Jakob Hoffmann: Handbuch der Jugendkunde und Jugenderziehung (1919)
Dr. Jakob Hoffmann (1864-1922) wirkte als Priester, Gymnasialprofessor und Religionslehrer in München und war Mitherausgeber der "Monatsblätter für den katholischen Religionsunterricht an höheren Schulen". Sein "Handbuch der Jugendkunde und Jugenderziehung" von 1919 widmete er dem Erzbischof von München und Freising Michael von Faulhaber.
Hoffmanns "Handbuch der Jugendkunde und Jugenderziehung" ist eine völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage seines 1913 erschienenen Buchs über die "Erziehung der Jugend in den Entwicklungsjahren". Bis auf Aktualisierungen und einige Ergänzungen sind seine Ausführungen über den negativen Einfluss des Kinos auf Jugendliche identisch mit diesem Text von 1913. Neu sind vor allem Hinweise auf einige positive Seiten, die er nun dem Film abgewinnen kann. An seiner kulturkonservativen Einschätzung des Kinos hat sich aber nichts geändert. Die Argumentation der Kinoreformer der Vorkriegszeit hatte die Kriegsjahre unverändert überstanden; weder neue Argumente noch neue Erkenntnisse waren hinzugekommen.
Das "Handbuch der Jugendkunde und Jugenderziehung" beschäftigt sich vor allem mit Jugendlichen in der Pubertät und will wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Ratschlägen verbinden. Hoffmanns Überlegungen zur Behandlung des Kinos im Rahmen der Jugenderziehung beruhen auf "positiv christlichen, katholischen Grundsätzen" (S. VI).
Die Pubertät sei durch eine Unruhe und Spannung gekennzeichnet, die sich durch Körper und Geist ziehe und nach Auflösung strebten. Es sei Pflicht des Erziehers, den Heranwachsenden über diese schweren Jahre hinwegzuhelfen. Durchgängig sieht Hoffmann die Pubertät als eine gefährliche Entwicklungsstufe an, in der Jugendliche auch besonders empfänglich für die negativen Einflüsse des Kinos seien. Hier bedient er sich ausgiebig bei den von den Kinoreformern gelieferten Argumentationen.
Eine seiner Prinzipien lautet, die Jugend nie ganz untätig sein zu lassen. Die heranwachsende Jugend dürfe auch nicht in "sog. Amüsements, wie Varietés, Kinos, sowie im Besuch von Wirtshäusern" (S. 51) Erholung suchen, wie das leider vor allem in den Großstädten der Fall sei. Diese Vergnügungen würden die Jugendlichen derart belasten, dass sie ihnen die Arbeit erschwerten und sie bis in Schlaf und Traum verfolgten. Die jungen Menschen sollten sich stattdessen bei freien Beschäftigungen, Liebhabereien und Steckenpferden erholen; hier fänden sie Heiterkeit und wahre Freudigkeit, die sich heilsam auf den ganzen Menschen auswirkten.
Schlimme Folgen könne es auch haben, wenn im Rahmen der geschlechtlichen Erziehung die Lektüre, der Besuch von Theaterstücken, Bioskopen und Kinos sowie von Kunsterzeugnissen nicht kontrolliert werde.
Im Zusammenhang mit Straftaten von Jugendlichen weist Hoffmann auch auf den Einfluss der Kinos hin. Sie riefen "die Sucht hervor, ‚auch etwas zu erleben" (S. 220), was nicht selten zu kriminellen Handlungen führe.
In dem Kapitel "Lektüre. Besuch szenischer Darstellungen" beschäftigt sich Hoffmann ausführlicher mit den Folgen des Theater- und Kinobesuchs durch pubertierende Jugendliche. In den letzten Jahren sei die Zahl der Kinos in größeren und auch kleineren Städten rasant angestiegen. Ende 1918 habe es in Deutschland an die 2.300 Kinos gegeben. Auch wegen ihres hohen Umsatzes drohten sie zu einem "sozialen Unheil" (S. 339) zu werden. Vom Standpunkt des Jugenderziehers müsste die Kino-Frage daher sorgfältiger behandelt werden als der Theaterbesuch der Jugendlichen.
Hoffmann zufolge könne der Kinematograph aber auch "hohe Aufgaben" (ebd.) erfüllen. Seine "wirklichkeitsgetreue Darstellung von Vorgängen vergangener Zeiten und ferner Länder aus dem Natur- und Menschenleben" (S. 340) könne den Unterricht an Volksschulen und Universitäten beleben. Auch in der religiösen Erziehung könne das Kino wirkungsvoll eingesetzt werden, "indem es den Zuschauer herrliche Beispiele und Vorbilder aller Tugenden und religiöser Betätigung gleichsam miterleben lässt. [...] Wie eindrucksvoll können so z.B. die Legenden gestaltet werden, wie anschaulich kirchliche Festfeiern und andere Begebenheiten" (ebd.).
