerin, die sich gegen die eigene Mutter – gespielt von Susanne Lothar – zur Wehr setzen muss, weil diese Fürsorge mit Bevormundung verwechselt.

Quelle: Movienet Film, DIF, © Markus Zucker
Susanne Lothar, Stephanie Stremler in "Staub auf unseren Herzen"

Sprechen wie Stephanie Stremler

Der Satz bezeichnet Stremlers Spiel so treffend wie die Form von Hanna Dooses Film. Stremler wird hier nicht in die Rolle einer jungen Frau gepresst, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Vielmehr ereignet sich die Emanzipation von der Mutter und die Selbstbehauptung zwischen den geschiedenen Eltern (als lange abwesender und nun aus Pragmatismus reumütiger Vater: Michael Kind) in jener inszenatorischen Offenheit, die Stremlers Spiel fordert: Immerfort scheint es, als wundere sich die Schauspielerin selbst über die Worte, die aus ihr herauskommen. Gleichzeitig braucht es einen gewissen Auslauf für ihre bockige, ungelenk wirkende Körperlichkeit.

Mit "improvisiert" ist ein Film wie "Staub auf unseren Herzen" nicht ausreichend beschrieben, weil das Assoziationen mit Spontaneität und Schlagfertigkeit weckt, um die es Hanna Doose nicht geht.

Der Film trifft nicht unvorbereitet auf Stephanie Stremler, sondern weiß, was er tut, wenn er sich auf sie einlässt. Beleg dafür ist auch die unkonventionelle Metapher im Filmtitel, der sich einem Lied verdankt, das Kathi gemeinsam mit Florian Loycke als Puppenspieler Fabian im Film performt und in dem die leicht umständliche Beziehung der beiden den wohl besten Ausdruck findet.

Hanna Dooses im positiven Sinne poröser Film ist kein Einzelfall. In den vergangenen Jahren haben junge deutsche Filmemacher vermehrt nach neuen Erzählformen gesucht, die bei Axel Ranisch ("Dicke Mädchen") oder Nico Sommer ("Silvi") auch finanzielle Gründe hatten. Um nicht nur in Abhängigkeit des fernsehsenderbedingten Fördersystems arbeiten zu müssen, hat sich eine Kultur von Low- bis No-Budget-Filmen ausgebildet, die ihren Reiz darin hat, aus der Armut der Mittel ästhetische Konsequenzen zu ziehen.

Quelle: Bildkraft, DIF, © Alexander duPrel
Lina Wendel in "Silvi"

Auskünfte wie Lina Wendel geben

"Berlin Mumblecore" ist dieses neue Feld genannt worden, als dessen Frontmann der umtriebige Axel Ranisch fungiert – nach einem Segment des amerikanischen Independent-Films, in dem die Tatsache, alles selbst machen zu müssen, einen eigenen Stil hervorgebracht hat. "Murmeln" wäre dabei die Gegenposition zum vollendeten sprachlichen Ausdruck der Darsteller, wobei in der scheinbaren sprachlichen Unzulänglichkeit immer auch die Grenzen zwischen Figur und Darsteller, Wirklichkeit und Inszenierung verwischt werden. Peter Trabner, Hauptdarsteller in "Dicke Mädchen", wäre das Gesicht dieser Ästhetik: ein Schauspieler, der wie ein Laie aussieht.

Bei "Silvi" verstärkt Regisseur Nico Sommer die Grenzverwischung zwischen "echt" und "erfunden" noch, indem er in die Geschichte einer 47-jährigen Frau, die von ihrem Mann für eine Jüngere verlassen wird und die sich daraufhin in sexuelle Abenteuer stürzt, interviewartige Auskünfte integriert. "Nach einer wahren Begebenheit" heißt es im Vorspann, was die dokumentarfilmhaften Szenen mit der Schauspielerin der Titelrolle, Lina Wendel, zu einem inszenatorischen Balanceakt machen: Es geht, anders als bei Reenactment der Zeitgeschichtsbebilderung, nicht ums Dokumentieren und Belegen von etwas, was so gewesen ist, sondern um einen unverstellten Zugang zur Wirklichkeit.


Matthias Dell ist Filmredakteur bei der Wochenzeitung "Der Freitag".

© Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion, August 2013