Hans Richter: Kinobriefe (1919, 1-39)
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Quelle: Jeanpaul Goergen |
Kinobriefe Nr. 9: Henny Porten (16. April 1919) |
Anfang 1919 begann Hans Richter mit der Herausgabe seiner "Kinobriefe", eine neuartige Korrespondenz für Filmfans und Kinofreunde. Im ersten Brief vom 5. Januar 1919 versprach er seinen Lesern, ihnen keine Artikel vorzusetzen, sondern sie würden "jeweilig in Briefform über alles das unterrichtet werden, was sich im Film und Kino ereignet hat. Sie können auch selbst Fragen stellen und Ansichten äußern."
Die Kinobriefe erschienen im Hans Hermann Richter Verlag in Berlin W 75, Kürfürstenstraße 21/22, der neben großformatigen Starfotos auch Richters Kinobücher wie etwa "Das Kinojahrbuch 1919", "Fritzkarl und Mieze Meyer" und "Was mancher gern wissen möchte. Lotte Neumann" verlegte. Richter hatte zwischen 1918 und 1922 eine Vielzahl von populären Filmschriften publiziert; er ist nicht mit dem gleichnamigen avantgardistischen Filmkünstler Hans Richter zu verwechseln.
Die Kinobriefe gab es von 1919 bis 1921. Sie kosteten 20 Pfennige bzw. später 25 Pfennige und konnten auch abonniert werden. Jede Ausgabe umfasst acht Seiten und ist einem Star gewidmet, dessen Foto auf der Titelseite prangt und dessen Biografie und Talent Richter ausführlicher vorstellt; einige erzählen auch selbst von sich. Viele Ausgaben enthalten zudem ein handschriftliches Grußwort des Porträtierten. Es ist allerdings fraglich, ob tatsächlich alle Selbstporträts der Stars echt sind oder nicht doch von den Pressestellen der Filmgesellschaften stammen; sie sind mit aller gebotenen Vorsicht zu betrachten. Einige Stars hat Richter aber auch persönlich aufgesucht. Den größten Teil der Briefe machen unsystematisch zusammengetragene Nachrichten aus der Filmwelt aus, feuilletonistisch und im Plauderton serviert und mit Szenenbilder und Starfotos angereichert. In der Rubrik "Briefkasten" beantwortet Richter zudem Leserfragen nach Stars und Sternchen. Anzeigen für Bekanntschaften sowie für Richters eigene Bücher und seinen Verlag beschließen jeden Brief. Ab dem Kinobrief 32 gliederte er seine Filmbesprechungen in eine eigene Rubrik aus, ohne aber auf seine zum Teil süffisant-spöttischen Bemerkungen zu verzichten.
Prominent vertreten waren Henny Porten, Käthe Haack, Fern Andra, Lu Synd, Olaf Fønss, Harry Liedtke, Lya Mara, Lotte Neumann, Henny Porten, Friedrich Zelnik, Mia May, Hilde Wörner, Ria Jende, Ernst Rückert, Esther Carena, Martha Novelly, Magda Elgen, Sibyl Smolowa, Ressel Orla, Lilly Flohr, Manja Tzatschewa, Ludwig Hartau, Stella Hay, Ernst Josef Aufricht, Hella Moja, Ria Alldorf, Valy Arnheim, Marga Lindt, Eva May, Karl Victor Plagge, Molly Wessely, Nils Chrisander, Uschi Elleot, Bruno Kastner, Hilde Wolter, Gunnar Tolnaes, Pola Negri, Max Landa, Carl Auen und Ossi Oswalda.
Hintereinander gelesen ergeben Richters Kinobriefe einen subjektiven, aber doch interessanten und zudem recht vergnüglichen Überblick über das Filmgeschehen des Jahres 1919. Neben den Kurzkritiken sind seine Briefe aus heutiger Sicht dann besonders ergiebig, wenn sie Bemerkungen und Hinweise bringen, die man nur selten in der Filmfachpresse findet.
Im Kinobrief Nr. 2 berichtet Richter von dem lustigen Werbefilm "Anna Müller-Lincke kandidiert", der Frauen motivieren sollte, sich an den Wahlen zur Nationalversammlung zu beteiligen. Richter ist gar nicht begeistert: "Was für eine lustige Sache die Nationalversammlung ist, das haben wir Berliner in der letzten Zeit gesehen, sind doch die Parteien so aneinander geraten, dass es seit Tagen in Berlin an allen Ecken und Enden schießt. Aber dem Film tut das nichts, er leistet sich eine Geschmacksverirrung und macht ein Lustspiel daraus. Wieder ein Fressen für die Kinofeinde."
An dem Film "Meyer aus Berlin" von Ernst Lubitsch bemängelt er, dass die im Film gezeigten Briefe, obschon sie von verschiedenen Personen stammen, alle in der gleichen Handschrift erscheinen: "Dieser Fehler wird in den meisten Films gemacht." (Kinobriefe, Nr. 3)
In Ausgabe Nr. 5 nimmt er seine Leser mit auf einen Rundgang durch die Ateliers der Deutschen Bioscop-Gesellschaft in Babelsberg und macht auf das grüne Licht der Jupiterlampen aufmerksam, in der Ausgabe 12 beschreibt er deren Licht allerdings als bläulich.
