Das Weimarer Kino zwischen Klassik und Avantgarde
Neben dem Neuen Deutschen Film prägt das Kino der Weimarer Republik bis heute die internationale Wahrnehmung des deutschen Filmschaffens. Denn die erste deutsche Demokratie, die nach Ende des Ersten Weltkriegs das Wilhelminische Kaiserreich ablöste, zeitigte trotz und wegen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Krisen die Etablierung des Mediums Film als gesellschaftlich bedeutende Kunstform. So fanden überdurchschnittlich viele deutsche Produktionen aus diesem oft zum "Goldenen Zeitalter"; der Kinematographie stilisierten Zeitraum Eingang in den Kanon der internationalen Filmgeschichte. Darunter finden sich Filme wie Robert Wienes "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920), Paul Wegeners "Der Golem, wie er in die Welt kam" (1920), Friedrich Wilhelm Murnaus "Der letzte Mann" (1924), Fritz Langs "Metropolis" (1926), oder G. W. Pabsts "Die Büchse der Pandora" (1929), deren historische Bedeutung unstrittig ist.
Das Weimarer Kino lässt sich jedoch nicht allein auf diese und andere Klassiker reduzieren, denn die deutsche Filmlandschaft zwischen 1918 und 1933 war gekennzeichnet durch eine ästhetische, technische, ökonomische und inhaltliche Vielfalt.
Film wird Kunst
Bereits vor Kriegsende markierte die Gründung der Universum Film-AG (Ufa) am 18. Dezember 1917 einen entscheidenden Wandel in der Filmproduktion. Die wechselvolle Entwicklung der Ufa – ursprünglich ein Zusammenschluss des Messter-Konzerns, der Projektions-AG "Union" (PAGU) und der deutschen Tochterfirmen der Nordisk – sollte fortan maßgeblich das Weimarer Kino beeinflussen. PAGU-Gründer Paul Davidson setzte als erster Produktionschef des neuen Konzerns seine erfolgreiche Arbeit mit Ernst Lubitsch fort, der mit "Madame Dubarry" (1919) einen der ersten großen Auslandserfolge nach dem Krieg landen konnte. Vergleichbar opulent inszenierte Joe May – der sich 1919 mit dem dreistündigen Episodenfilm "Veritas vincit" als Experte für aufwändige Produktionen empfohlen hatte – seine ebenso epischen wie exotischen Abenteuerfilme wie "Das indische Grabmal" (1920) und die auf sechs Teile konzipierte Serie "Die Herrin der Welt" (1920).
Klassiker und Kintopp
Neben der Ufa konnte sich in den ersten Jahren der Weimarer Republik die 1915 von Erich Pommer gegründete Decla Film Gesellschaft profilieren. Neben populären Publikumsfilmen – etwa Fritz Langs Abenteuerserie "Die Spinnen" (1919) – fand sich im Programm der Decla "Das Cabinet des Dr. Caligari", eines der einflussreichsten Werke der Filmgeschichte: "Das Filmkunstwerk muß eine lebendige Grafik werden" lautete das seitdem vielfach zitierte Credo des Filmarchitekten Hermann Warm. Dieser hatte mit seinen Bauten für Robert Wienes suggestives Drama maßgeblichen Anteil daran, dass der Begriff Expressionismus insbesondere im Ausland synonym für den deutschen Film der 1920er Jahre stand und bisweilen bis heute steht. So werden unter dem Schlagwort häufig verschiedenste Filme zusammengefasst, darunter etwa Wienes in Vergessenheit geratenes Nachfolgewerk "Genuine" (1920), aber auch F. W. Murnaus prototypischer Horrorfilm "Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens" (1921) oder das psychologische Erwachsenenmärchen "Das Wachsfigurenkabinett" (1924) von Paul Leni.
Zu ihrer Zeit existierten diese exponierten "Kunstfilme" neben den populären Genres. Dazu zählten Abenteuer-, Historien- und Kriminalfilme – letztere rekurrierten auf die bereits in den 1910er Jahren etablierte Form der Detektivserie – und selbstverständlich die Komödie in all ihren Spielarten. Hinzu kamen zeitspezifische Erscheinungen wie der Sitten- und Aufklärungsfilm, wobei das "sozialhygienische Filmwerk" "Anders als die Anderen" (1919) von Richard Oswald – ein Film, der offen die Kriminalisierung der Homosexualität durch den Paragraphen 175 anprangerte – zu den wichtigsten Arbeiten dieser Art zählt. Dass im Kino der Weimarer Republik vormals tabuisierte oder verbotene Inhalte aufgegriffen werden konnten, ist Folge der Demokratisierung von Gesellschaft und Kunst: Am 12. November 1918 hatte der Rat der Volksbeauftragten die staatliche Zensur für abgeschafft erklärt. In der Folgezeit unterwarfen sich die großen Verleiher freiwillig den Entscheidungen der Filmprüfstelle in Berlin, bevor am 12. Mai 1920 mit dem Reichslichtspielgesetz wieder ein staatliches Zensur-Reglement eingeführt wurde.Die offensive Auseinandersetzung mit Sexualität und bürgerlicher Moral zeichnet auch G. W. Pabsts Spielfilme "Die freudlose Gasse" (1925) und "Die Büchse der Pandora" aus. In Abgrenzung zu den allegorischen Bilderwelten der expressionistischen Klassiker wird das Milieudrama "Die freudlose Gasse" gelegentlich den späteren Werken der "Neuen Sachlichkeit" im Weimarer Kino zugerechnet. Deren Anspruch eines sozialen Realismus" jedoch tritt bei Pabst offensichtlich hinter den inszenatorischen Gestaltungswillen zurück.
