Deutschland, revisited II - Dokumentarfilm und andere Experimente

Quelle: GMfilms, DIF
"Losers and Winners" (2006)

von Birgit Glombitza, 2007

Sie sieht blass aus und zarter als sie ist, als sie zwischen den Bauleitern im Aufzug steht, um zur Mittagspause zu fahren. In der engen Liftkabine fällt kein Wort mehr, und die kleine Frau kann für einen Moment durchatmen und mit vernehmlichem Seufzer im Geiste einen Haken hinter die ein oder andere dringende Angelegenheit machen, bevor sie wieder im Vokabular der fremden Sprache nach Begriffen der Klärung, Schlichtung und Besänftigungen suchen muss. Denn die kleine chinesische Dolmetscherin in "Losers and Winners" ist die Schnittstelle zwischen dem verletzten Stolz und der Arbeitsdepression der westlichen Welt und der Abbruchseuphorie der chinesischen Baubrigade, die die Kokerei Kaiserstuhl in Dortmund Schraube für Schraube abträgt, um sie in China als modernsten Koks erzeugenden Betrieb auf dem asiatischen Kontinent wieder aufzubauen. Und wenn die Übersetzerin sich auf ihr Fahrrad setzt, um durch diese gigantische Anlagenlandschaft zu radeln, von einem Einsatzort zum nächsten, von dem (deutschen) Zustand trauriger Geschäftigkeit zum dem (chinesischen) einer siegesgewissen Geduld, von der Fremd- zur Muttersprache, verselbstständigt sich ihr Einsatz zu einer wunderbaren Metapher auf die Tätigkeit des Dokumentarfilms selbst. Eine unmöglich bleibende Vermittlungsarbeit auf drehenden Rädern. So wie die Kokerei irgendwo am anderen Ende der Welt wieder aufgebaut werden wird, so bildet der Dokumentarfilm die Realität nach. Die Wirklichkeit ist ihm kein fixes Ready-made, er lässt sie visuell noch einmal entstehen. Ein schöpferischer Akt, aber auch ein hoch kompliziertes Versprechen. Denn das Dokumentarische trifft beim Publikum auf eine unbändige Sehnsucht nach dechiffrierter Wirklichkeit, nach Wahrheit. Und manchmal, vor allem wenn es um drohende Katastrophen, um die Effekte von Globalisierung und Klimaveränderungen geht, sogar nach Vorhersehung.

 

Fremde Heimat

Quelle: Majestic, DIF, © Majestic Film Verleih
"Der große Ausverkauf" (2006)

"Vielleicht ist das Dokumentarische nichts als das Exil der Realität, ihre fremde Heimat", schreibt der Autor und Filmemacher Hartmut Bitomsky in "Kinowahrheit" (2003). "Worauf ich hier hinaus will, ist, dass das Dokumentarische ein kritisches Genre ist wegen seines Gegenstandes. Es ist der Ausdruck einer Krise, weil das, was man als Realität bezeichnet, selber schon ein Gegenstand in der Krise ist. Das Reale ist immer im Begriff der Auflösung, des Auseinanderbrechens und Umbrechens und Durchbrechens, Entfaltens, der Veränderung, des Entgleitens und des Übergangs. Der Begriff Realität selbst betrifft schon einen Gegenstand in seiner Krise." Das deutsche Publikum jedenfalls interessiert sich für diese "fremde Heimat" und die chronischen Krisen des Wirklichen wie schon lange nicht mehr. Und wenn man auf Kopienschnitt und Besucherzahlen, auf die Programmgestaltung deutscher Festivals und auf Jury- und Publikumspreisvergaben schaut, muss man wohl von einer neuen Blütezeit des jungen dokumentarischen Films in Deutschland sprechen. Denn nicht selten sind es eindrucksvolle Debüts, wie "Prinzessinnenbad" oder "Full Metal Village", die von sich reden machen und gleich mehrere Preise abräumen. In der aktuellen kleinen Flut deutschsprachiger dokumentarischer Filme lassen sich ganz unterschiedliche Strömungen und Erzähltraditionen ausmachen, die in ihrer Pluralität die Vielfalt des Genres samt seiner schon erkenntnistheoretischen Probleme mit der Welt in Bild und Ton spiegeln. Da gibt es die Abkehr vom bloß Privaten, die Wiederentdeckung politischer Aufklärung und Erwachsenenbildung im besten Sinne, die, sicher auch befeuert von den internationalen Erfolgen eines Michael Moore, wieder ein Publikum findet. Dazu gehören Filme, die von den verheerenden Ausbeutungseffekten der Globalisierung ("Darwins Alptraum") und Privatisierung ("Der große Ausverkauf") erzählen. Filme, die uns auf die Teller und Lebensgewohnheiten schauen ("Unser täglich Brot"). Manche entdecken, wie zuvor auch das Kino des Michael Moore, die Methoden des Direct Cinema wieder, die sich aus der Logistik des dokumentarischen Kriegsfilms herleiteten. Die Kamera wippt im schnellen Verfolgerschritt mit, bleibt dran und taucht am besten in der Drehsituation ganz unter. Es gibt keine Kadrierungen mehr, keine vorgedachten Schnitte. Nur die Ereignisse selbst, die den Film dirigieren. Eine Methode, die bezeichnenderweise von der Handkamera der Dogma-Filme bis zu "Muxmäuschenstill", "Knallhart" und "Der freie Wille" auch in vielen, vielen anderen um Nähe und Authentizität ringenden Spielfilmen gerade auch aus Deutschland auszumachen ist.

