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Alle Fotos (7)Biografie
Ulrike Ottinger, geboren am 6. Juni 1942 in Konstanz, begann im Jahr 1959, nach Abschluss einer Banklehre, ein Gaststudium an der Münchner Akademie der Künste. 1962 zog sie nach Paris, wo sie sich bis 1968 als freie Fotografin und Malerin betätigte; an der renommierten Pariser Universität Sorbonne besuchte sie Vorlesungen unter anderem in Kunstgeschichte und Ethnologie bei Claude Lévi-Strauss und Pierre Bourdieu. Während ihrer Pariser Zeit schrieb Ottinger auch ihr erstes Drehbuch mit dem Titel "Die mongolische Doppelschublade" (1966). Zurück in Konstanz, gründete sie dort 1969 den "Filmclub Visuell", den sie bis 1972 leitete; außerdem rief sie die Galerie und Edition "Galeriepress" ins Leben, mit der sie Avantgarde-Künstlern wie Wolf Vostell und David Hockney ein Forum bot.
1972/73 realisierte Ottinger in Berlin gemeinsam mit der Künstlerin und Schauspielerin Tabea Blumenschein ihren ersten Film "Laokoon & Söhne", bei dem sie, wie in fast allen ihren Filmen, für Regie, Kamera, Drehbuch, Produktion und Darstellerin in Personalunion verantwortlich zeichnete. "Laokoon & Söhne" thematisierte anhand von Requisiten und Rollen des Zirkus Laokoon Geschlechterverhältnisse und die Latenz des Faschismus. Mit seinem experimentell-surrealistischen Inszenierungsstil, dem weitgehenden Verzicht auf eine lineare Handlung sowie dem Spiel mit Zitaten und Mythen, etablierte Ottinger hier bereits zentrale Methoden und Aspekte ihres filmischen Schaffens. Diese Herangehensweise setzt sie in "Die Betörung der blauen Matrosen" (1975), einem Essay-Spielfilm über den berühmten Sirenenmythos, fort; die Hauptrolle spielte dabei erneut Tabea Blumenschein, die bis 1979 an all ihren Filmen beteiligt war.
Für viel Aufsehen und kontroverse Diskussionen sorgte Ottingers nächster Film "Madame X – Eine absolute Herrscherin" (1978), eine vom ZDF koproduzierte, feministische Parodie des Piratenfilm-Genres und zugleich eine Parodie auf die damalige Frauenbewegung. Mit Geschlechterrollen setzte Ottinger sich auch in "Bildnis eine Trinkerin" (1979) auseinander, in dem Blumenschein einen weiblichen Dandy verkörperte; die konventionellen Darstellungen von Frauen als "Spektakel" wurden in dem Film parodiert und Alkoholismus als Metapher für zwischenmenschliche Entfremdung eingesetzt. Diese Motive griff Ottinger erneut in ihren folgenden Filmen "Freak Orlando" (1981) und "Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse" (1984) auf, die gemeinsam mit "Bildnis einer Trinkerin" die sogenannte "Berlin-Trilogie" bilden. Zu den Mitwirkenden gehörten Magdalena Montezuma, Eddie Constantine und Kurt Raab sowie der Komponist Peer Raben. Beim Florenz Filmfestival erhielt "Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse" einen Spezialpreis der Jury für die "Künstlerische Gesamtkonzeption".
Mit dem viereinhalbstündigen "China - die Künste - der Alltag. Eine filmische Reisebeschreibung." (1985) wendete Ulrike Ottinger sich dem Dokumentarfilm zu. Sie verzichtete dabei völlig auf einen Kommentar, um Bild und Ton eine besondere Eigenständigkeit zu geben und den voyeuristischen Blick auf eine fremde Kultur so weit wie möglich zu vermeiden. "China - die Künste - der Alltag." erhielt den Preis der deutschen Filmkritik als Bester Dokumentarfilm. Das Konzept eines nicht "exotisierenden" Blickes führte sie in dem Dokumentarfilm "Johanna d'Arc of Mongolia" (1989) fort. Anders als Ottingers frühere und spätere Filme, die fast immer im Forum der Berlinale gezeigt wurden, lief dieser Film im Wettbewerb der Berlinale 1989. Daneben wurde "Johanna d'Arc of Mongolia" unter anderem mit einem Deutschen Filmpreis in Gold für die Visuelle Gestaltung ausgezeichnet.
Neben ihren zahlreichen und ausgiebigen Asienreisen realisierte Ottinger in Berlin den Dokumentarfilm "Countdown" (1990), in dem sie die Veränderungen in ihrer Wahlheimatstadt Berlin zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung beobachtete. Nach dem über achtstündigen Dokumentarfilm "Taiga" (1992) dauerte es fünf Jahre, bis Ottinger - erneut im Forum der Berlinale - ihren nächsten Dokumentarfilm vorstellte: In "Exil Shanghai" (1997) porträtierte sie Shanghai als Zufluchtsort für jüdische Flüchtlinge aus dem Europa der Nazizeit, schlug dabei aber auch einen Bogen zur Gegenwart.
