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Topografisch ist Ulrike Ottingers Kino meistens zwischen Berlin und entlegenen Orten in Fernost oder im hohen Norden angesiedelt. Mit "Paris Calligrammes" erkundet sie die Landschaft ihrer Erinnerungen an jene Stadt, die sie 20 Jahre lang ihre Heimat nannte und die ihre Anfänge als Malerin und Filmemacherin mitprägte. Ottinger zog in ihren Zwanzigern nach Paris und tauchte dort in die Kulturszene der 1950er-Jahre ein, die von Avantgarde-Helden und einer neuen Generation von Künstler*innen und Intellektuellen bevölkert war. Zwischen Buchhandlungen, Konzertsälen, Theatern, Kinos, Museen und Cafés präsentiert Ottinger ihr persönliches Pantheon und kartiert dabei zugleich eine entscheidende Ära sowohl in der Kunst, in der Dada und Surrealismus Situationisten und Pop-Art Platz machten, als auch in der Politik, wo zwischen Nachkriegshoffnungen, Algerienkonflikt und 68er-Bewegung vieles auszutragen war. Trotzdem bleibt der Film eine intime Annäherung, die ein überreiches und emotionsgeladenes Repertoire an Filmszenen, Meldungen, Fotos und Liedern mit der gleichen liebevollen Sorgfalt zusammenfügt, mit der man früher Zeitungsausschnitte und Fotos in ein Tagebuch klebte, um drum herum zu schreiben.
Quelle: 70. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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„Paris Calligrammes“ ist eine sehr persönliche, aber keineswegs nur melancholisch-retrospektive Hommage mit historischen Fotografien aus dem Familienalbum, mit originalem Filmmaterial aus den künstlerisch wie politisch aufregenden 1960er Jahren, mit O-Tönen etwa von Walter Mehring und Ulrike Ottingers erstem Radiointerview, mit unmittelbaren Bezügen zwischen Bildender Kunst und eigenen künstlerisch ambitionierten Filmen (Francisco de Goya und „Freak Orlando“) und nicht zuletzt ein liebevoller, aber nie verklärender Blick auf die Künstler-Freunde des Montparnasse. Authentische Aufnahmen brutaler Polizeigewalt gegen 68er-Demonstranten stehen neben einem äußerst kritischen Blick auf die Kolonialpolitik Frankreichs, besonders den Algerien-Krieg. Ulrike Ottinger offenbart die bis in unsere Gegenwart reichenden Folgen nicht nur in den Banlieues, als sie zu den Orten ihrer Pariser Bohème zurückkehrt. Und rechnet ohne jede Altersmilde mit den Grabenkämpfen linker Ideologen ab.
Pitt Herrmann