Heute wird im DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum die Ausstellung "Neue Stimmen" eröffnet, die dem deutschen Kino seit der Jahrtausendwende gewidmet ist und bis 23. Februar 2025 läuft.
Die öffentliche Eröffnungsfeier der Ausstellung beginnt am heutigen Abend nach einem Festakt mit geladenen Gästen um 20:30 Uhr mit Schauspieler Adam Bousdoukos ("Soul Kitchen", DE 2009, R: Fatih Akın) am DJ-Pult.
Ein Ex-Häftling wird Lehrer an einem Gymnasium, eine junge Frau begibt sich in einem Dokumentarfilm auf die Spuren ihrer Mutter, die einst im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis einsaß, die kleine Tochter einer völlig überforderten Alleinerziehenden sprengt als Erziehungsverweigerin das soziale System. Anhand einer Filmauswahl, die von "Keinohrhasen" (DE 2007, R: Til Schweiger) und "Fack Ju Göhte" (DE 2013, R: Bora Dagtekin) über "Toni Erdmann" (DE/AU 2016, R: Maren Ade), "Systemsprenger" (DE 2019, R: Nora Fingscheidt) und "Born in Evin" (DE/AU 2019, R: Maryam Zaree) bis "Futur Drei" (DE 2020, R: Faraz Shariat) und "Ladybitch" (DE 2022, R: Paula Knüpling/Marina Prados) reicht, zeigt die neue Ausstellung des DFF, "Neue Stimmen. Deutsches Kino seit 2000" (19. Juni 2024 bis 23. Februar 2025), die ästhetische und inhaltliche Vielfalt im deutschen Filmschaffen der vergangenen zwei Jahrzehnte. Dabei wird deutlich, dass Filmschaffende heute ein anderes Bild zeichnen vom Leben und der Kultur in Deutschland als noch im ausgehenden 20. Jahrhundert. Sie erzählen Geschichten, die von Erfahrungen in Einwanderungsfamilien in zweiter oder dritter Generation geprägt sind, von Fragen der Identität, sie beschäftigen sich mit queerfeministischen Themen und zeigen Menschen abseits der Mehrheitsgesellschaft. Sie spielen kunstvoll mit Genrekonventionen und Erwartungen und machen Lust auf Kino made in Germany.
Die Terrorangriffe von 9/11, Bankenkrise, Klimawandel, Globalisierungsfolgen, Turbokapitalismus, sexueller Missbrauch, #MeToo, Genderdiskurs: Die Krisen und Themen, die die öffentliche Debatte in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts geprägt haben, schlagen sich selbstverständlich auch im deutschen Kino nieder. Es sind die "Neuen Stimmen" der jüngeren Generation Filmschaffender, die sich hier bemerkbar machen und in Filmhandlungen gießen, was sie und ihre Zeitgenoss*innen bewegt.
Die Ausstellung "Neue Stimmen. Deutsches Kino seit 2000" nähert sich diesem Filmschaffen anhand von fünf Themeninseln: Sie schaut darauf, welche Filme an der Kinokasse, welche Filme auf Festivals erfolgreich waren, sie wirft einen Blick auf den Nachwuchs an den Filmhochschulen, untersucht, welche Filme von Kritiker*innen hervorgehoben oder mit Preisen ausgezeichnet wurden und welche Werke im Ausland reüssieren. Darüber hinaus nimmt die Ausstellung fünf "Tendenzen" im jüngeren deutschen Film genauer unter die Lupe: "Deutsch-Türkisches Kino" – etwa "Gegen die Wand" (DE/TR 2004, R: Fatih Akın) – die innovativen, improvisierten und meist ohne hohe Förderung produzierten Filme, die als "German Mumblecore" etikettiert werden, den Neuen Deutschen Genrefilm (etwa "Der Nachtmahr", DE 2015, R: Achim Bornhak "AKIZ"), die "Berliner Schule" – von "Die innere Sicherheit" (DE 2000, R: Christian Petzold) bis "Unter dir die Stadt" (DE 2010, R: Christoph Hochhäusler) – sowie "Culture-Clash-Komödien" (von "Almanya – Willkommen in Deutschland", DE 2011, R: Yasemin Şamdereli, bis "Türkisch für Anfänger", DE 2012, R: Bora Dagtekin). Im Zentrum der Ausstellung erwartet die Besucher*innen eine Installation mit vier Monitoren, auf denen Interviews mit 18 zeitgenössischen Filmschaffenden verschiedener Gewerke zu hören und sehen sind. Insgesamt sind rund 200 Exponate von knapp 40 Leihgeber*innen in der Ausstellung zu sehen, darunter Requisiten, Kostüme, Drehbücher, Storyboards, Filmpreise, Plakate, Manifeste, Fotos oder Filmausschnitte.
