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Westdeutschland, frühe 60er Jahre. Noch ist das Land ruhig. Bernward Vesper beginnt sein Studium in Tübingen. Dort besucht er die Rhetorikseminare von Walter Jens. Bernward will schreiben und hackt nachts auf seine Schreibmaschine ein. Gleichzeitig verteidigt er seinen Vater, den von den Nazis gefeierten Blut-und-Boden-Dichter Will Vesper. Das Land, in dem Bernward lebt, erstickt an der Vergangenheit. Der Krieg ist gerade 15 Jahre vorbei, alte Nazis machen wieder Karriere, über Kriegsverbrechen wird nicht geredet, die Republik steht stramm.
Dann lernt Bernward Gudrun Ensslin und deren Freundin Dörte kennen. Kurz darauf leben die Freunde in einer ménage à trois, doch das Dreieck hält nicht lange. Gudrun und Bernward sind verwandte Seelen, es ist der Beginn einer extremen Liebesgeschichte: bedingungslos, maßlos, bis über die Schmerzgrenze hinaus. Gemeinsam brechen sie auf, um die Welt zu erobern.
1964 kommt das Paar in West-Berlin an. In der Mauerstadt werden sie Teil der linken Bohème. Als die SPD einer großen Koalition mit der CDU zustimmt, wenden sich nicht nur Bernward und Gudrun der außerparlamentarischen Opposition zu. Gudrun und Bernward werden Teil eines Aufbruchs, der die ganze Welt erfasst hat: Befreiungsbewegungen, Studentenproteste und Black Panther in den USA, Drogen und Rock ’n’ Roll. Das Rad der Geschichte dreht sich, und für einen Moment scheint es, als könnte man auch seine Richtung ändern: Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt? Dann taucht mit Andreas Baader ein anderer Mann auf, konsequenter, radikaler und bedingungsloser als Bernward. Andreas, Gudrun und Bernward werden von Fliehkräften einer Geschichte erfasst, die sie nicht kontrollieren können.
Quelle: 61. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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„Wer wenn nicht wir“, Andres Veiels auf der 61. Berlinale mit sehr unterschiedlichen Reaktionen uraufgeführter Blick auf die Vorgeschichte der RAF-Terroristen, beginnt mit einem genauen Porträt des Wirtschaftswunder-Deutschland Anfang der Sechziger Jahre. Bernward, Sohn des NS-Schriftstellers Will Vesper, der einst die Rede bei der zentralen „Feier“ zum Auftakt der Bücherverbrennungen in Dresden hielt und 1942 in einem Gedicht Adolf Hitler huldigte als „Herzog des Reiches, wie wir es meinen, bist du schon lange im Herzen der Deinen“, nimmt in Tübingen ein Literaturstudium auf.
„Ich schreibe so, wie wenn man mit der Faust der Gesellschaft in die Fresse haut“: Bernward will in die Fußstapfen seines Vaters treten und Schriftsteller werden. Noch verteidigt er dessen von den Nazis gefeierte Blut-und-Boden-Lyrik, träumt sogar davon, 15 Jahre nach dem Untergang des „Tausendjährigen Reiches“ eine vielbändige Gesamtausgabe der Werke Will Vespers herauszubringen. Wofür er aber selbst die in Burschenschaften und Hilfsverbänden organisierten Alt-Faschisten nicht wirklich begeistern kann.
Als Student des damals schon berühmten Gelehrten Walter Jens, der sehr wohl die Begabung Bernwards erkannt hat und ihn zu Privataudienzen nicht nur empfängt, sondern sogar bekocht, kommt er in Kontakt mit jungen Autoren und Intellektuellen, die sich zur „Gruppe 47“ zusammengeschlossen haben und auch in der Literatur radikal mit der deutschen Vergangenheit brechen wollen. Ein weiterer neuer, vergleichsweise sehr viel politischerer Kreis erschließt sich Bernward, als seine Freundin Dörte Wellheim für einige Tage in den sonnigen Süden verreist und sich ihre Freundin Gudrun Ensslin um den attraktiven, wenn auch etwas verrückten Kommilitonen kümmert.
„Ich will dich so lieben, dass du nicht mehr zu einer anderen Frau gehen musst“: Die sich nach Dörtes Rückkehr kurzerhand anbahnende ménage á trois hält nicht lange, sie macht den Weg frei für eine extreme Liebesbeziehung, die vielfachen ökonomischen und politischen Belastungen ausgesetzt ist. Bernward und Gudrun werden Kleinverleger und scheitern naturgemäß an dem wahnwitzigen Spagat, Will Vespers völkische Schriften und gleichzeitig sozialistische Manifeste gegen Atomwaffen zu edieren.