In den folgenden Jahren führte Ottingers Weg sie nach Südosteuropa, wo sie einen Dokumentarfilm und einen Spielfilm drehte: Für den sechsstündigen Reise-Essay "Südostpassage" (2002) begab sie sich auf eine Expedition, die sie nach Polen, Ungarn, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, in die Ukraine, die Slowakei und die Türkei führte. "Südostpassage" wurde 2002 bei der Documenta XI in Kassel uraufgeführt. In der Ukraine realisierte sie anschließend den Spielfilm "Zwölf Stühle" (2004), nach dem satirischen Roman der sowjetischen Schriftsteller Ilja Ilf und Jewgeni Petrow aus dem Jahr 1928. Im Mittelpunkt steht ein junger Adeliger, der sich auf die Suche nach zwölf Stühlen aus Familienbesitz begibt, da in einem davon wertvolle Juwelen versteckt sein sollen. "Zwölf Stühle" wurde im Forum der Berlinale 2004 uraufgeführt und startete Anfang 2005 in den Kinos.
Zwei Jahre später, im Februar 2007, feierte im Forum der Berlinale ihr Dokumentarfilm "Prater" Premiere, ein visuell betörendes und inhaltlich vielschichtiges Porträt des berühmten Wiener Vergnügungsparks. Vom Verband der deutschen Filmkritik wurde "Prater" mit dem Preis für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. 2009 stellte Ottinger in Berlin ihren Dokumentarfilm "Die koreanische Hochzeitstruhe" vor, in dem sie einen uralten, bis heute von vielen koreanischen Familien gepflegten Brauch in den Kontext der hochmodernen koreanischen Gesellschaft stellt. Auch Ottingers nächster Kinofilm führte den Zuschauer nach Asien: "Unter Schnee" (2011) schildert in einer Mischung aus dokumentarischen und inszenierten Passagen den Alltag in der japanischen Provinz Echigo, wo bis in den Mai hinein oft meterhoch Schnee fällt. Ebenfalls 2011 erhielt sie für ihre künstlerische Arbeit den Hannah-Höch-Preis der Stadt Berlin. 2012 war Ulrike Ottinger selbst Mittelpunkt eines Dokumentarfilms: "Ulrike Ottinger - Die Nomadin vom See", porträtierte Werk und Leben der außergewöhnlichen Künstlerin.
Im Lauf der Jahrzehnte wurde Ulrike Ottinger immer wieder mit Retrospektiven gewürdigt, so etwa in der Pariser Cinémathèque Française und im New Yorker Museum of Modern Art. Neben ihrem filmischen Schaffen arbeitete sie gelegentlich auch als Regisseurin für Theater und Oper, zum Beispiel inszenierte sie im Jahr 2000 am Berliner Ensemble die Uraufführung von Elfriede Jelineks Stück "Das Lebewohl". Ihre Fotografien, die meist parallel zu ihren Filmarbeiten entstanden, waren weltweit in renommierten Museen und Galerien zu sehen. 2005 erschien ihr Buch "Bildarchive", das Fotografien aus dem Zeitraum 1975 bis 2005 versammelt. 2011 veröffentlichte sie den Band "Floating Food", eine experimentelle Collage aus Fotografien und Texten.
Im Forum der Berlinale 2016 brachte die inzwischen 77-Jährige schließlich ein monumentales Dokumentarfilmprojekt zur Uraufführung: "Chamissos Schatten" teilt sich in vier Abschnitte mit einer Gesamtdauer von fast zwölf Stunden. Angeregt von historischen Berichten renommierter Wissenschaftler und Forscher begab Ottinger sich für das Projekt auf eine Reise über das Beringmeer, wo entlang einer faszinierenden Meeres- und Vulkanlandschaft der eurasische und der amerikanische Kontinent aufeinander stoßen. "Chamissos Schatten" wurde im Februar 2016 im Forum der Berlinale uraufgeführt. Zwischen März und Mai desselben Jahres starteten die vier Einzelteile in den Kinos. Beim Preis der deutschen Filmkritik 2016 gewann "Chamissos Schatten" den Preis als Bester Dokumentarfilm.
Auch ihr nächstes Werk stellte die unermüdliche Ulrike Ottinger bei der Berlinale vor: Im Februar 2020 feierte in der Sektion Berlinale Special "Paris Calligrammes" Premiere. Darüber hinaus wurde sie auf dem Festival mit der Berlinale Kamera für ihr Lebenswerk geehrt.