Themeninseln:
Markt, Publikum und Kinokasse
Wirtschaftlich erfolgreiche Filme wie "Good Bye, Lenin!" (DE 2003, R: Wolfgang Becker), "Soul Kitchen" (DE 2009, R: Fatih Akın), "Keinohrhasen", "Fack Ju Göhte" oder "Das Wunder von Bern" (DE 2003, R: Sönke Wortmann) prägen das Bild des deutschen Kinos. Anhand von Exponaten wie den Original-Fußballschuhen aus "Das Wunder von Bern", dem Schriftzug des "Soul-Kitchen"-Lokals, dem Plüsch-"Keinohrhasen" oder der Rakete aus "Good Bye, Lenin!" stellt dieser Ausstellungsteil jene unterhaltsamen Werke vor, die sich durch hohe Budgets sowie technische und handwerkliche Qualität auszeichnen und von einem Millionenpublikum gesehen werden.
Freiraum, Nischen und Filmfestivals
Auf Filmfestivals tritt in den vergangenen Jahren das künstlerisch ambitionierte deutsche Kino mit Filmen wie "Ich will mich nicht künstlich aufregen" (DE 2014, R: Max Linz), "Full Metal Village" (DE 2006, R: Sung-Hyung Cho oder "Der Nachtmahr" hervor. Für viele Filmschaffende eröffnet sich hier abseits der Zwänge der Kinokasse die Möglichkeit, eine breitere Palette von Genres und Lebenserfahrungen zu präsentieren, und gar nicht so selten sind sie nach erfolgreichen Festival-Premieren im Nachgang auch in Programmkinos zu sehen. Anhand von Steckbriefen und ausgewählten Katalogen werden hier auch einige Filmfestivals selbst betrachtet.
Zu entdecken sind hier unter anderem die Skulptur des "Nachtmahr" von Achim Bornhak, ein beeindruckendes Headpiece mit Federn, Kostüm der Figur Lulu aus dem Film "Ladybitch", das eine zentrale Rolle in dem antipatriarchalischen Werk einnimmt, und eine Original-Filmdose mit dem analogen 35mm-Material des Dokumentarfilms "Full Metal Village" über das Heavy-Metal-Festival Wacken.
Filmhochschulen, Filmförderung und Filmnachwuchs
Die Ausstellungsmacherinnen sehen den Filmnachwuchs als entscheidenden Motor für Innovation und Kreativität in der Filmindustrie. An Filmhochschulen und -akademien können sich junge Filmschaffende unter Nutzung der bereitgestellten Ressourcen und Equipments in ersten Lang- und Kurzfilmprojekten erproben. Aufgefallen sind hier in den vergangenen Jahren Filme wie "Oh Boy" (DE 2012, R: Jan-Ole Gerster), "Dicke Mädchen" (DE 2011, R: Axel Ranisch), "The Ordinaries" (DE 2022, R: Sophie Linnenbaum) oder "Sadakat", für den Regisseur İlker Çatak 2015 mit dem Student Academy Award ausgezeichnet wurde. Genauso werden Filme wie "Mein Ende. Dein Anfang" (DE 2019, R: Mariko Minoguchi) betrachtet, der als Erstlingswerk unabhängig von einer Filmhochschule entstand. Vor- und Nachteile des deutschen Filmfördersystems sind ein weiterer Gegenstand in diesem Ausstellungsteil, in dem sich unter anderem der Student Academy Award von İlker Çatak finden sowie ein fünfseitiger Brief von Tom Schilling an Regisseur Jan-Ole Gerster, in dem er beschreibt, wie gerne er in "Oh Boy" mitspielen würde.
Kritik und Renommee
Filme wie "Futur Drei", "En Garde" (DE 2004, R: Ayşe Polat), "Gegen die Wand", "Victoria" (DE 2015, R: Sebastian Schipper) oder "Systemsprenger" sind nur einige Beispiele für Filme, die Aufmerksamkeit durch Filmpreise erzielten oder bei der Filmkritik besonders gut ankamen. Die Ausstellung schaut auf erfolgreiche Werke beim Deutschen Filmpreis, beim Hessischen Filmpreis oder der Berlinale sowie auf Filme, die von den Kritiker*innen gefeiert wurden. Diese ausgezeichneten oder im Feuilleton gelobten Werke, oftmals Filme von hoher künstlerischer Qualität, bieten eine nuancenreiche Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen, eine besondere Erzählweise oder Ästhetik.
