Klaus Lemke
Klaus Lemke, geboren am 13. Oktober 1940 in Landsberg an der Warthe, gilt als einer der eigensinnigsten und – per Selbstdefinition – anti-intellektuellsten Filmemacher Deutschlands. Er wuchs in Düsseldorf auf und schlug sich nach dem Abitur zunächst mit Gelegenheitsjobs durch, unter anderem als Asphaltierer. Sein Studium der Kunstgeschichte und Philosophie brach er nach sechs Semestern ab.
Nach einigen Regieassistenzen in München 1963/1964, unter anderem bei Fritz Kortner, wurde er 1964/1965 Mitarbeiter der Zeitschrift "Film", die in Konkurrenz zur akademischeren "Filmkritik" trat und sich auch mit dem verfemten amerikanischen Genre-Kino befasste. Im Kontext der "Neuen Münchner Gruppe" um Rudolf Thome, Max Zihlmann, Werner Enke und May Spils drehte er 1965/1966 insgesamt sechs Kurzfilme, darunter "Kleine Front" und "Ein Haus am Meer". Als "König von Schwabing", für den "Coolness" ein wichtiges Attribut war, verkörperte er das Lebensgefühl der Münchner Bohème. Über sein politisches "Dilemma" sagt er rückblickend: "Ich fand Amerika so derartig cool, dass ich gerne in Vietnam einmarschiert wäre und gleichzeitig dagegen protestiert hätte".
Sein erster Langfilm "48 Stunden bis Acapulco" (1967) folgt einem Aussteiger vom Schliersee über Rom nach Mexiko, der sich als Abenteurer und Gangster in der Jetset-Gesellschaft zu behaupten versucht. Noch im selben Jahr entstand "Negresco*** - Eine tödliche Affäre", in dem ein erfolgloser Fotograf über seine Beziehung zu einer mondänen Frau in die High Society aufsteigen will. Nach dem Misserfolg dieser zwei Kinofilme aus der großen weiten Welt blieb Lemke laut Ponkie "festgewachsen in der Leopoldstraße" und begann für Fernsehanstalten zu arbeiten. Mit seinem ersten Film für den WDR sorgte er 1968 für einen Skandal: "Brandstifter" reagierte unmittelbar auf den Berliner Kaufhausanschlag von Gudrun Ensslin und Andreas Baader, den Lemke persönlich kannte.
Lemke grenzte sich mit seinem energischen Stil deutlich von der ersten Erneuerer-Generation des "Oberhauser Manifests" ab, deren Werke er bereits wieder als "Väter-Filme" empfand. Tendenzen wie die Literaturverfilmungen Schlöndorffs waren ihm zuwider, ebenso bemühtes soziales Engagement. Doch trotz seiner cinephilen Neigung zur Pose und zum Genre, der die Münchner ohnehin von anderen Vertretern des Neuen Deutschen Films unterschied, hatte er sein ganz eigenes Interesse an roher "Wirklichkeit". Neben dem bewussten Verzicht auf ausgearbeitete Drehbücher und perfekte Inszenierung wurde die Arbeit mit Laiendarstellern zu seinem Markenzeichen – zugespitzt in Lemkes Aussage, er interessiere sich nicht für Schauspieler, sondern für "richtige Menschen" und ihre Geschichten, die er in seinem direkten Umfeld und "auf der Straße" finde.
Ab 1975 drehte Lemke mehrere Filme mit Cleo Kretschmer und Wolfgang Fierek, darunter den Grimme-prämierten "Amore" (1977/1978), in dem eine unscheinbare Gemüsehändlerin gegen einen Vorstadtcasanova zu Felde zieht. Mit Cleo Kretschmer war Lemke auch durch eine langjährige private Beziehung verbunden. Er gilt außerdem als Entdecker von Iris Berben und Christine Zierl alias "Dolly Dollar". Neben seinem Hang zur Wahlheimat München und zur bayerischen Provinz wurde auch Hamburg ein wichtiger Schauplatz für Lemke. Eine eingeschworene Fangemeinde sicherte ihm vor allem "Rocker" (1972), in dem ein alternder, gerade haftentlassener Kleinkrimineller mit seiner Motorradgang den Kiez unsicher macht.
Nach einem Karriereknick infolge eines Kokainprozesses in den 1980er Jahren gelang Lemke 1992 wieder ein Erfolg mit "Die Ratte", der ebenfalls im Hamburger Rotlichtmilieu angesiedelt ist. Auch zwei seiner jüngsten Filme spielen in der Hansestadt: "Träum weiter, Julia!" und "3 Minuten Heroes", der über Laienimprovisationen Alltagsschicksale rund um St. Pauli in den Blick rückt. Seine "Guerilla-Taktik", mit kleinem Budget, ohne Gremiensubventionen und ohne professionelle Schauspieler zu drehen, hat er sich über lange Jahre kontinuierlicher Fernseharbeit hinweg erhalten. Und "Last Minute Jamaika" (2002) über zwei Münchner Praktikantinnen, die Urlaub in der Karibik machen, brachte ihn zumindest wieder in die Nähe von Acapulco, wo seine Kinolaufbahn begann. In einem unterhaltsamen Interview anlässlich seines 65. Geburtstages 2005 räumte er aber auch ein, sogar dem "uncoolen" Deutschland coole Aspekte abgewinnen zu können.