Die meisten Jugendlichen entwickelten eine starke Vorliebe für das Kino. Sie stellten nicht nur einen großen Teil seiner Besucher, sondern trügen auch wesentlich zu den Einnahmen der Lichtspielhäuser bei. Im Vergleich zum Theater fänden die Jugendlichen leichter Zugang zum Kino, da diese auch tagsüber spielten und die Eintrittspreise für sie erschwinglicher seien. Auch die Wirkung des Kinos auf die jugendliche Phantasie sei stärker als die des Theaters. Bereits das Kinomilieu fördere eine "tiefe Suggestivwirkung; der dunkle Raum, das einseitig summende Geräusch, die Aufdringlichkeit der Bilder ersticken die Kritik, und so wird der Inhalt des Films zur verhängnisvollen Suggestion für die willenlos hingegebene Psyche des Menschen, namentlich in dem leicht erregbaren Alter der Pubertät" (ebd.).
Hoffmann unterscheidet sodann zwischen den körperlichen und seelischen Schädigungen, die der Kinematograph verursache. Zu ersteren zählt er Müdigkeit und Abspannung nach längeren Filmvorführungen. Die Aufmerksamkeit und vor allem das Gemüt würden übermäßig angespannt. Vor allem gewöhne das Kino "an flüchtiges Sehen und Betrachten der Dinge; es verhindert klare Eindrücke und schädigt damit wieder den Wirklichkeitssinn. Die reichlichen, oft unzusammenhängenden Darbietungen fördern das Haschen nach immer Neuem, führen zu einer Halbheit in der Bildung und stören die Harmonie des Geistes" (S. 341). Bei heranwachsenden Mädchen rufe der Kinobesuch "eine gewisse Sentimentalität wach, die der Seele die Festigkeit raubt und sie in nebelhafte Ferne zieht" und wecke zudem Vorstellungen, die im Widerspruch zu "weiblicher Schüchternheit und Schamhaftigkeit" stünden (S. 342).
Größer seien die Gefahren, die sich aus dem Inhalt der Filme ergäben. "Sensations- und Verbrecherstücke" (S. 341) hätten unheilvollere Auswirkungen als die schlimmsten Groschenromane. "Sie müssen Menschen, die in ihrem Charakter nicht gefestigt sind, verrohen, entsittlichen und auf die Verbrecherbahn führen" (ebd.). Das seien erwiesene Tatsachen. Staatliche Zensurmaßnahmen sowie Kinderverbote würden leider wenig ändern, denn die Kinobesitzer hielten sich nur selten an diese Auflagen.
Abschließend fragt Hoffmann, wie Abhilfe zu schaffen sei. Er begrüßt behördliche Maßnahmen ebenso wie Empfehlungen, die Schule solle die Eltern vor den Gefahren warnen, die aus dem Besuch mancher Kinos erwachsen könnten. Diese Maßnahmen seien aber nur eine "äußere Abwehr" (S. 342); allein eine "richtige Gesamterziehung" (ebd.) könne diesen Gefahren wirksam begegnen. Hoffmann plädiert für eine ästhetische, vor allem aber für eine moralische Bildung der Jugend, d.h. Sparsamkeit beim Geldausgeben, eine "Veredelung der inneren Gesinnung" (S. 343) sowie eine Anleitung zur Selbstbeherrschung. Mit "weiser Mäßigung und vernünftiger Auswahl der Stücke" (ebd.) müsse aber auch dem Wunsch der Jugend Rechnung getragen werden, das Kino kennenzulernen: "Dann erscheinen diese Films überhaupt weniger begehrenswert; denn es ist ihnen der Reiz des Geheimnisvollen genommen" (ebd.).
Mit der Aufhebung der Zensur und der Regelungen zum Jugendverbot in Folge der Novemberrevolution habe sich die Kino-Gefahr "ungeheuer" (ebd.) erhöht. Um die Gefahren zu belegen, führt Hoffmann abschließend eine Zensurstatistik aus dem ersten Halbjahr 1918 an. Damals "wurden von der Berliner Zensur Films mit 498.366 m geprüft; davon wurden 3.768 gänzlich verboten, 424.677 m nur für Erwachsene zugelassen" (ebd.). Diese Filme, so der unausgesprochene Vorwurf, seien nun für Jedermann, also auch für Kinder und Jugendliche, frei zugänglich.
(Jeanpaul Goergen, April 2019)
Jakob Hoffmann: Handbuch der Jugendkunde und Jugenderziehung. Freiburg i. Br.: Herdersche Verlagshandlung 1919, 410 Seiten (= Völlig neu bearbeitete und stark erweiterte 4. Auflage von "Erziehung der Jugend in den Entwicklungsjahren")
dnb: http://d-nb.info/574791744