In der neunten Ausgabe, die Henny Porten gewidmet ist, stellt er sie als Begründerin des Starwesens vor, als "erste deutsche Filmschauspielerin, die dem Publikum direkt nähertrat, und mit ihr beginnt das persönliche Interesse des Zuschauers am Darsteller, und aus diesem stets mehr zunehmenden Interesse hat sich das entwickelt, was man jetzt unter 'Sternwesen' versteht."
Über die Berliner Kinobesuche lästert er in Brief Nr. 10: Erst müsse man in "drangvoll fürchterlicher Enge, über eine halbe Stunde eingekeilt stehen [...], um nachher fast durch eine Art Faustkampf zu seinem Platz zu gelangen." Da die meisten Plätze nummeriert seien, empfiehlt er, wie im Theater, Karten mit Nummer auszugeben.
Ausgabe 13 berichtet über die Heim-Lichtspiele GmbH, die mit dem Schlagwort "Filme zu Hause" das Heimkino propagierte: "In erster Linie ist an wohlhabende Leute auf dem Lande gedacht, denn der Scherz ist nicht ganz billig, allein der Apparat kostet 1000.- Mark und dazu braucht man natürlich noch Films, die verliehen werden sollen. [...] Dazu kommt dann die Familienkinematographie (schönes Wort, nicht?). Bei keinem Fest, bei keiner wichtigen Gelegenheit darf der Mann mit dem Kurbelkasten mehr fehlen."
In Heft Nr. 18 enthüllt er, dass Sibyl Smolowa ihre Filmkleider selbst entwirft und damit den "Neid mancher Kleiderkünstlerin" auf sich ziehe.
Mehrfach geht Hans Richter auf die sogenannten "Aufklärungsfilme" ein, die nach der Aufhebung der Filmzensur das Kinoprogramm beherrschten, meist aber mehr versprachen als sie tatsächlich zeigten: "Ich gebe zu, der Film weiß, wie weit er gehen darf, damit er nicht mit dem Strafgesetz zusammenstößt, aber er erregt Gedanken, will Gedanken erregen, er fühlt sich nicht dafür verantwortlich, aber er ist dafür verantwortlich." (Kinobriefe, Nr. 18) Im Brief Nr. 36 wendet er sich erneut gegen die "Kinohetze" und warnt vor der Gefahr der Verstaatlichung oder Verstadtlichung des Kinos: "Das Kino soll eine Brutstädte der Langeweile werden, ein Werkzeug in der Hand der Behörden."
In Nr. 21 kritisiert Richter die reichlich angewandte braune Tönung des Films "Das Gelübde der Keuschheit": "Effektvolle Bilder, aber manchmal hätte man gern etwas mehr gesehen." Bei "Das Hexenlied" mit Wanda Treumann macht er sich über die Praxis, die Filmhandlung für ein Lied zu unterbrechen, lustig: "Gesang höre ich eigentlich lieber wo anders als im Kino. Wozu werden die Gesangstexte eigentlich auf der Leinwand gezeigt und dann noch vorgesungen? Erwartete man vielleicht, dass wir mitsängen – ich warne Neugierige vor einem 'Gesang'."
Dem Kinobrief Nr. 22 zufolge lief der Film "Warum das Weib am Manne leidet und der Mann am Weibe" in Hannover gleichzeitig in zwei Kinos, in das eine nur Frauen, in das andere nur Männer gehen durften. Süffisant kritisiert Richter auch die übertriebene Reklame für Fern Andra.
Dem "Briefkasten" in Heft 25 ist zu entnehmen, dass es einen Ossi Oswalda-Foxtrott gab, den man in den U.T.-Kinos an der Kasse erwerben konnte. Filmgagen würden je nach Leistung zwischen 25 und 1.000 Mark am Tag schwanken. Der Briefschreiberin Toni rät Richter ab, Filmschauspielerin zu werden: "das Interesse allein genügt nicht" und die Aussichten seien schlecht. Einer Elisabeth antwortet er, dass sie es ohne Beziehungen nur schwer zum Film schaffen werde. Harry Liedtke sei nicht mit Wanda Treumann verheiratet und "auch nicht mit der Venus von Milo".
Im Kinobrief 34 löst Richter die Preisfrage nach dem beliebtesten Filmschauspieler auf. 1.173 Leser und Leserinnen hatten sich beteiligt. Mit 454 Stimmen gewann Bruno Kastner deutlich vor Gunnar Tolnaes (212) und Harry Liedtke (131). Für die beliebteste Schauspielerin trafen 3.427 Stimmen ein. Auch hier gab es mit Henny Porten (1.800 Stimmen) eine deutliche Siegerin. Es folgten Lotte Neumann mit 845, Fern Andra mit 260 und Pola Negri mit 125 Stimmen. Auf Asta Nielsen entfiel eine einzige Stimme.
(Jeanpaul Goergen, Juni 2023)
Hans Richter: Kinobriefe, 1. Jg. 1919, Nr. 1-39. Berlin: Hans Hermann Richter Verlag 1919, jeweils 8 Seiten
Traub/Lavies: 882
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