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Alle Fotos (14)Biografie
Margit Carstensen, geboren am 29. Februar 1940 in Kiel, absolvierte ab 1958 ein Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Ihr Bühnendebüt gab sie in Kleve, gefolgt von Engagements an Theatern unter anderem in Heilbronn, Münster und Braunschweig. Von 1965 bis 1969 gehörte sie zum Ensemble des Hamburger Schauspielhaus, wo sie für ihre Hauptrollen unter anderem in Stücken von John Osborne und Lope de Vega von Kritik und Publikum gerühmt wurde. 1969 wechselte Carstensen nach Bremen und von dort nach vier Jahren ans Staatstheater Darmstadt (1973–1976). Nach weiteren, teils mehrjährigen Stationen in Hamburg, Berlin und Stuttgart wurde sie 1995 Ensemblemitglied des Bochumer Schauspielhauses, dem sie bis 2006 angehörte. Daneben hatte sie Gastspiele an anderen Bühnen, etwa an den Münchner Kammerspielen und am Wiener Burgtheater. Im Verlauf ihrer Theaterkarriere arbeitete Margit Carstensen mit Regisseuren wie Leander Haußmann und Christoph Schlingensief zusammen; 2011 hatte sie an der Berliner Volksbühne unter der Regie von René Pollesch eine Hauptrolle in der viel gerühmten Inszenierung seines Stücks "Schmeiß Dein Ego weg".
Zum Film kam Margit Carstensen durch Rainer Werner Fassbinder, den sie während ihrer Zeit in Bremen kennen gelernt hatte. Unter seiner Regie gab sie 1970 in einer Studioinszenierung von Carlo Goldonis Stück "Das Kaffeehaus" (TV) ihr Debüt vor der Kamera.
In den folgenden Jahren avancierte Carstensen zu Fassbinders bevorzugter Hauptdarstellerin. Für die Titelrolle in seinem Beziehungsdrama "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" (1972) wurde sie 1973 mit dem Filmband in Gold ausgezeichnet. Weitere Hauptrollen in Fassbinder-Filmen hatte sie als gedemütigte Ehefrau in "Martha" (1974), als Titelfigur in der Ibsen-Adaption "Nora Helmer" (1974), als kommunistische Journalistengattin in "Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel" (1975), als seelisch labile Mittelstands-Mutter in "Angst vor der Angst" (1975, TV), als ausgebeutete Verehrerin eines mittellosen Poeten in der bitterbösen Posse "Satansbraten" (1976), als untreue Ehefrau in dem Familiendrama "Chinesisches Roulette" (D/F 1976) und als intrigante Society-Lady in dem Gesellschaftsdrama "Frauen in New York" (1977, TV). Daneben gehörte sie zu den Ensembles unter anderem von "Die dritte Generation" (1979) und, in einer kleinen Rolle, "Berlin Alexanderplatz" (1980, TV). Insgesamt arbeiteten Carstensen und Fassbinder bei 19 Film- und Fernsehproduktionen zusammen. Daneben hatte sie eine zentrale Rolle als argwöhnische Nachbarin in Ulli Lommels "Die Zärtlichkeit der Wölfe" (1973) sowie als Marlene Dietrich in Lommels Satire "Adolf und Marlene" (1976), über eine fiktive Begegnung der Schauspielerin mit dem in sie verliebten Adolf Hitler.
Nach Fassbinders Tod im Jahr 1982 konzentrierte Carstensen sich verstärkt auf ihre umfang- und erfolgreiche Theaterarbeit; ihre Auftritte vor der Kamera wurden seltener. Sie hatte kleine Rollen in Peter Zadeks "Die wilden Fünfziger" (1983) und Agnieszka Hollands "Bittere Ernte" (1985). Eine mehrjährige Zusammenarbeit verband sie mit Christoph Schlingensief: In dessen Farce "100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker" (1989) verkörperte sie Martha Goebbels, in der Groteske "Terror 2000 – Intensivstation Deutschland" (1992) hatte sie die Hauptrolle einer Polizistin, die kurz nach der Wende in Ostdeutschland mit Neonazis konfrontiert wird; in Schlingensiefs Fassbinder-Hommage "Die 120 Tage von Bottrop" (1997) spielte Carstensen sich selbst: Als Mitglied der alten Fassbinder-Clique, die in Berlin ein Remake von Pasolinis "Die 120 Tage von Sodom" drehen will. An der Berliner Volksbühne spielte sie für Schlingensief in Inszenierungen von "Bambiland" (2003) und "Attabambi-Pornoland – Die Reise durchs Schwein"(2003).
Im Kino gehörte sie unter der Regie von Nina Grosse zum Ensemble von "Feuerreiter" (1998); Leander Haußmann besetzte sie in "Sonnenallee" (1999) in einer kleinen, aber köstlichen Rolle als verkniffene Schuldirektorin; in Romuald Karmakars Ensemble-Film "Manila" (2000) brillierte sie als Touristin, die am Flughafen von Manila festsitzt. Einen späten Höhepunkt erfuhr Carstensens Karriere mit Chris Kraus' "Scherbentanz": Für ihre intensive Leistung als alkoholkranke und verwahrloste Mutter eines an Leukämie erkrankten Sohns wurde sie 2002 mit dem Bayerischen Filmpreis als Beste Nebendarstellerin ausgezeichnet.
Trotz dieses Erfolgs blieben ihre Filmauftritte rar. In Oskar Roehlers "Agnes und seine Brüder" (2004) spielte sie eine verständnisvolle Frau, die der getriebenen Titelfigur bis zum Tod beisteht. In dem Essayfilm "It Is Fine! Everything Is Fine." (USA 2007), über den Schriftsteller Steven C. Stewart, hatte sie eine Hauptrolle als Krimi-Schriftstellerin Linda Barnes. Detlev Buck besetzte sie in seinem erfolgreichen Kinderfilm "Hände weg von Mississippi" in einer Nebenrolle als Haushälterin.
Ihre letzte Kinorolle spielte Margit Carstensen in Frauke Finsterwalders preisgekröntem "Finsterworld" (2013), als 85-jährige Bewohnerin eines Altersheims, die eine spezielle Beziehung zu ihrem Fußpfleger entwickelt.
Im Fernsehen war Carstensen ein letztes Mal in der "Tatort"-Folge "Wofür es sich zu leben lohnt" (2016), als Mitglied einer undurchschaubaren Seniorinnen-WG zu sehen. In gewisser Weise schloss sich hier ein Kreis, denn die "Tatort"-Kommissarin spielte Eva Mattes, auch sie eine der großen Fassbinder-Schauspielerinnen, mit der Carstensen damals fünf Filme gedreht hatte.
2019 wurde Margit Carstensen mit dem Götz-George-Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Am 1. Juni 2023 verstarb sie im Alter von 83 Jahren.