Dies stellte er in seinem nächsten Film dann auch gleich unter Beweis: die Sommerkomödie "Träum weiter, Julia", mit Timo Jacobs und der Laiendarstellerin Julia Spitzner in den Hauptrollen, erzählt von einer jungen Frau, die mit einem ungewöhnlichen Trick einen berüchtigten Frauenhelden ganz für sich alleine zu gewinnen versucht. Mit "3 Minuten Heroes", einem Episodenfilm aus dem Hamburger Rotlichtmilieu, und "Finale", einer Liebesgeschichte zwischen einer aufstrebenden Schauspielerin und einer jungen Prostituierten, blieb er ebenfalls seinem improvisatorischen Stil treu und arbeitete einmal mehr fast ausschließlich mit Amateurdarstellern. Eine klassisch anmutenden Dreiecksgeschichte erzählte er in "Undercover Ibiza": Lemke spielt darin einen Oberst im Ruhestand, der unter dem Vorwand, seinen auf Ibiza verschollenen Sohn zu suchen, dessen Geliebte verführt.
Mit "Dancing with Devils" (2008) legte er dann einen atmosphärischen Genrefilm à la Klaus Lemke vor: im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die nach ihrer Haftentlassung im Hamburger Kiezmilieu einen Neuanfang versucht und von der rachsüchtigen Freundin jenes Mannes verfolgt wird, dem sie einst tatenlos beim Sterben zusah. Bei "Schmutziger Süden" (2010) kehrte Lemke nach München zurück und erzählte von einem jungen Mann aus Hamburg, der in der Isar-Metropole schöne Frauen verführen will. Sehr schnell aber merkt er, dass die Mädchen von heute ganz anders sind als jene von früher.
Unermüdlich dreht Lemke auch mit über 70 Jahren noch weiter: 2011 legte er die Tragikomödie "3 Kreuze für einen Bestseller" vor, über eine Schriftstellerin, die gänzlich talentfrei ist. Im Februar 2012 feierte "Berlin für Helden" Premiere, "ein Berlin-Film aus Münchner Sicht" (Harald Martenstein) über eine Reihe junger Menschen, die in die Hauptstadt kommen, auf der Suche nach Geld und schnellem Sex. In einem bewussten Schachzug Lemkes fand die Uraufführung direkt vor der Berlinale statt, zu der sein Film nicht eingeladen wurde – obwohl Klaus Lemke nicht wenigen Kritikern als einer der letzten authentischen Autorenfilmer Deutschlands gilt. In einer Protestaktion bei der Berlinale-Eröffnungsfeier streckte Lemke den Premierengästen seinen nackten Hintern entgegen, dem Festivaldirektor Dieter Kosslick riet er, besser eine "Koch-Olympiade zu veranstalten".
"Berlin für Helden" startete im April 2012 in den deutschen Kinos.
Auf dem Filmfest München 2014 widmete ihm der neue Kurator Christoph Gröner eine eigene Sonderreihe als Hommage – nachdem Lemke von dem Festival zuvor stets ignoriert wurde. Lemkes folgende Filme feierten dann alle beim Münchner Filmfest Premiere.
Und Filme realisierte er in den nächsten Jahren weiterhin unermüdlich, wie gewohnt als Low-Budget-Produktionen: die Berliner Gaunergeschichte "Kein großes Ding" (2014), die stürmische Ménage-à-trois "Unterwäschelügen" (2016), die selbstreflexive Filmemacher-Story "Making Judith!" (2017), die Frauenpower-Geschichte "Bad Girl Avenue" (2018) und "Neue Götter in der Maxvorstadt", der die Kunst- und Modeszene ins Visier nahm. Die letzten drei Filme entstanden alle in unmittelbarer Umgebung von Lemkes Münchner Wohnung. Bei einem Pop-Up-Event des auf Grund der Corona-Pandemie abgesagten Filmfests München 2020 wurde – wenige Monate vor Lemkes 80. Geburtstag – "Ein Callgirl für Geister" uraufgeführt.
Klaus Lemke starb am 7. Juli 2022, nur einen Tag nach der TV-Veröffentlichung seines letzten Films "Champagner für die Augen - Gift für den Rest", einer Hommage an den Lebensstil der 1970er-Jahre anhand von Ausschnitten seiner eigenen Werke.