Wechselwirkungen

Quelle: Flying Moon Filmproduktion, DIF, © Flying Moon Filmproduktion / Marc Gensel
"Full Metal Village" (2006)

Auf der anderen Seite des ästhetischen Spektrums mag eine Strömung stehen, für die das pure Zusehen, die Reflektion, das Erinnern ein wesentlicher Teil der Filmproduktion ist. Eine Strömung, die sich sicher auch in der Tradition dessen sieht, was Kritik und Filmgeschichte in den 70er Jahren die "Zweite Produktion" genannt haben. Damals, als Theorie und Praxis in so enger Nachbarschaft laborier ten wie nie zuvor und danach. Es ist die Zeit von Peter Nestler, Jean-Marie Straub, Danièle Huillet und Rudolf Thome. Auch Harun Farocki hat in diesen Jahren begonnen. Dass er an den Drehbüchern von Christian Petzold mitarbeitet, mag die erste, die offensichtlichste Verbindung zur "Berliner Schule" sein. Aber auch in der kontemplativ abwartenden Grundhaltung der Filme von Thomas Arslan und Angela Schanelec, die sich zwischen Erzählen und Beobachten ganz bewusst gar nicht entscheiden wollen, mag man eine ästhetische Nähe finden. Anders als der hiesige Spielfilm – der sich erst Ende der 90er Jahre seinen Dornröschenschlaf aus den Augen reibt und auf ein wiedervereinigtes und seltsam verwunschenes Land schaut, der erst in den letzten Jahren in die Spinde von Fabrikarbeiterinnen und Putzfrauen guckt, die Rituale von Bewerbungsgesprächen studiert und den Arbeitslosen als neuen Helden entdeckt – hat der Dokumentarfilm die bundesrepublikanische Wirklichkeit nie aus den Augen gelassen. Fehlende und praktizierte Arbeit sind sein selbstverständliches Sujet. Industrielle Produktion, die Fabrik gehören seit jeher zu den zentralen Topoi der Dokumentarfilmgeschichte, die Arbeitsabläufe waren Teil der filmästhetischen Struktur, haben sie, wenn man so will, vorgestanzt.

Postindustrielle Demontagen

Quelle: Kinemathek Hamburg e.V.
"Nicht ohne Risiko" (2004)
 

Umso spannender wird es daher, wenn der Übergang zur postindustriellen Gesellschaft auch die Bedingungen verändert, unter denen die Bilder von Arbeit entstehen. Wie man es zum Beispiel bei den Demontagen in "Losers and Winners" (2006) von Ulrike Franke und Michael Loeken beobachten kann, einem Film, der mit seiner Ent- Maschinisierung von der Verwandlung der Restbelegschaft in eine postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft erzählt. Ein Prozess, der im wortwörtlichen Sinne einer der Entstofflichung ist. Maschinen verschwinden, Arbeit wird lediglich verwaltet. Einer, der die sich verändernde Arbeitsgesellschaft stets mit durchaus ethnologischem Interesse verfolgt hat, ist Harun Farocki. Bereits 1987 hockt er sich mit seiner Kamera in ein Manager-Seminar und studiert völlig wertfrei den Verhaltenskodex der Teilnehmer ("Die Schulung"). In einer Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, konstruieren Schulungen wie diese mit ihren Simulationen die Stress und Bewährungsproben, die der Wirklichkeit der Seminaristen abhanden zu kommen scheint. In "Nicht ohne Risiko" (2004) legt Farocki nun die Codes des neoliberalen Kreditgeschäfts auf den Objektträger seiner sachlichen Kamera.

