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Alle Fotos (22)Biografie
Hertha Thiele wurde am 8. Mai 1908 in Leipzig geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie eine kurze Theaterausbildung und debütierte 1928 am Leipziger Schauspielhaus in Bruckners "Krankheit der Jugend". Der Durchbruch gelang ihr zwei Jahre später in der Uraufführung von Christa Winsloes "Ritter Nérestan": sie verkörperte darin eine Aristokratentochter und empfindsame Schülerin eines preußischen Internats, die sich in ihre Lehrerin verliebt und an dieser 'verbotenen' Liebe zugrunde geht. Das Stück war ein großer Erfolg, und Thiele spielte wenig später die gleiche Rolle an den Berliner Barnowsky-Bühnen unter der Regie von Leontine Sagan, mit dem neuen Titel "Gestern und Heute".
Auch als Sagan den Stoff 1931 unter dem Titel "Mädchen in Uniform" verfilmte, wurde Thiele für die Hauptrolle verpflichtet – und wie schon auf der Bühne verhalf ihr der Part auf Anhieb zum Durchbruch als Filmstar. Der Kritiker Herbert Ihering schrieb im Berliner Börsen-Courier: "Hertha Thiele ist vielleicht eine wirkliche Tonfilmbegabung. Sie kann ihren blonden Typus auch darstellerisch abwandeln. Die Gefahr liegt für sie in der Großaufnahme. Hier betont sie den Ausdruck zu sehr. Eine Begabung für frische, nicht für sentimentale Rollen." Anders jedoch als in der Theatervorlage wurde die homosexuelle Thematik in der Filmversion stark in den Hintergrund gerückt, zugunsten einer Kritik am rigiden preußischen Erziehungssystem. Dennoch befand die Kritikern Lotte H. Eisner im Film-Kurier: "Das fast Unglaubliche, hier wird's Ereignis: ein Film, in dem nur Frauen agieren, packt, weil dieser Film alle angeht, weil er ein menschliches Thema sozial ausschöpft, unsentimental, über private Belange hinaus". Notabene: 1958 verfilmte Géza von Radványi den Stoff erneut, mit Lilli Palmer und Romy Schneider in den Hauptrollen.
Durch den Erfolg von "Mädchen in Uniform" wurde man bei der Prometheus Film auf Thiele aufmerksam. Sie erhielt ein einjähriges Engagement, doch von den drei geplanten Filmen kam nur einer zustande: "Kuhle Wampe: oder Wem gehört die Welt?" (1932). Unter der Regie von Slatan Dudow spielte sie darin die Tochter einer ärmlichen Arbeiterfamilie, die Eigeninitiative und Persönlichkeit zeigt; damit stand ihre Figur zumindest ansatzweise für ein neues weibliches Selbstbewusstsein. "Ich habe damals meinen persönlichen Zustand gespielt", so Thiele in einem Interview 1983, "Ich war nicht in der Partei, ich war links eingestellt, aber ich war nicht geformt". Heute gilt der beinahe dokumentarisch anmutende Film, an dessen Drehbuch Bertolt Brecht mitschrieb, als Klassiker des klassenkämpferischen Proletarierkinos. Der Filmhistoriker Ralf Schenk schrieb 2004 über Thieles Darstellung: "Hertha Thiele [nahm] Abstand von Habitus und Glamour eines konventionellen Kino-Stars und avancierte zur Ikone der filmischen Moderne".
Bis 1933 wirkte Thiele in einer Reihe sehr unterschiedlicher Filme mit, darunter das Lustspiel "Frau Lehmanns Töchter" (1932), die preußische Heldensaga "Die elf Schill’schen Offiziere" (1932), das Abtreibungsdrama "Das erste Recht des Kindes" (1932) und die mystische Wunderlegende "Anna und Elisabeth" (1933) von Frank Wisbar. 1932 heiratete sie den Schauspieler Heinz Klingenberg, ihren Partner aus "Frau Lehmanns Töchter". Von der Kritik wurde sie stets auch für ihre intensive Präsenz gelobt, die manchen Beobachter an Greta Garbo erinnerte. Neben ihrer Filmarbeit spielte Hertha Thiele weiterhin Theater, doch zog sie den Film vor: "Für mich (...) ist die Kamera immer ein Magnet gewesen, der mich anzieht".
Nach der Machtübernahme der Nazis versuchte Joseph Goebbels Thieles Popularität zu nutzen: "Mit Ihrer Beliebtheit bei den Arbeitern könnten Sie in unseren Filmen doch eine große Karriere machen", schmeichelte er ihr 1933 bei einem Empfang. Doch als man ihr wenig später die Rolle der Geliebten Horst Wessels in dem NS-Propagandafilm "Hans Westmar" anbot, lehnte Thiele ab. Mehr noch: Ihren Mann Heinz Klingenberg verließ sie, nachdem dieser die Titelrolle in dem Propagandafilm "S.A. Mann Brand" (1933) angenommen hatte (die offizielle Scheidung folgte 1936). In einem niederländischen Radiointerview gefragt, was sie von der Machtübernahme der Nazis halte, antwortete sie: "Gar nichts, das ist ein Irrtum des deutschen Volkes."
