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Mit betörenden Bildern verwandelt "Prater" den beliebten Wiener Ort der Sensationen in ein Kinoerlebnis. Praterdynastien erzählen vom Schausteller leben. Wir begegnen den Nachkommen des "Manns ohne Unterleib", der um 1900 mit Frau und Kindern eine Vielzahl bis heute bestehender Vergnügungsbetriebe gründete. Wir treffen die Besitzer des Schweizerhauses, Manager eines gastronomischen Spitzenbetriebs, deren Vorgänger kaiserliche Jagdtreiber waren, oder den Prater-Heinzi, der ausgemusterte Illusionsmaschinen pfleglich repariert. Zusammen mit den Praterbesuchern von früher und heute reisen wir, ohne uns von der Stelle zu bewegen: Wien verwandelt sich in Klein-Venedig mit Kanälen, Rialtobrücke und Dogenpalast. Und über all dies trägt uns das Riesenrad und bietet uns den Blick über die Dächer von Wien.
Mit Ulrike Ottingers Film "Prater" taucht der Kinogänger in ein Universum der Wünsche und Sensationen ein. Die Regisseurin verbindet dabei die Kulturgeschichte des ältesten Vergnügungsparks der Welt mit Einblicken in die Wandelbarkeit der technischen Attraktionen. Zugleich erzählt der Film von Menschen, für die der Prater Ort der Unterhaltung, der Erinnerung oder ganz einfach Lebens Mittelpunkt ist. Der Wiener Prater ist eine Wunschmaschine. Mit der neuesten Raumfahrttechnik lässt man sich in den Himmel schießen und in der Geisterbahn trifft man die Monster der Kinogeschichte. Die Wiese (Pratum) – früher Jagdrevier des Kaisers – ist heute Spielwiese für jedermann. Der Sprung durch Raum und Zeit: Hier ist er möglich.
Quelle: 57. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Doch olfaktorisches Kino ist „Prater“ ebensowenig wie rein dokumentarisches. Dabei erfahren wir, dass der Kosake Nikolai Kobelkoff so etwas wie der Ahnherr des Wiener Prater war. Er richtete bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ein Geschäft ein, dass von seinen Erbinnen bis heute fortgeführt wird. Elfriede Gerstl, Ursula Storch, Werner Schwarz und Herbert J. Wimmer wissen von alten Geschichten zu erzählen, die bis in unsere Gegenwart reichen. Wenn etwa einer alten Tradition folgend eintausend Firmlinge aus Niederösterreich direkt vom Stephansdom in den Volksprater kutschiert werden.
„Prater“ ist nicht nur ein Dokumentarfilm. Obwohl wir den Nachkommen des „Manns ohne Unterleib“, der um 1900 mit Frau und Kindern eine Vielzahl bis heute bestehender Vergnügungsbetriebe gründete, ebenso begegnen dem „Prater-Heinzi“, der ausgemusterte Illusionsmaschinen repariert und so der Nachwelt erhält. Oder der inzwischen 88-jährigen Chefin des Schweizerhauses, einer gebürtigen Ostfriesin übrigens, die sich die Zubereitung der deftigen Schmankerl aus der traditionellen Wiener Küche im wahren Wortsinn erst erarbeiten musste. Die Vorgänger ihrer Familie waren kaiserliche Jagdtreiber, die im 18. Jahrhundert für den Prater, dem damaligen Jagdrevier des Kaisers, aus der Schweiz geholt worden waren. Aus ihrer Schweizer Hütte hat sich heute ein gastronomischer Spitzenbetrieb entwickelt.
Ulrike Ottingers Doku ist immer wieder mit fiktionalen Elementen durchsetzt, deren Texte u.a. von Josef von Sternberg, Erich Kästner und Elias Canetti, aber auch von Elfriede Jelinek stammen. Es sind Kommentare und biographische Erinnerungen, vom Sprecher Peter Fitz miteinander verwoben. Aber wenn sich die eher grazile österreichische Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die todtraurige Kindheitserinnerungen preisgibt, in die Arme eines mächtigen Gorillas begibt oder Veruschka Gräfin Lehndorff als superblondierte Barbarella auf Geisterbahn-Fahrt geht, dann erahnen wir die Bedeutung dieses „Ortes der Sensationen“ weit über den nostalgisch-historischen Aspekt hinaus.
Der Cutterin Bettina Blickwede verdanken wir, dass Nostalgie ohne Verklärung mit einer häufig äußerst skurrilen Gegenwart zu einem sehr unterhaltsamen, aber immer wieder auch nachdenklich stimmenden Wiener Pasticcio verdichtet wird. Zu Bildern einer offenbar indischen Großfamilie, die in der üppigen Jugendstil-Kulisse der Jahrhundertwende posiert, spricht eine Stimme aus dem Off über Technologie des 21. Jahrhunderts, die heute am Fuße des Riesenrades zum Einsatz kommt. Und die wiederum ist unterlegt mit einem Lied der Comedian Harmonists.
Ethnische Schaubilder um 1900, wo Menschen ferner Kontinente im Prater wie Zootiere ausgestellt wurden, kontrastieren mit lederbehosten bayerischen Touristen, die sich in der Wildwasserbahn „Donau Jump“ vergnügen. Und das heute auch englischsprachige Kasperltheater mit den rüstigen Wiener Senioren, die sich beim Tanztee zu „Ich war nie ein Casanova“ eine leidlich kesse Sohle aufs Parkett legen an einem Ort, an dem nachts bei jungem Publikum eine ganz andere Post abgeht. Selbst auf die benachbarte, wundervoll-nostalgische Galopprennbahn wirft Ulrike Ottinger einen kurzen Blick. Umso erstaunter nimmt man zur Kenntnis, dass sie die zweite und heute trotz mancher Bedrohungen finanzieller Art immer noch lebendige Urzelle der Wiener Vergnügungsseligkeit völlig außer Acht gelassen hat, den „Böhmischen Prater“ am Laer Berg.
Pitt Herrmann