Gescannter Leerlauf

Quelle: Kinemathek Hamburg e.V.
"Kopfende Haßloch" (2005/2006)
 

Arbeit wird zur Inszenierung ihrer selbst. Oder verschwindet ganz. Was bleibt, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, ist der Konsum. Wie sich das Verhalten des Konsumenten konditionieren und die Sehnsucht nach Objekten lenken lässt, kann man in dem erstaunlichen Debüt "Kopfende Hassloch" (2006) beobachten. Der Film des Regieduos Jürgen Brügger und Jörg Haaßengier gibt einen Ort zur Besichtigung frei, dessen Konsumverhalten seit 18 Jahren dem so genannten "Behavior-Scan" der Gesellschaft für Konsumforschung unterzogen wird. Wie sehr sich, quasi am anderen Ende der Nahrungskette, die Kapitalflüsse in der deutschen Nachkriegswirtschaft ihrer Vermittelbarkeit entziehen, zeigt auf eigenwillige und kunstvolle Weise Gerhard Friedls "Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?" (2004). In hypnotischen Kamerafahrten entwirft der Film seinen eigenen assoziativen Raum, in dem Zusammenhänge bloß noch behaupten werden können und die dokumentarische Mitteilung schließlich selbst in die Krise gerät. Zu den Regisseuren, die innere und äußere Systemwechsel, die vertrackten Wechselwirkungen von Arbeit und Identität und den unsicheren Selbstwert des Erwerbslosen am hartnäckigsten verfolgt haben, gehört sicher der ehemalige DEFA-Dokumentarist Gerd Kroske. In den Langzeitbeobachtungen seiner "Kehraus"-Trilogie begleitet er seine Protagonisten, die anfänglich noch als Kehrer bei der Straßenreinigung in Leipzig angestellt sind, bei ihrer unsanften Ankunft im vereinigten Deutschland. Die Trilogie erzählt von häuslicher Gewalt, Alkoholismus und von einem leerlaufenden Alltag, in dem sich die Protagonisten langsam aufzulösen scheinen.

Körperschaften

Quelle: Timebandits, DIF, © ETF-Günther Götz
"Flammend" Herz" (2003/2004)

Die Erwerbstätigkeit verschwindet und mit ihr verschwinden ihre Zusammenhang stiftenden Effekte. In einer Gesellschaft, in der immer mehr wesentliche Reproduktionsprozesse unsichtbar werden, wächst der Wunsch nach sinnlicher Erfahrung, nach Körperlichkeit. Vielleicht lassen sich auch deswegen mit großer Regelmäßigkeit Dokumentarfilme ausmachen, die um den Körper kreisen – auch um seine kunsthandwerkliche Überhöhung wie in der Hommage an die Tätowierkunst "Flammend" Herz" (2004) von Andrea Schuler und Oliver Ruts. Die alltägliche Zermürbungsarbeit, sich an den Alltag, seine sturen Ökonomien und festgelegten Verhaltensstandards anzupassen, schildert "Doch" (2006) von Erwin Michelberger und Oleg Tcherny. Sechs Menschen, die am so genannten Tourette-Syndrom leiden, treten hier vor die Kamera. Immer wieder, manchmal fast rhythmisch, beschreiben sie ihre Sehnsucht, unsichtbar zu werden – unterbrochen von ihren Tics, die von spastischen Zuckungen bis zum Brüllen "unflätiger" Wörter reichen können. Eine schwierige Identitätssuche in einem dysfunktionalen Körper, dem gesellschaftliche Regelbrüche einfach nicht auszutreiben sind.

Me, myself and I

Quelle: Kinemathek Hamburg e.V.
"Prinzessinnenbad (2006/2007)"
 