"Film-Europa" kontra Hollywood
1923 wurde Erich Pommer Produktionschef der Ufa – die bereits 1921 die Decla-Bioscop übernommen hatte – und forcierte sein Konzept einer durch europäische Kooperationen kommerziell und künstlerisch konkurrenzfähigen Filmindustrie, die sich mit Hollywood messen kann. Tatsächlich brachten aufwändige Produktionen wie Langs Zweiteiler "Die Nibelungen" (1924) Prestige und Besucherrekorde im Inland. Im selben Jahr demonstrierte der Kameramann Karl Freund in Murnaus Drama "Der letzte Mann" eindrucksvoll die Verfeinerung seiner dynamischen Stummfilmfotografie, deren Plansequenzen und Fahrten unter dem Schlagwort der "entfesselten Kamera" internationale Berühmtheit erlangten. Und mit E. A. Duponts "Varieté" (1925) landete die Ufa unter Pommer einen veritablen Auslandserfolg, der die finanziellen Risiken der Ufa zu rechtfertigen schien. Doch während Pommer und seine Starregisseure kostenintensiv den "Ufa-Stil" als internationale Qualitätsmarke etablierten, verschlechterte sich die ökonomische Situation der Filmproduktion im ohnehin instabilen Wirtschaftsgefüge Deutschlands. Versuche, den nationalen Markt durch Einfuhrbeschränkungen für ausländische Filme zu kontrollieren erwiesen sich letztlich als wenig erfolgreich – ebenso wie die Kooperation der angeschlagenen Ufa mit den amerikanischen Konkurrenten Paramount und Metro-Goldwyn-Mayer im Rahmen des Parufamet-Abkommens.
So nahmen über die Jahre zahlreiche Künstler die Angebote der amerikanischen Studios an, um ihre Arbeit unter besseren Rahmenbedingungen in den USA fortzusetzen: Ernst Lubitsch beispielsweise hatte Deutschland bereits 1922 verlassen; Paul Leni sowie F. W. Murnau folgten ihm später nach. Die Krise der unterfinanzierten Ufa manifestierte sich dramatisch im Januar 1927, als Langs ehrgeiziges Zukunftsspektakel "Metropolis" in die Kinos kam: Einem Rekordbudget von 5,3 Millionen Goldmark standen nur mäßige Einspielergebnisse im In- und Ausland gegenüber, und im März desselben Jahres übernahm ein Konsortium unter Federführung des deutschnationalen Medienindustriellen Alfred Hugenberg den fast bankrotten Ufa-Konzern – nicht zuletzt in Abwehr ausländischer Interessenten.
Avantgarde in Krisenzeiten
Trotz der andauernden wirtschaftlichen Probleme konnten sich im Kino der Weimarer Republik immer neue Ausdrucksformen herausbilden: 1921 etwa präsentierte Walther Ruttmann das abstrakte Form- und Farbenwerk "Lichtspiel Opus I", das zu diesem Zeitpunkt als der erste "absolute Film" in Deutschland galt. Im Mai 1926 feierte dann mit Lotte Reinigers in Scherenschnitt-Technik produziertem "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" wiederum der erste abendfüllende Animationsfilm der Welt seine Uraufführung.
Unter ganz anderen Vorzeichen stilisierte der Ufa-Kulturfilm "Wege zu Kraft und Schönheit" (1925) seine Subjekte, und 1927 war es erneut Ruttmann, dessen dokumentarischer Montagefilm "Berlin. Die Sinfonie der Großstadt" – auch der "Neuen Sachlichkeit" zugerechnet – für Aufsehen sorgte. Und noch vor der flächendeckenden Einführung des Tonfilms artikulierte Phil Jutzi in "Mutter Krausens Fahrt ins Glück" das politische Potential des Mediums, während Robert Siodmak und Billy Wilder zusammen mit anderen experimentierfreudigen Kreativen die Alltagspoesie der "Menschen am Sonntag" einfingen. Aber das Weimarer Kino zeitigte nicht nur kreative Aufbrüche und Neuorientierungen in nahezu allen Bereichen der Filmproduktion – ob nun Regie, Buch, Schauspiel, Kamera oder Architektur –, sondern auch in der philosophischen und publizistischen Beschäftigung mit dem Gegenstand Film: Die maßgeblichen Werke von Kritikern und Theoretikern wie Bela Balazs, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer und Lotte H. Eisner sind Produkt oder Reflektion dieser Zeit.
Das Ende des "Goldenen Zeitalters"
Der Tonfilm brachte neben technischen und inszenatorischen Herausforderungen neue Stars – etwa Marlene Dietrich in "Der blaue Engel" von Josef von Sternberg – und vor allem ein neues Publikum, dass insbesondere die Ufa mit ihren Musikfilmen für sich gewinnen konnte. So lieferte Wilhelm Thieles "Die Drei von der Tankstelle" (1930) eine prototypische Vorlage für weitere erfolgreiche und exportfähige Tonfilm-Komödien wie Erik Charells "Der Kongreß tanzt" (1931). Im Mai 1931 kam Fritz Langs erster Tonfilm in die Kinos: "M" – eine Produktion von Seymour Nebenzahls unabhängiger Nero-Film. Zwei Jahre später, am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt, was das unmittelbare Ende der ersten deutschen Demokratie bedeutete. So wie schon 1918 Aspekte des Kinos der Kaiserzeit in der Weimarer Republik ihre Fortsetzung fanden, so kamen auch im NS-Film einzelne Stilprinzipien und Produktionsstrategien der Zeit vor 1933 weiterhin zur Anwendung. Doch für die Mehrheit der Persönlichkeiten, die das Weimarer Kino vor und hinter der Kamera geprägt haben, gab es im nationalsozialistischen Deutschland keine Zukunft mehr.