Inhalt
Niko ist Ende Zwanzig, wohnt in Berlin, hat sein Jura-Studium schon vor zwei Jahren geschmissen und lässt sich seither mehr oder weniger ziellos durchs Leben treiben. Sein wohlhabender Vater, der von dem Studienabbruch nichts weiß, überweist ihm noch immer eine monatliche Unterstützung – bis jetzt. Denn eines Tages muss Niko feststellen, dass sein Konto leer ist: Der Geldautomat schluckt seine EC-Karte. Das aber ist erst der Anfang eines Tages, der für Niko alles andere als gut läuft. Er hat eine Reihe teils skurriler und aberwitziger, teils ernüchternder Begegnungen mit Nachbarn, Freunden, einer alten Klassenkameradin und natürlich mit seinem Vater. Dabei wird für Niko immer deutlicher, dass er seinem Leben dringend eine neue Perspektive geben muss.
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„Kennst du das Gefühl, dass dir die Leute um dich herum merkwürdig erscheinen? Und je länger du darüber nachdenkst, desto klarer wird dir, dass nicht die Leute sondern du selbst das Problem bist?“: Niko ist Ende zwanzig und hat vor einiger Zeit seinem Jurastudium ade gesagt. Seitdem lebt er in den Tag hinein, driftet schlaflos durch die Straßen Berlins und wundert sich über die Menschen seiner Umgebung.
Niko Fischer ist als ein Flaneur und Zuhörer, dem die Menschen ihre Geschichten erzählen, aus der Zeit gefallen. Mit stiller Neugier beobachtet er die hektische Welt um sich herum bei der Bewältigung des täglichen Lebens. Nur eingreifen will er nicht, sich auf keinen Fall festlegen. Was seine Freundin Elli dazu veranlasst, ihn endgültig vor die Tür zu setzen beim missglückten Versuch, sich am Morgen klammheimlich davon zu machen.
Erst 'mal 'ne Tasse Kaffee, bevor er sich in die eigenen, noch nach Jahren sehr provisorischen vier Wände, die mit Umzugskartons vollgestellt sind, zurückzieht. Doch die „Schwäbin“, so werden hier an der Spree kursorisch die Zugezogenen genannt, hat ihm zwar aufgezählt, was alles an frisch gemahlenen Kaffeespezialitäten erhältlich ist, aber nicht zu welchem Preis: 3,40 Euro findet Niko ausgesprochen happig. Und weil das Kleingeld nicht mehr ausreicht, will er am nächsten Bankomat Bares ziehen. Doch statt Scheine auszuspucken, wird seine Geldkarte eingezogen. Nix ist mit dem teuren Kaffee - nun muss Papa helfen.
Es ist nicht sein Tag. Bei der „Idiotentest“ genannten MPU, Niko ist mehrfach mit Alkohol am Steuer erwischt worden, attestiert ihm ein Arschloch von Psychologe „emotionale Unausgeglichenheit“, was Elli freilich nicht besser hätte ausdrücken können. Dann wird der fahrscheinlose Niko von zwei BVG-Kontrolleuren in der U-Bahn erwischt und schließlich von seinem Nachbarn mit Worten wie mit „Fleischbällchen“, die hier eigentlich Buletten heißen, vollgestopft.
Aber das ist noch längst nicht alles: Sein Vater Walter hat ihn auf den Golfplatz zitiert, um seinem Sohn zu eröffnen, dass er nach zwei Jahren nun nicht mehr daran denkt, tausend Euro monatlich zu überweisen für einen Studenten, der längst exmatrikuliert ist und offenbar gar nicht daran denkt, sich nach einer Alternative umzusehen. Da hat Niko für die kleinen Spielchen seines Kumpels Matze, der ihn im Auto abholt, natürlich keine Nerven: Es geht zum Set eines Films, der im Dritten Reich spielt, und wo Matzes Freund von der Schauspielschule, Philip Rauch, eine Hauptrolle spielt.
Zuvor aber will Matze noch einen Happen essen – und Niko endlich einen Kaffee trinken. Plötzlich steht eine sonderbare Schönheit namens Julika vor Niko und konfrontiert ihn mit den Wunden der von ihm naturgemäß völlig verdrängten gemeinsamen Vergangenheit. Sollte Niko nach diesem Tag wirklich seine „Komfortzone“ verlassen und sein Leben ändern? Kriegt er am Ende vielleicht Julika Hoffmann? Und sogar die heißersehnte Tasse Kaffee?
„Oh Boy“ ist das selbstironische Portrait eines jungen Mannes und der Stadt, in der er lebt – Berlin. In eindringlicher Schwarz-Weiß-Ästhetik changiert Jan Ole Gerster, der 1978 im westfälischen Hagen zur Welt kam, zwischen Melancholie und Humor und zeigt die Suche des Protagonisten nach seinem Platz in einer Welt, in der eigentlich alles möglich ist. Und zwar nicht zufällig in Berlin, wo die Geschichte Deutschlands und Europas immer noch an allen Ecken spürbar ist. Wie im Tacheles, dem letzten ins Auge springenden Relikt der Teilung Deutschlands, wo, kleine Reminiszenz an Peter Steins Schaubühne, das „Off am Ufer“ das Szenepublikum mit einer recht speziellen Tanzperformance bedient. Und an der Theke so mancher Kneipe, wo Niko naturgemäß wieder nur Bier und Wodka statt Kaffee bekommt, dafür aber mit Friedrich einen Zeitzeugen, dem der jungenhafte „einsame Wolf“ nach anfänglichem Fremdeln mit großer Empathie begegnet.
„Oh Boy“, Gersters Abschlussfilm an der Berliner Hochschule dffb, kommt mit gedrosseltem Tempo daher, auf das man sich ebenso einlassen muss wie der Titelheld auf immer wieder neue Menschen, die ihm ihre Lebensgeschichten aufdrängen. In diesem erstaunlich selbst- und stilbewussten, bis in kleinste Episodenrollen hervorragend besetzten Debütstreifen reihen sich zumeist behutsam-ironische szenische Petitessen wie Perlen auf eine Kette, die vom Roten Faden der grotesken Suche Nikos nach einer Tasse normalem Kaffee zusätzliches Gewicht erhält. Free-TV-Premiere war am 15. April 2015 auf Arte.
Pitt Herrmann