Damit war das Ende ihrer Karriere besiegelt. 1933/34 wirkte Thiele noch in der romantischen Schülerin-Lehrer-Liebesgeschichte "Reifende Jugend", der Fallada-Adaption "Kleiner Mann – was nun?" und dem Bergdrama "Die Weiße Majestät" (FR/CH/DE) mit. Ihr letzter Film in Nazi-Deutschland war Thea von Harbous Melodram "Elisabeth und der Narr" (1934). 1936 wurde sie aus der Reichstheater- und -filmkammer ausgeschlossen. Als Gründe führte man "Rassenschande", den Besitz von Schallplatten Ernst Buschs und die Mitwirkung in "Kuhle Wampe" an.
Am 30. Januar 1937 emigrierte Hertha Thiele in die Schweiz. Dort arbeitete sie in einem filmtechnischen Labor, dann als Hausangestellte. Erst 1942 erhielt sie einen Vertrag am Berner Stadttheater, wo sie zunächst als Schauspielerin auf der Bühne stand (etwa in Hauptmanns "Fuhrmann Henschel" und der europäischen Erstaufführung von Thornton Wilders "Unsere kleine Stadt"), dann jedoch nur noch als Souffleuse eingesetzt wurde.
1949 zog Hertha Thiele mit ihrem zweiten Mann, dem Schweizer Wolfgang Wohlgemuth, aus politischer Überzeugung in die DDR. Sie arbeitete beim Berliner Rundfunk, doch ihr Versuch, gemeinsam mit ihrem Exil-Kollegen Robert Trösch ein Theater aufzubauen, scheiterte. 1951 ging sie zurück in die Schweiz. Dort erhielt sie 1952 ein Engagement an einem Berner Privattheater, wurde jedoch bis zu ihrem Weggang 1955 in nur zwei Inszenierungen besetzt. Notgedrungen begann Thiele durch Vermittlung einer Freundin als Hilfsschwester in der Psychiatrie zu arbeiten. Diesen Beruf übte sie auch in Frankreich aus, als sie 1957 vergeblich versuchte, in der dortigen Filmbranche Fuß zu fassen.
Erst durch ein "Glück im Unglück" konnte Thiele Jahre später wieder als Schauspielerin arbeiten: während eines DDR-Besuchs bei ihrer Schwester erlitt sie 1965 einen Bruch des Oberarms, weshalb sie zunächst nicht in die Schweiz zurückreisen konnte. Während ihrer Genesungszeit wurde das DDR-Fernsehen auf sie aufmerksam und widmete ihr den Porträtfilm "Wiedersehen mit Hertha Thiele". Dadurch wiederum erhielt sie an den Bühnen der Stadt Magdeburg die Titelrolle in Brechts "Die Mutter", gefolgt von einem Engagement am Städtischen Theater Leipzig. Thiele blieb in der DDR. Von 1968-79 gehörte sie dem festen Ensemble des Deutschen Fernsehfunks an, doch sie erhielt meist kleine Rollen, vorwiegend Arbeiterfrauen und -mütter.
In Kinoproduktionen der DEFA war sie selten zu sehen. Eine ihrer wichtigsten Altersrollen hatte sie in Lothar Warnekes "Die unverbesserliche Barbara" (DDR 1976), als Mutter, die sich bei der Scheidung ihres Sohnes auf die Seite ihrer starken, emanzipierten Schwiegertochter stellt. In Siegfried Kühns "Don Juan, Karl-Liebknecht-Str. 78" (DDR 1980) gab sie voller Spiellust eine greise Opernsängerin, die in einer Nachtbar den Protagonisten des Films, einen selbstverliebten Regisseur, der Lächerlichkeit überführt – Thiele hatte nur diese eine Szene, die jedoch zu den markantesten des Films gehört.
Mit Studenten der Babelsberger Filmhochschule drehte sie 1980 den viel gelobten Kurzfilm "Insel im See". Darin verkörperte sie eine alte Frau, die während der Nazizeit einen Kriegsgefangenen auf einer Insel versteckt hielt, deswegen inhaftiert wurde und nun, Jahrzehnte nach Kriegsende, immer noch Nahrungsmittel und Zigaretten zu der Insel rudert. Es war Thieles letzter Auftritt vor der Kamera.
1983 veranstaltete die Berlinale die Retrospektive "Exil – Sechs Schauspieler aus Deutschland", die auch Hertha Thiele gewidmet war – eine Schauspielerin, die ihr großes Talent auf Grund der historischen Umstände nie wirklich ausspielen konnte.
Am 5. August 1984 starb Hertha Thiele in Ost-Berlin (damals DDR).