Deutschland, revisited: Zum jungen deutschen Film 1998-2004
Eine junge Frau will so leben, wie die anderen es ihr vormachen. Weil ihr die Nachahmung nicht gelingt, wählt sie die brutalste Form der Persönlichkeitsaneignung – sie tötet und füllt die freigewordene Rolle aus: Sören Voigts "Identity Kills" (2003) liefert nicht nur das Psychogramm eines Menschen mit schwachen Ich-Grenzen, sondern nebenbei auch eine ironische Parabel auf die pluralistischen Befreiungsschläge, die das deutsche Kino endlich wieder zu einem spannenden cineastischen Ort machen.
Hier wird das Kino der Väter entstaubt – notfalls mit Gewalt, meistens mit souveräner Gelassenheit – und der Blick geschärft, um den mentalen Zustand des Landes auszuleuchten. Die mörderische Pointe in "Identity Kills" kann da durchaus als Verweis auf einen Paradigmenwechsel gelesen werden. Denn die fast immer gleichen Identitätskonstruktionen, mit denen in den Genre-Variationen der 1980er und 1990er Jahre gearbeitet wurde, scheinen nicht mehr zu greifen. Wenn die verzagte Heldin in "Identity Kills" eine dynamische und optimistische Mittzwanzigerin erschlägt, kann man das durchaus als Stellvertretermord an all den dynamischen und optimistischen Mittzwanzigerinnen deuten, die in den vielen Beziehungskomödien der beiden vorangegangenen Dekaden dem Sinn (oder auch nur dem Mann) des Lebens hinterherliefen.
Imitationen, Grenzgänger und neue Interessen
Die Sinnstiftungsmodelle im deutschen Film der 1980er und 1990er Jahre fielen nicht selten bescheiden aus. In den Imitationen amerikanischer Genre-Vorbilder – also in Thrillern und vor allem Komödien – imitierte man die darin verbreiteten Weltbilder oft gleich mit. Die durch Migration, Marktveränderungen und Globalisierung sich stetig verändernden sozialen Strukturen deutscher Gegenwart wurden selten bedacht. Und statt mentalitätsgeschichtlicher Reflexionen sah man im Kino nostalgische Bilderbogen, in denen Geschichte als schicksalhaftes Ereignis ausgestellt wurde. Ein Bewusstsein für das Land, in dem man lebt, konnte auf diese Weise nicht entstehen.Natürlich gab es immer auch Grenzgänger oder Regisseure, die das amerikanische Genrekino adaptierten, um deutsche Sachlagen zu bearbeiten. Die frühen Kiez-Krimis von Lars Becker oder das Polizei- und Gangster-Kino von Dominik Graf etwa öffneten Fenster zur psycho-ökonomischen Wirklichkeit. Jan Schütte erzählte in seinen Milieustudien Geschichten von und aus der sozialen Peripherie; Monika Treut spielte in ihren Filmen mit den Mustern geschlechtlicher Identitäten und brach sie dadurch auf. Trotzdem erscheinen diese Arbeiten im Rückblick eher als vereinzelte filmische Abenteuer- oder Forschungsreisen und nicht als sich ergänzende Beiträge zu einem pluralistischen Deutschlandbild.In den Produktionen der letzten Jahre lässt sich dagegen ein umfassendes, durchaus einigendes Interesse an gesellschaftlichen Phänomenen und den Abdrücken, die sie im Privaten hinterlassen, ausmachen. Sie erzählen ebenso von politischen Systemschwankungen wie von Abstürzen in eine dysfunktionale Innerlichkeit. Wobei es weniger um den Fingerzeig auf soziale oder psychische Problemzonen geht als vielmehr um die unerzählten Dramen, die sich dort abspielen.
Speckgürtel und Einbauküchen
Einer, der in den letzten Jahren mit seinen Arbeiten für das Fernsehen wichtige Akzente gesetzt hat, ist Christian Petzold. Nach der schwierigen Produktion seines für das Kino inszenierten und schließlich mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichneten Dramas "Die innere Sicherheit" (2000) lieferte er mit "Toter Mann" (2002) und "Wolfsburg" (2003) gleich zwei TV-Filme in Folge.Petzold gehört zu jenen Autorenfilmern, die ihre Dramen bislang in den prosperierenden (oder ehemals prosperierenden) Regionen der alten BRD ansiedeln – zusammen mit Angela Schanelec und Thomas Arslan ist sein Namen mit dem Begriff der neuen "Berliner Schule" assoziiert. Stadt-, Verkehrs- und Landschaftsplanung werden in seinen Filmen mit den Konflikten der Helden vernetzt und öffnen auf diese Weise den Blick für gesellschaftliche Widersprüche. So verstecken sich die vom Staat gesuchten Ex-Terroristen in "Die innere Sicherheit" ausgerechnet in einer verwaisten Industriellenvilla im Speckgürtel von Hamburg, der fatalistische Film Noir "Toter Mann" wird vor der optimistischen Wohlstandsarchitektur Stuttgarts angesiedelt, und das Fahrerfluchtdrama "Wolfsburg" nimmt bezeichnenderweise in Deutschlands durchfunktionalisierter Automobilstadt seinen Lauf.
