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"Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt im Lehrerzimmer", sagt Carla Nowak in einem Interview mit der Schülerzeitung. Auch wenn das für die Lehrerin zu diesem Zeitpunkt schon nur noch reine Wunschvorstellung ist. Es ist ihre erste Stelle, engagiert unterrichtet sie Mathematik und Sport in der siebten Klasse. Es läuft gut, sie kann die Heranwachsenden motivieren. Als es in der Schule zu einer Reihe von Diebstählen kommt und bald einer ihrer Schüler verdächtigt wird, ist Carla empört und beschließt, der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Doch der Fall lässt sich nicht so einfach lösen und zieht Kreise. Im Kollegium ist Carla schnell als idealistisch verschrien, empörten Eltern muss sie Rede und Antwort stehen und zwischen streitenden Schüler*innen vermitteln. Je mehr sie sich bemüht, alles richtig zu machen, desto mehr gerät nicht nur sie selbst an ihre Grenzen. Das System Schule gerät aus dem Gleichgewicht.
İlker Çatak entgeht in seinem exzellent beobachteten Film nichts. Schonungslos inszeniert er die Schule als Mikrokosmos, in dem es kein Außerhalb mehr gibt und nichts privat bleibt. Das Lehrerzimmer ist eine Studie über Machtverhältnisse und darüber, wie Einzelne zwischen verhärteten Fronten aufgerieben werden.
Quelle: 73. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Als bei einer offiziell freiwilligen Taschenkontrolle in Carla Nowaks siebter Klasse Ali Yilmaz verdächtigt wird, nur weil sich in seinem Portemonnaie auffallend viel Geld befindet, werden seine Eltern in die Schule zitiert. Das mit dem Geld klärt sich auf, außerdem gibt Alis Vater zu Protokoll: „Mein Sohn klaut nicht. Denn wenn er klaut, breche ich ihm die Beine.“
Nachdem sich Carla Nowak und die Vertrauenslehrer Thomas Liebenwerda und Milosz Dudek mit den beiden Klassensprechern der Siebten, Jenny (Antonia Luise Krämer) und Lucas, getroffen haben, ist keine Lösung in Sicht. Sodass Erstere beschließt, mit ihrem Laptop im Lehrerzimmer eine Fotofalle zu installieren.
Ausgerechnet Friederike Kuhn aus dem Sekretariat, die Mutter ihres aufgeweckten Lieblingsschülers Oskar, tappt in diese. Wobei ihr Gesicht nicht zu erkennen ist, aber ihre auffallend gemusterte Bluse. Sie streitet die Tat vehement ab, auch nach der unmittelbaren Konfrontation mit den Videobildern im Rektorat.
Das Lehrerkollegium ist gespalten. In Hardliner wie Dr. Bettina Böhm und Thomas Liebenwerda, in mobbende Opportunisten wie Vanessa König, die sich ganz selbstverständlich aus der Kaffeekasse des Lehrerzimmers bedient, und in Wohlmeinende wie Milosz Dudek, welcher der ebenfalls polnischstämmigen Carla zunächst den Rücken stärkt, um dann vor dem ersten Gegenwind einzuknicken. Allein Lore Semnik steht auf der Seite der zunehmend verunsicherten Junglehrerin.
Die nicht nur von der Null-Toleranz-Schulleiterin zurechtgewiesen wird, ihre heimlichen Aufnahmen verletzten Persönlichkeitsrechte, sondern sich auch empörten Eltern und rechthaberischen Kollegen erklären muss. Als sich Carla in schon schmerzhafter Naivität von gewieften Schülerzeitungs-Redakteuren aufs Glatteis führen lässt, muss sie sich nicht über Fake-News wundern: „Wir haben nur geschrieben, was Sie uns nicht sagen wollten.“
Zwischen alle Stühle geraten ist Carla dennoch bemüht, Oskar Kuhn als schwächstem Glied in der Kette gerecht zu werden, auch wenn dieser vor Gewalt nicht zurückschreckt, um seine Mutter aus der Schusslinie zu ziehen. Am Ende muss die Polizei gerufen werden…
Mit „Das Lehrerzimmer“, im klassischen 4:3-Format gedreht im Oktober und November 2021 in der ehemaligen Theaterakademie Winterhude, ist dem preisgekrönten Regisseur İlker Çatak („Es gilt das gesprochene Wort“) ein elektrisierender Film gelungen über den Mikrokosmos Schule als Spiegel unserer Gesellschaft. Leonie Benesch, bei der Berlinale als „European Shooting Star“ ausgezeichnet, kreiert durch ihre fesselnde Darstellung einer jungen Pädagogin, die mehr und mehr zwischen die Fronten gerät, eine dichte Atmosphäre, die von Anfang an in den Bann zieht.
Anhand ihrer Geschichte hinterfragen Drehbuch-Autor Johannes Duncker und İlker Çatak auf kritische Weise nicht nur das System Schule, sondern generell unsere aktuelle Debattenkultur. Binnen knapp einhundert Minuten entfachen sie eine grundlegende Diskussion rund um Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Koproduktion mit ZDF und Arte ist beim 73. Deutschen Filmpreis 2023 mit Lolas überschüttet worden – für Gesa Jäger (bester Schnitt), Leonie Benesch (beste weibliche Hauptrolle), Johannes Duncker (bestes Drehbuch) und İlker Çatak (beste Regie) – sowie die Lola in Gold für den besten Spielfilm.
İlker Çatak im Alamode-Presseheft: „Ein zentraler Aspekt für mich ist die Wahrheitsfindung, die Wahrheitssuche oder wie man sich die Wahrheit zurechtlegt. Auch die Frage, woran man glaubt, wird gestellt. Der Junge will an seine Mutter glauben, sie will an Gerechtigkeit glauben. Fake News, Cancel Culture oder etwa das Bedürfnis einer jeden Gesellschaft nach einem Sündenbock - das sind weitere Themen.“
Pitt Herrmann