Wolfgang Staudte
Wolfgang Georg Friedrich Staudte wird am 9. Oktober 1906 in Saarbrücken als Sohn des Schauspielerehepaars Fritz Staudte und Mathilde Firmans geboren. 1912 zieht die Familie nach Berlin. Staudte besucht die Oberrealschule Steglitz und beginnt nach der Mittleren Reife, kurzer Tätigkeit als Autoschlosser sowie Versuchen als Motorradrennfahrer 1923 ein Ingenieurstudium in Oldenburg. Zwei Jahre später absolviert er ein Praktikum bei Mercedes in Berlin, dann in den Hansa Werken in Varel.
Nach Auftritten am Theater in Schneidemühl 1926 Engagement an der Volksbühne Berlin, Auftritte in Inszenierungen von Reinhardt und Piscator und der linken Theatertruppe des Vaters. Ab 1931 Auftritte im Film, u.a. mit Ernst Busch als Bänkelsänger in "Gassenhauer". 1933 wird ihm die Bühnenschauspiel-Erlaubnis entzogen; Staudte dreht Kurzfilme (Regie in "Ein jeder hat mal Glück"), arbeitet ab 1934 als Synchronsprecher bei der berliner Firma Rhythmoton, ab 1935 als Rundfunksprecher im Kinder- und Werbeprogramm.
Für die Firma Werbeschall Uhlich & Schroeter (später: Sigma-Film) realisiert er in den Jahren 1935-39 ca. 100 kurze Werbefilme, 1936/37 zwei abendfüllende Kompilationsfilme über Autorennsport. Bis 1942 spielt er Nebenrollen auch in Filmen propagandistischer Tendenz.
1941 dreht er für die Tobis einen ersten kurzen Studiofilm ("Ins Grab kann man nichts mitnehmen"; nach einer Satire von Arkadij Averčenko), vier weitere folgen. 1942 akzeptiert die Tobis ein Drehbuch Staudtes für den Clown Charlie Rivel. "Akrobat Schö-ö-ö-n" ist seine erste Spielfilmregie. 1944 wird seine Bürokraten-Groteske "Der Mann, dem man den Namen stahl" um "die tollen Abenteuer des Fridolin Biedermann" verboten, seine UK-Stellung aufgehoben. Vor dem Kriegseinsatz bewahrt ihn der Wunsch Heinrich Georges, ihn mit der Regie von "Frau über Bord" zu betrauen.
Im Winter 1945/46 dreht Staudte in Berlin Dokumentaraufnahmen für Friedrich Wolfs und Slatan Dudows Filmprojekt "Kolonne Strupp". Im Sommer 1946 realisiert er, nachdem westliche Filmoffiziere sich an seinem Drehbuch desinteressiert zeigen, bei der DEFA den ersten deutschen Nachkriegsfilm. "Die Mörder sind unter uns" liefert ein Zeitbild, dessen Erzählung – ein Kriegsheimkehrer erkennt in einem honetten Fabrikanten einen Kriegsverbrecher wieder; ermutigt von einer jungen KZ-Befreiten, zieht er ihn zur Rechenschaft – auf demokratischen Neubeginn appelliert.
1948 geht Staudte in "Rotation" den Quellen des deutschen Faschismus nach, indem er den Lebensweg eines sich lange als unpolitisch begreifenden Druckerei-Arbeiters von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegstage verfolgt. 1951 entsteht mit der Heinrich Mann-Adaption "Der Untertan" sein – durch "expressionistische" Kameraführung, artistische Montage und den Esprit der Inszenierung – überzeugendstes Werk, das als historische Satire die fatale Kontinuität des beherrschten wie herrschenden Spießbürgertums in der deutschen Geschichte sinnfällig macht. In der BRD wird der Film erst 1957 aufgeführt. Zudem dreht er die ebenso phantasievollen wie pädagogisch geglückten Kinderfilme "Die Geschichte vom kleinen Muck" und (in den Niederlanden) "Ciske – de rat".
Sein letztes DEFA-Projekt, die Verfilmung von "Mutter Courage und ihre Kinder" mit Helene Weigel und Simone Signoret wird 1955 nach Divergenzen mit Brecht abgebrochen. Staudte, der schon zuvor im Westen tätig war – angefeindet von der rechten Presse und 1951 anläßlich einer Bürgschaft für "Gift im Zoo" seitens der Bundesbehörden politischem Druck ausgesetzt – setzt seine Arbeit in der Bundesrepublik fort.