Von ökonomischer Sicherheit zur innerer Zerrissenheit
Diese Verknüpfung von Repräsentationsräumen ökonomischer Sicherheit und innerer Zerrissenheit ist im jungen deutschen Film häufig zu entdecken. So auch in Ulrich Köhlers Pubertätsstudie "Bungalow" (2002), die in der hessischen Provinz spielt. Hier erscheinen die idealisierten Wohnwelten der 1970er Jahre, die dem Film den Titel geben, wenig anheimelnd, und das Familienleben, das sich eigentlich darin abspielen soll, findet gar nicht erst statt. Private Idyllen sucht man im jungen deutschen Film vergeblich. Das hat weniger mit der ideologischen Ablehnung bürgerliche Lebensentwürfe zu tun als mit gesundem Misstrauen gegenüber jeglichen privaten Gemeinschaften. Die Erfahrungen der jungen Autorenfilmer mit den sozialen Gegenmodellen der Achtundsechziger-Generation mag sie in der Erkenntnis gestärkt haben, dass auch antibürgerliche Konzepte keine Garanten für ein harmonisches Miteinander sind.Zu einer gewissen Meisterschaft in der Durchleuchtung von Paaren, Familien und Cliquen hat es Stefan Krohmer gebracht: In "Ende der Saison" (2001) lässt er eine krebskranke Mutter und ihre Tochter zu einem letzten Gefecht antreten. Die Dialoge legen ein Geflecht aus Abhängigkeiten und Aversionen frei, geben dem Zuschauer aber nicht die Genugtuung moralischer Eindeutigkeiten. Dass auch in alternativen Strukturen keine allgemeingültigen privaten Sicherungssysteme zu finden sind, exemplifizierte Krohmer im Generationsporträt "Sie haben Knut" (2003), in dem er eine Gruppe politbewegter Charaktere der frühen 1980er Jahre in eine Skihütte sperrt. Die Selbstzerfleischung, die sie sich zwischen Skigymnastik und Solidaritätsbekundungen liefern, ähnelt nicht von ungefähr der jenes Journalisten-Clans in Krohmers "Familienkreise" (2003). Dass die stillen Erniedrigungen, die hierein ein in die Heimat zurückgekehrter Auslandskorrespondent seinen Lieben angedeihen lässt, sich ausgerechnet vor dem Hintergrund Bonns abspielen, kann als mentalitätsgeschichtlicher Hinweis gelesen werden: Die Patriarchen der alten BRD sind durchaus noch am Werken und Wüten.
Wohlstands- und Problemzonen
Der deutsche Film ist im Umbruch, und das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen werden tatsächlich Terrains, die – wie z.B. kleine und "kranke" Existenzkämpfe – zuvor für die Ausleuchtung als unattraktiv aussortiert worden waren, neu erschlossen; zum anderen rückt man bekannte Soziotope in ein neues Licht. Die immer gleichen Panoramen der Metropolen werden von unbekannten Ansichten verdrängt. Auch öffnen Geschichten, in denen Migranten weniger als Problemstaffage denn als veritable Filmhelden vorkommen, neue Perspektiven auf Berlin oder Hamburg. Außerdem wurden erzählerische Strategien entwickelt, die dem Umstand Rechnung tragen, dass Deutschland ein Transitland ist. So führen viele Flüchtlingsdramen über die Staatsgrenze hinaus – und wieder zurück. Oft enden sie dann in einer Region, die in der Topographie des deutschen Films während der 1990er kaum eine Rolle gespielt hat: den neuen Bundesländern. Doch auch die vordergründig unspektakulären Gegenden Westdeutschlands werden nun endlich auf ihren narrativen Mehrwert überprüft: Unglamouröse Wohlstandszonen bilden ein ideales Setting, um darin mentalitätsgeschichtliche Spuren zur alten BRD zu sichern. So sind auch und gerade jenseits der großen Publikumshits wie "Lola rennt" und "Good bye, Lenin" Entdeckungen zu machen, die belegen, dass die spannenden Impulse im deutschen Film aus der Peripherie kommen – risikobereit, erzählfreudig und mit einem Gespür für die Symptome der Gegenwart.
Quelle: Christian Buß, Birgit Glombitza (Red.): "Deutschland, revisited". (Katalog zur gleichnamigen Retrospektive im Kommunalen Kino Metropolis Mai - Juli 2004). Hamburg: Kinemathek Hamburg e.V., 2004.Für die Reihe "Deutschland, revisited", die von Mai bis Juli 2004 im Hamburger Metropolis- Kino lief, stellten die Journalisten Birgit Glombitza und Christian Buß 22 deutsche Kino- und Fernsehwerke aus den letzten fünf Jahren zusammen. Der Text stammt aus dem dazugehörigen Katalog. Er soll als Navigationshilfe durch eine Filmlandschaft dienen, die stilistisch und inhaltlich oft unübersichtlich ist, deren unterschiedliche Akteure aber allesamt ein untrügliches Gespür für die Phänomene der Gegenwart beweisen.