Das diesjährige Programm der Perspektive Deutsches Kino ist hochaktuell, brisant und emotional. Vier lange Spielfilme, drei Dokumentarfilme sowie drei mittellange Spielfilme erzählen von den mitunter schmerzhaften Versuchen, die Welt zu verstehen – und davon, sie zu verbessern.
Es brennt an allen Ecken und Enden: Komplexe gesellschaftliche und politische Konflikte, der Klimawandel und die Notwendigkeit für Naturschutz, dazu die üblichen privaten Spannungen, die Fragen nach Engagement, Nähe und Distanz. Mitten drin: Junge Talente aus Deutschland, die kein Thema scheuen. Ihre versatile und leidenschaftliche filmische Umsetzung schafft Hoffnung. Denn das Problem zu erkennen und zu benennen, ist ein wichtiger erster Schritt.
Der Eröffnungsfilm "Sieben Winter in Teheran" ("Seven Winters in Tehran") von Steffi Niederzoll dokumentiert einen Justizskandal im Iran: Eine junge Studentin wurde nach sieben Jahren im Gefängnis gehängt. Verurteilt war sie wegen Mordes – dabei hatte sie aus Notwehr einen Mann erstochen, der sie vergewaltigen wollte. Trotz internationaler Proteste und Bemühungen ließ die iranische Justiz das Prinzip der "Blutrache" walten: Hätte Reyhaneh Jabbari öffentlich erklärt, es habe keinen Vergewaltigungsversuch gegeben, wäre das Urteil nicht vollstreckt worden. Reyhaneh blieb bei der Wahrheit. Und zahlte mit ihrem Leben.
Der mit Hilfe von Originalmaterial erzählte Fall stärkt die immer lauteren Proteste gegen das Mullah-Regime, das vor allem Frauen das Leben schwer oder ganz unmöglich macht.
In den Spielfilmen "Elaha" von Milena Aboyan, "Ararat" von Engin Kundag und "El secuestro de la novia" ("Die Brautentführung") von Sophia Mocorrea geht es ebenfalls um weibliche Perspektiven und restriktive Genderkonstrukte: Die deutschkurdische Protagonistin Elaha denkt, sie müsse vor der Hochzeit ihr Jungfernhäutchen wiederherstellen. Am Fuße des erloschenen Vulkans Ararat spielt sich ein von sexueller Aggressivität und Sprachlosigkeit geprägtes Familiendrama ab. Und die entführte, designierte Braut einer argentinisch-brandenburgischen Liebesbeziehung stolpert über irritierende Traditionen.
Die Partnerschaft eines Schauspielers und eines Schriftstellers erweist sich in Fabian Stumms mit feiner Ironie inszeniertem Langfilmdebüt "Knochen und Namen" ("Bones and Names") als nicht krisensicher. Geschwister stehen im Zentrum von "Langer Langer Kuss" ("Long Long Kiss"), Lukas Röders Auseinandersetzung mit mentaler Gesundheit. Tanja Egens liebevoller und detailliert beobachteter Film "Geranien" ("On Mothers and Daughters") stellt die Frage, ob Töchter Töchter bleiben, wenn sie Mütter werden. Und ob man die Kleinstadt wirklich aus dem Mädchen kriegt, wenn man das Mädchen aus der Kleinstadt kriegt.
Das Private ist immer politisch – im Falle von "Ash Wednesday", einem Kurzmusical der Regisseur*innen João Pedro Prado und Bárbara Santos über Rassismus und Polizeigewalt in einer brasilianischen Favela, ist es sogar hochmusikalisch.
Der deutsche Filmnachwuchs sorgt sich naturgemäß um die Zukunft. Der dystopische Dokumentarfilm "Atomnomaden" ("Nomades du nucléaire") von Kilian Armando Friedrich und Tizian Stromp Zargari thematisiert prekäre Arbeitssysteme und die Frage nach sauberer Energie in der denkbar schmutzigsten Umgebung – die Protagonist*innen warten AKWs. Der in schwindelerregender Höhe angesiedelte Dokumentarfilm "Vergiss Meyn Nicht" ("Lonely Oaks") basiert auf dem Originalmaterial eines Filmstudenten, der während einer polizeilichen Räumung vom Baumhaus im Hambacher Forst stürzte und starb. Nachdenklich fragen die Regisseur*innen Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff, wie weit Aktivismus gehen darf.
Neben dem Heiner-Carow-Preis konkurrieren alle eingeladenen Spiel- und Dokumentarfilme um den mit 5.000 Euro dotierten Kompass-Perspektive-Preis. Die Juror*innen sind die Schauspielerin Dela Dabulamanzi, die Editorin Anne Fabini und der Regisseur Jöns Jönsson.
In der neuen Reihe Perspektive Match treten erfahrene Filmschaffende in einen künstlerischen Austausch mit Nachwuchstalenten aus denselben Gewerken. In Kooperation mit Berlinale Talents und der Deutschen Filmakademie werden an vier Nachmittagen im HAU die Perspektive-Talente Bayan Layla (Schauspiel, "Elaha") mit Schauspielerin Jenny Schily, Daria Somesan (Ton, "Geranien") mit Sounddesigner Frank Kruse, Evelyn Rack (Montage, "Ararat") mit Editor Hansjörg Weißbrich und Ole Wiedekamm (Musik, "Ash Wednesday") mit Komponist Ali N. Askin bei einem Panelgespräch zusammengebracht. Vorab wird ein Film aus dem Schaffen der erfahrenen Gewerke-Kolleg*innen gezeigt.
Am Berlinale Publikumstag, 26. Februar 2023, präsentiert die Perspektive den Dokumentarfilm-Gewinner des FIRST STEPS Award 2022 ("Kash Kash", Regie: Lea Najjar).
Übersicht der Filme von Perspektive Deutsches Kino.
Quelle: www.berlinale.de