Hans Richter (Hg.): Das Kinojahrbuch 1919

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Quelle: Jeanpaul Goergen
Buchcover

Trotz seines sachlich klingenden Titels ist das "Kinojahrbuch 1919" dem Bereich der populären Filmliteratur zuzurechnen. Der Herausgeber Hans Richter (1889-1941) ist jedoch nicht mit dem avantgardistischen Filmemacher Hans Richter zu verwechseln. Richters zahlreiche, stets populär gehaltene Filmschriften erschienen zwischen 1918 und 1922 im Eigenverlag, dem Hans Hermann Richter Verlag in der Kurfürstenstraße 21/22 in Berlin. Seine wichtigste Arbeit zum Film ist die 1920 erschienene Abhandlung "Der Spielfilm. Ansätze zu einer Dramaturgie des Films". Vom "Kinojahrbuch" erschienen bis 1921 noch zwei weitere Ausgaben. Anschließend veröffentlichte Richter überwiegend Romane.

Der Umschlag sowie zahlreiche Textzeichnungen des "Kinojahrbuchs 1919" stammen von dem Münchner Zeichner H.O. Binder. In einem fein ziselierten, skizzenhaften Strich zeigen sie vor allem Szenen aus der besseren Gesellschaft, wie sie so oder ähnlich in den meisten Spielfilmen jener Jahre vorkamen. Das Jahrbuch enthält zudem zahlreiche Fotos vor allem von weiblichen Filmstars, darunter allein fünf Bilder von Fern Andra.

In dem auf Dezember 1918 datierten Vorwort schreibt Richter, das Jahrbuch sei als eine Art Fortsetzung seiner Textsammlung "Aufnahme! Filmgeschichten!" (1918) zu verstehen. Es solle "zu einer ständigen Einrichtung werden, um festzuhalten, was in dem betreffenden Jahre im Film geleistet worden ist" (S. 4). Richter bedankt sich bei seinen Lesern, die mitgeholfen hätten, das Buch zusammenzustellen. Tatsächlich sind einige Beiträge gar nicht, andere nur mit Kürzel gezeichnet. Allein der mit H.R. ausgewiesene Rückblick "Das Jahr 1918 im Film" kann eindeutig Hans Richter zugewiesen werden.

Richter erweist sich als genauer Beobachter des Filmgeschehens. Das Besondere der letzten Jahre sei die kriegsbedingte wirtschaftliche Isolation der deutschen Filmindustrie gewesen, die aber durch einen "ungeheuren" (S. 6) Inlandsbedarf an Filmen aufgewogen worden sei. Als neue Erscheinung notiert er das Aufkommen von Serien, die jeweils über den Namen ihres Stars – etwa als Henny-Porten-Serie – in den Handel kamen. Das Starwesen dominiere: "Jede Gesellschaft hat ihren Star und ihre Nebenstare, manche haben einen ganzen Sternenhimmel" (S. 10). Darunter habe allerdings die Besetzung der Nebenrollen sowie die Dramaturgie gelitten.

Der Detektivfilm sei 1918 etwas rückläufig gewesen; seine Geschichten hätten jetzt eine "humoristische Note" (S. 14) bekommen. Naturbilder und Industrieaufnahmen – also dokumentarische Filme – seinen in den Hintergrund getreten. "Das Abwenden von diesen Aufnahmen ist sehr zum Leidwesen der Pädagogen und der Leute geschehen, die in dem Film nicht nur ein Volksunterhaltungs-, sondern auch ein Volksbildungsmittel sehen möchten. [...] Die alte Anordnung des Spielplans der Theater, die in jeder Vorstellung eine Naturaufnahme brachte, ist leider fast ganz verschwunden" (S. 18). Auch die früher stets gern gesehene Wochen-Karikatur – in der Regel immer das letzte Sujet der Wochenschau – sei verschwunden, "die betreffenden Zeichner scheinen einzogen worden zu sein" (ebd.).

Manche Regisseure glaubten, sie können auf die Dienste eines Filmschriftstellers verzichten; dieser werde oft als unwichtig übersehen. Das Ergebnis sei eine "ungeheure Verflachung" (S. 20) der Inhalte. Richter kritisiert auch die Aufteilung von längeren Filmen in zwei Teile. Neu im Jahre 1918 war der sexuelle Aufklärungsfilm, der in der zweiten Hälfte des Jahres 1918 "zu bedeutender Blüte" (S. 22) gelangte. Seine Reklamebilder "könnte man fast unästhetisch nennen, und es ist wohl kaum eine Verbesserung der Moral davon zu erwarten, wenn man das Publikum mit solchen Dingen überfüttert" (ebd.). Der Sketch – damit ist die Bühnenschau gemeint – sei in den Hintergrund getreten, da die Kinos nicht den für Theater geltenden Sicherheitsvorschriften entsprächen. Als neue Erscheinungen notiert er die Filmoper sowie Filmoperetten.