So wie Coming-of-age-Geschichten zum Repertoire des Spielfilms zählen, beschäftigt das Drama der Jugend auch den Dokumentarfilm. In "Prinzessinnenbad" (2007) begleitet Bettina Blümner drei Kreuzberger Mädchen durch einen richtungslosen Alltag. Die Zeit, in der die Identität noch launisch zwischen den Angeboten hin und her springt, narzisstische Trips und virtuoser Weltschmerz zum Programm gehören, bleibt ein Faszinosum. Thomas Heise hat den jugendlichen Eskapismus und die Suche nach einer Lebenslinie auf ästhetisch besonders radikale Weise ins Bild gesetzt. In seinem Film "Im Glück (Neger)" (2006) fordert er seine jungen Protagonisten auf, Lebensentwürfe zu formulieren. Doch ihre Sprache bleibt fragmentarisch, genau wie die Bildmontage. Da will nichts ganz, kohärent und schlüssig werden. Poröses Leben in einem Film, der sich weigert zu glätten, Sinn und Zusammenhänge zu stiften. Und so entpuppt sich Heises kompromissloses Porträt einer haltlosen Gegenwart zunehmend als subtile Infragestellung der eigenen Dokumentaristentätigkeit. Ein anderer reflexiver Dokumentarfilm, der zudem listig die Hassliebe des Genres zum Fernsehen beleuchtet, ohne das der dokumentarische Autorenfilm kaum existieren könnte, ist Calle Overwegs "Das Problem ist meine Frau" (2003). Overweg formt seinen filmkünstlerischen Gegenentwurf spannenderweise mit den Mitteln der TV-Ästhetik und hintergeht dabei dennoch die üblichen Seh- und Produktionsgewohnheiten. Sein Sujet könnte aus den nachmittäglichen Talkshows stammen: Männer, die ihre Frauen schlagen. Doch die Täter sind Schauspieler, die Sitzungen mit ihren psychologisch geschulten Betreuern nachgestellt. Wir sehen Scheinwerfer, Kameras und manchmal hockt der Regisseur mit im Bild. Das epische Konzept des Films stellt den Herstellungsprozess aus, um das Dargestellte selbst zu entzaubern. Einerseits. Andererseits will der Film genau jene zweite Kamera vergessen machen, die wiederum dieses Regie-Szenario für den Zuschauer enthüllt. Ein Trugbild, das sich immer wieder selbst an den Rändern aufribbelt.

Heimatfilm

Quelle: Gordian Maugg
"Zeppelin!" (2005)
 

Inszenierte Wirklichkeiten, erfundene Historie. Experimentierfreudige Dokumentarfilme kennen da keine Grenzen. Wie erfinderisch sich mit der Geschichte und ihrem Bildmaterial umgehen lässt, führen die Filme von Gordian Maugg vor. In "Hans Warns – Mein 20. Jahrhundert" (2000) und "Zeppelin!" (2005) wird das Kino zur Zeitmaschine. Archivmaterial, Nachgespieltes und biografische Fundstücke verschränkt Maugg miteinander, bis eine durchgängige narrative Oberfläche entsteht. Bis das Private nicht mehr vom Allgemeinen zu trennen ist. Dem Eigenen im Fremden spürt Sung-Hyung Chos "Full Metal Village" nach, das charmante und kluge Porträt eines norddeutschen Dorfs, das alljährlich von 40.000 Heavy-Metal-Fans heimgesucht wird. Seit 17 Jahren lebt die Koreanerin in Deutschland. Den Blick einer Fremden hat sie in ihrem Dokumentarfilm keinesfalls abgestreift, eher kultiviert. Mit ethnologischer Neugier erforscht sie, wie das Fremde in eine kleine abgeschlossene Welt vorrückt und langsam aber sicher zum Teil eines sich verändernden Selbstverständnisses wird. Das verbindet das Dorf Wacken, zu dessen Identität das Open-Air-Festival inzwischen gehört, mit der Forschungsreisenden Cho und ihrem Leben in zwei Kulturen. Und es macht aus "Full Metal Village", der bislang als einziger Dokumentarfilm den Max-Ophüls-Preis erhielt, so etwas wie einen Heimatfilm.

Fremde Heimat – Deutschland, revisited II

Hatten Christian Buß, der vor drei Jahren den ersten Teil von "Deutschland, revisited" maßgeblich vorangetrieben hatte, und ich es in unserer damaligen Spielfilmauswahl mit einem Kino zu tun, das im europäischen Ausland bejubelt wurde, im eigenen Land aber unentdeckt geblieben war, schaut der zweite Teil der Reihe auf die Aufbruchstimmung, aber auch auf eine beachtliche Kontinuität in der Parallelwelt des Dokumentarfilms. Mit einem Blick, der von den Rändern dokumentarischer Weltschöpfungen kommt. Einer, der von den Hintergründen des Genres zu unterschiedlichen Stilbildungen und ästhetischen Experimenten bis zu den Überraschungserfolgen in Saarbrücken und auf der Berlinale schweift. "Deutschland, revisited II" möchte den Fahrtwind der gefeierten Filme also nutzen, um mit den hier versammelten 22 Arbeiten einen kleinen, aber repräsentativen Teil der vielfältigen, konsequenten Arbeit an einer Welt im Bild vorzustellen und um zu weiteren Entdeckungen in der "fremden Heimat" zu animieren.

Quelle: Birgit Glombitza: "Deutschland, revisited II". (Katalog zur gleichnamigen Filmreihe im Kommunalen Kino Metropolis September 2007). Hamburg: Kinemathek Hamburg e.V., 2007.