„Bei ihm verwirklicht sich die Liebe erst durch den Tod. Durch Gewalt, durch Mord wird es erst möglich, dass Sexualität gelebt wird“: Als Gudrun ein Stipendium für eine Doktorarbeit über Hans Henny Jahnn erhält, ziehen beide 1964 in die Frontstadt West-Berlin, wo das „Gruppe 47“-Mitglied Klaus Roehler sie in die linke Bohème einführt. Zwei Jahre später kann ihr großes Vorbild Willy Brandt, dessen Kanzlerkandidatur sie bei der Bundestagswahl 1965 noch öffentlich unterstützt haben, nicht verhindern, dass das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger Kanzler einer Großen Koalition wird. Die Sozialdemokratie ist für die jungen Idealisten kein Synonym mehr für einen politischen Neuanfang.
Wo über Kriegsverbrechen der Deutschen geschwiegen wird und alte Nazis wieder Karriere machen können, radikalisiert sich die zum Aufbruch in eine neue Freiheit drängende Jugend nicht nur in der Mauerstadt. Gudrun und Bernward schließen sich der Apo-Bewegung um Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann an, die einen Bombenanschlag auf die Gedächtniskirche planen, um das „knisternde Vietnamgefühl“, die Bilder vom Einsatz des verheerenden Napalm sind um die Welt gegangen, nach Deutschland zu importieren. Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, Studentenproteste, Black Power in den USA – das Rad der Geschichte kommt mächtig in Bewegung. Und auch Gudrun und Bernward springen auf, verlegen die Schriften des Black Panther-Vordenkers Stokely Carmichael: Wer, wenn nicht wir? Und: Wann, wenn nicht jetzt?
Gudrun wird schwanger, eine konventionell-bürgerliche Verlobungszeremonie bringt die beiden Familien Vesper und Ensslin zusammen, aber es reicht nur für eine kurze Zeit des Atemholens: Angesichts des Schah-Besuches und seiner blutigen Folgen will Gudrun Veränderung nicht mehr nur verbal fordern, sie will handeln – und findet in Andreas Baader einen bedingungslosen Mitstreiter. Die Spirale der Gewalt dreht sich immer schneller: Kaufhaus-Brandstiftung, Dutschke-Attentat. „Jetzt gibt’s Krieg“...
Andres Veiel versucht einen möglichst authentischen, nicht durch die Bild-Ikonen der RAF-Terroristen verstellten Blick auf die 1960er Jahre zu werfen und Zeitgeschichte, immer wieder in schwarz-weißen Dokfilm-Aufnahmen in den Spielfilm geschnitten, unmittelbar mit den Biographien der drei Protagonisten zu verknüpfen. Die damit verbundene Entmythisierung des Terroristen-Idols Gudrun Ensslin ist dem Regisseur, der nach dem Studium von Quellen wie ihren Briefen und Tagebuchaufzeichnungen zu einem dem bisherigen öffentlichen Bild völlig widersprechenden Eindruck gekommen ist, auch prompt zum Vorwurf gemacht worden. Wie auch die im Übrigen ebenso biographisch belegte Verbindung Andreas Baaders zur Schwulen- und Transenszene.
„Wer wenn nicht wir“, am 17. Juli 2014 in der ARD erstausgestrahlt, ist unbequem, weil er mit Vor-Urteilen, zu denen natürlich auch die grandiosen Bilder von Uli Edels Action-Streifen „Der Baader Meinhof Komplex“ aus dem Jahr 2008 mit Johanna Wokalek als Gudrun Ensslin und Moritz Bleibtreu als Andreas Baader gehören, aufräumt. Andererseits kann sein viel leiserer, gründlicherer Film mit diesen Bildern – und Schauspielern - nur schwerlich konkurrieren. Was besonders auf August Diehl zutrifft, der mit Bernward Vesper die Hauptfigur verkörpert – und das seltsam emotionslos. Aber auch auf Alexander Fehling, der die offenbar allseitige, nicht nur auf die RAF-Frauen beschränkte Faszination Baaders, die auch eine ganz körperliche gewesen sein muss, nicht 'rüberbringt. Lena Lauzemis dagegen muss als „die“ Entdeckung des Films bezeichnet werden, obwohl sie in große Fußstapfen zu treten hatte - in die des Weltstars Barbara Sukowa, welche 1981 in Margarethe von Trottas Film „Die bleierne Zeit“ Gudrun Ensslin verkörpert hatte.
Pitt Herrmann