Zu sehen sind hier etwa der Goldene Bär von Fatih Akın für "Gegen die Wand", der Teddy-Award von Faraz Shariat für "Futur Drei" und die Lola (Deutscher Filmpreis) von Andreas Dresen für "Wolke 9" (DE 2008). Zu den Highlights gehört eine Reihe von Kostümen: etwa die pinkfarbene Jacke und das Stofftier der Figur Benni aus "Systemsprenger" sowie das Brautkleid und der Anzug des Bräutigams aus "Gegen die Wand".
Deutscher Film international
Oscars® von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences und Publikumsbegeisterung in Cannes: Der deutsche Film erlebt seit den frühen 2000er Jahren eine bemerkenswerte Rückkehr auf die globale Bühne, nachdem er in den 1990er Jahren international an Bedeutung verloren hatte. Während "Nirgendwo in Afrika" (DE 2001, R: Caroline Link), "Das Leben der Anderen" (DE 2006, R: Florian Henckel von Donnersmarck) oder "Im Westen nichts Neues" (DE/US/GB 2022, R: Edward Berger) seit der Jahrtausendwende den Oscar® für den Besten Fremdsprachigen Film bzw. den Besten Internationalen Film (wie die Kategorie seit 2020 heißt) erhielten, machte "Toni Erdmann" in Cannes Furore und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Aber auch ganze Strömungen wie die "Berliner Schule", fanden seit den 2000ern international hohe Anerkennung. Davon zeugen neben weiteren Objekten die Original-Oscars® für "Im Westen nichts Neues", das von Caroline Link benutzte Drehbuch zu "Nirgendwo in Afrika" sowie das Kleid, aus dem Sandra Hüller sich in einer ikonischen Szene in "Toni Erdmann" befreit.
Neue Stimmen
Aber wer sind denn nun die "Neuen Stimmen" im deutschen Filmschaffen? Im Zentrum der Ausstellung kommen insgesamt 18 Regisseur*innen, Kameraleute, Maskenbildner*innen, Schauspieler*innen, Produzent*innen oder Autor*innen zu Wort und teilen in Interviews mit, welche Perspektiven sie auf den deutschen Film seit 2000 haben. Im Gespräch mit dem Berliner Filmemacher und Podcaster Yugen Yah gewähren sie Einblicke in ihre Arbeitsweisen und Berufsbilder. Solcherart inspiriert, können Besucher*innen in diesem Raum Kommentare hinterlassen, Statements setzen oder Fragen stellen und damit die Zukunft des deutschen Films mitdiskutieren.
Die 18 Filmschaffenden:
Paulina Lorenz, Produktion; Sara Fazilat, Produktion, Schauspiel; Sabeth Kelwing Jimenez, Maskenbild; Ulé Barcelos, Kostümbild; Sabrina Naumann-Reichow, Dialog Editing; Dieu Hao Do, Regie, Drehbuch; Divina Kuan, Produktion, Regieassistenz; Carlotta Kittel, Editing; Jakob Weydemann, Produktion; Alison Kuhn, Regie, Drehbuch, Schauspiel; Adolfo Kolmerer, Regie; Katharina Bergfeld, Dokumentarfilmproduktion; Martin Behnke, Drehbuch; Dela Dabulamanzi, Schauspiel; Anna Luise Kiss, Direktorin der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Schauspiel; Leonard Grobien, Regie, Drehbuch, Schauspiel; Jan Kampmann, Schauspiel, Journalist; Birgit Gudjonsdottir, Kamera.
Mehr als 3000 deutsche Filme sind seit 2000 hierzulande in die Kinos gekommen. Rund 50 davon werden in der Ausstellung in Ausschnitten oder anhand von Exponaten zu sehen sein. Die gewaltige Gesamtheit an Filmen wird durch einen Bildschirm sinnlich erfahrbar, auf dem alle 3000 Titel in einem endlosen Abspann laufen – ein visuelles Erlebnis, das die Vielfalt und Fülle der deutschen Filmproduktion greifbar macht.
Parallel zur Ausstellung gibt es eine Filmreihe im Kino des DFF, die im Juni mit "Futur Drei" und "Bis ans Ende der Nacht" (DE 2023, R: Christoph Hochhäusler) beginnt und sich im Juli mit einer Auswahl der von der Kritik gelobten und auf Festivals erfolgreichen Filme – von "Requiem" (DE 2006, R: Hans-Christian Schmid) über "Yella" (DE 2007, R: Christian Petzold) und "Victoria" (DE 2015, R: Sebastian Schipper) bis "Das Lehrerzimmer" (DE 2023, R: Ilker Çatak) – fortsetzt. Außerdem ist ein Begleitprogramm mit Werkstattgesprächen, Panels, Vorträgen und Workshops in Kooperation mit dem Lichter Filmfest, Hessenfilm und Medien sowie der Hessischen Film- und Medienakademie geplant.
Quelle: www.dff.film