Es gelingt ihm zunächst nicht, seine engagierte Perspektive und den künstlerischen Standard gegen seine Produzenten zu behaupten, weder mit der in die Gegenwart transponierten Hauptmann-Verfilmung "Rose Bernd" (1956), dem antikolonialistischen Melodram "Madeleine und der Legionär" (1957), noch mit der pazifistischen Groteske "Kanonen-Serenade" (1958). Sie bezeugen, "wie schwer es ist, die Welt verbessern zu wollen mit dem Gelde von Leuten, die die Welt in Ordnung finden" (Staudte).
Erst "Rosen für den Staatsanwalt" (1959), der Nazi-Kontinuitäten in der westdeutschen Justiz zum Gegenstand hat, knüpft thematisch an die frühen Arbeiten an. "Kirmes" (1960) – produziert von der Freie Film Produktion GmbH, Hamburg, deren Eigentümer Staudte neben Helmut Käutner und Harald Braun seit 1958 ist – legt "archäologisch" verdrängte Vergangenheit frei, "Herrenpartie" (1963/64) beobachtet eine Reisegruppe, die in Jugoslawien mit "vergessenen" Kriegsgreueln konfrontiert wird.
Die Filme tragen Staudte, der einen Bundesfilmpreis für "Rosen für den Staatsanwalt" ablehnt, Diffamierungen als "Nestbeschmutzer" ein. "Die Dreigroschenoper" (1962/63) wiederum entschärft die Vorlage zur Gauner-Ballade, als die "Ganovenehre" (1965/66) und "Die Herren mit der weißen Weste" (1969/70) von vornherein angelegt sind.
1968 gründet Staudte die Cineforum Film- und Fernsehproduktion GmbH, Berlin. Die einzige Kinoproduktion "Heimlichkeiten", die in der Schilderung eines Kriminalfalls auch die Ost-West-Spannung thematisiert, gerät zum finanziellen Fiasko. Staudte sieht sich fortan zu intensiver Auftragsarbeit für das Fernsehen gezwungen. Er dreht, auf handwerkliche Präzision bedacht, Folgen für die ZDF-Reihe "Der Kommissar", ab 1973 für die "Tatort"-Reihe der ARD, in denen zumeist Hansjörg Felmy als Kommissar Haferkamp agiert.
Unter seiner Regie entstehen die aufwendigen internationalen Jack London-Verfilmungen "Der Seewolf" (1971) und "Lockruf des Goldes" (1974/75), sanft idyllisierte Familien-Programme wie die Rhein-Schiffer-Serie "MS Franziska" (1976/77) und die Fallada-Verfilmung "Der Eiserne Gustav" (1978/79), aber auch der um historische Authentizität des Bergarbeiter-Milieus bestrebte Mehrteiler "Die Pawlaks" (1981/82). Auf fremden Stoffen basierend, erinnern Staudtes Arbeiten nur gelegentlich an sein früheres gesellschaftliches Engagement. So behandelt der "Tatort"-Beitrag "Tote brauchen keine Wohnung" (1973) Phänomene der Bau-Spekulation, der Beitrag "Freiwild" (1983) Machenschaften in der Pharma-Branche.
Sein letzter Kino-Film "Zwischengleis" greift 1978 noch einmal die Problematik von Schuld und Verdrängung in Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder-Jahren auf. Das Projekt, Rolf Hochhuths Roman "Eine Liebe in Deutschland" zu verfilmen, wird 1983 von Andrzej Wajda übernommen. Zuletzt variiert Staudtes Sternheim-Adaption "Der Snob" (mit Klaus Maria Brandauer, 1983) sein zentrales Thema vom Verhältnis des deutschen Spießers zur Macht.
Staudte synchronisiert 1945/46 für die DEFA Eisensteins "Ivan Grosnyj" ("Iwan der Schreckliche", 1. Teil), 1972 auf Wunsch Stanley Kubricks "Clockwork Orange", 1980 seinen Film "Shining". Er ist ab 1955 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste der DDR, 1966/67 Lehrbeauftragter an der DFFB.
Staudte ist in erster Ehe verheiratet mit Renate Praetorius, 1958-64 mit der Schauspielerin Ingmar Zeisberg, 1967-77 mit Rita Heidelbach. 1977 heiratet er seine vierte Frau, Angelika.
Wolfgang Staudte, bis zu seinem Tod in Berlin-Steglitz ansässig, stirbt am 19. Januar 1984 an Herzversagen in Zigarski (Slowenien) bei den Dreharbeiten zum 5-teiligen TV-Film "Der eiserne Weg", dessen Regie Hans-Werner Schmidt übernimmt.
Die Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin und das Filminstitut der Landeshauptstadt Düsseldorf archivieren Staudtes Nachlaß und Materialien zu seinen Filmen.
CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film
© 1984ff edition text+kritik im Richard Boorberg Verlag, München.
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