Als größten Kassenerfolg des Jahres 1918 nennt Richter den dänischen Film "Das Himmelsschiff".  Einige Längen seien auf "Gesänge hinter der Bühne" (S. 23) zurückzuführen.

Nach der Novemberrevolution1918 seien die militärischen Aufklärungsfilme und die Werbefilme für die Kriegsanleihen aus den Kinos verschwunden, der Film sei demokratisch geworden: "In Flammen gehüllt schwang Henny Porten in verschiedenen Theatern in weißem Gewande die Fahne der jungen Republik" (S. 24). Durch den Wegfall der Zensur wurden mehrere hundert, zuvor verbotene Filme frei "und der Unternehmungsgeist der Regie sieht neues Land" (ebd.).

Abschließend kritisiert Richter einige Unarten des Films sowie Regiefehler: "Tote Menschen atmen nicht, auch Filmleichen sollten sich das verkneifen" (S. 26). Die Qualität der Kinomusik habe während des Krieges deutlich gelitten. In den Tageszeitungen finde noch keine "wirkliche Kritik" (S. 28) statt: "Eine sachgemäße Kritik, die auf den Inhalt des Films, auf die technische Ausführung, auf die künstlerischen Möglichkeiten eingeht, dürfte der Filmindustrie nur willkommen sein und sie in ihren Bestrebungen unterstützen" (S. 29).

Die weitern Beiträge sind ausgesprochen populär gehalten, etwa ein Bilderrätsel mit einer humoristischen Detektivgeschichte. Es folgen Publikumsstimmen zu Filmstars wie Max Landa, Hella Moja, Theodor Loos, Lotte Neumann und Ernst Reicher. In der Geschichte "Die Kinokönigin" (S. 48-54) macht sich Fritz Klotzsch über die Film-Tagträume eines jungen Mädchens lustig.

Im "Münchener Kinobrief" von G.W. heißt es, die in München hergestellten Filme könnten "niemals mit den Berliner Fabriken konkurrieren" (S. 54). Der Kinobesuch habe sich in letzter Zeit deutlich gesteigert, vor allem sonntags würden wenigstens bei den großen Kinos die Leute Schlange stehen. Das Publikum melde sich zudem lautstark zu Wort, "wenn die Films z.B. schlecht beleuchtet sind, oder sie flimmern, springen aus, es erscheint auf einmal ein Bild, das mit dem vorigen in gar keinem Zusammenhang steht" (S. 64). Auch kritisiert der Münchner Korrespondent, dass die Zwischentitel nicht lange genug stehen bleiben und moniert das übermäßige Schminken der Darsteller, die übertriebene Mimik in den Lustspielen sowie Regiefehler wie das Hinsehen des Schauspielers in die Kamera.

Unter "Jahresschluss" geht das Kinojahrbuch noch kurz auf den Film "Der Rattenfänger" (1918) von Paul Wegener ein; die von Lotte Reiniger als Scherenschnitt angefertigten Haupttitel hätten sich dem Film gut angepasst. Das Kapitel "Der Trick" (S. 75-77) erklärt, nicht immer korrekt, das Zustandekommen von Trickaufnahmen. Die den Detektivfilm persiflierende Kurzgeschichte "Ludwig Christian Lehmann, der Detektiv" (S. 77-106) dürfte aus der Feder von Hans Richter stammen. Es folgen kurze Texte über Filmkinder in den USA, Erlebnisse in einem Kleinstadtkino sowie ein Brief über Film-Kritik, die nach der Revolution aufblühenden Filmbälle, die Berechtigung von Kinoschulen sowie über ein bizarres Filmerlebnis an der Front.

Den Abschluss bildet eine Übersicht über "unterhaltende Literatur über den Film", die aber nur Bücher anführt, die über Richters Eigenverlag zu beziehen sind. Auf eine kurze und unvollständige Vorstellung der Filmzeitschriften folgt ein schmales Adressenverzeichnis von Filmfirmen und Darstellern. Ein Anzeigenteil rundet das "Kinojahrbuch 1919" ab.

(Jeanpaul Goergen, Juli 2019)

Hans Richter (Hg.): Das Kinojahrbuch 1919. Berlin: Hans Hermann Richter Verlag 1919, 175 Seiten
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