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Der Wolfsburger Autoverkäufer Phillip überfährt in einem unbedachten Moment einen kleinen Jungen. Seine verängstigte Flucht wird ihm nicht helfen. Der Augenblick, in dem die Sicherheit seines Wageninneren durch die Schuld am Tod des Jungen zerstört worden ist, wird nach und nach alle Orte dieses Films infizieren: das Heim, das er sich mit seiner Freundin Katja kostspielig eingerichtet hat, und das gläserne Autohaus, in dem Phillip seinen Aufstieg erlebte.
Seine unerklärte Suche nach der Mutter des getöteten Jungen führt Phillip zu Laura, die in verlassenen Hallen eines riesigen Einkaufszentrums Tiefkühlware nachfüllt. Ihre Begegnungen sind flüchtig und von Phillip arrangiert, ohne dass er sich offenbart. Langsam entwickelt sich eine Beziehung zwischen beiden, die weniger und damit zugleich mehr ist als ein klassisches Liebesdrama.
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Christian Petzolds eindringliches Kammerspiel, dessen Drehbuch auf einem Roman von Georges Simenon fußt, wurde 2003 auf der Berlinale mit außerordentlich positiven Reaktionen beim Publikum wie bei der Kritik uraufgeführt. Es war, gleich in mehreren Sparten nominiert, ein heißer Anwärter auf den Deutschen Filmpreis – bis „Gegen die Wand“ auftauchte und förmlich alles überrannte.
Dass jedoch noch nicht einmal der Darstellerinnen-Preis für Nina Hoss heraussprang, ist ein Ärgernis. Denn die 1975 geborene Schauspielerin, die im zarten Alter von 14 Jahren erstmals auf der Bühne stand und 1997 in „Das Mädchen Rosemarie“ ihren ersten großen Filmerfolg landete, gehört zum Besten, was Deutschland Mitte der Nullerjahre aufzubieten hatte – im Theater wie auf der Kinoleinwand.
Nina Hoss ließ sich von ihren zahlreichen Leinwand-Erfolgen nicht blenden und absolvierte eine klassische Ausbildung an der renommierten Berliner Ernst-Busch-Hochschule, an die sie übrigens weitaus positivere Erinnerungen hat, als sie seinerzeit der Dokumentarfilm „Die Spielwütigen“ vermittelte. Nina Hoss, die weiterhin am Deutschen Theater Berlin und im Berliner Ensemble auf den Bühnenbrettern stand, macht „Wolfsburg“ zu einem Ereignis: Sie spielt eine Mutter, die nach einem Schicksalsschlag völlig aus dem Gleichgewicht gerät und dennoch über sich hinauswächst.
Philipp Wagners Fahrerflucht scheint zunächst folgenlos zu bleiben, denn der Junge erwacht in der Klinik aus dem Koma und die Polizei sucht nach einem roten Ford statt Philipps NSU-Oldtimer RO 80. Um sich abzulenken, fährt er mit seiner Verlobten Katja in den sonnigen Süden auf Urlaub. Währenddessen stirbt Lauras Kind und die Mutter zieht sich geradezu autistisch immer mehr zurück. Sie kommt bei ihrer Freundin Vera unter und macht sich zusammen mit ihr auf die Suche nach dem Täter. Sie klappern rund um Wolfsburg alle Autohäuser und Schrottplätze ab, um den beschädigten Kotflügel des Unfallfahrzeugs zu finden.
Laura, die schon früher einige Selbstmordversuche unternommen hat, springt aus Verzweiflung in den Fluss – und ausgerechnet Phillip Wagner fischt sie aus den Fluten. Die beiden kommen sich unendlich langsam näher, ohne zunächst voneinander zu wissen: Philipp, inzwischen von seiner eifersüchtigen Verlobten auf die Straße gesetzt, vermittelt Laura ein von ihr lange vermisstes Gefühl von Geborgenheit und Nähe. Doch wie weit kann Philipp, der inzwischen um seine Verstrickung in Lauras Geschichte weiß, diesen Drahtseilakt treiben?
„Wolfsburg“ ist sicherlich auch ein sozialkritischer Film, der nicht zufällig in „der“ deutschen Autostadt spielt, obwohl von ihr selbst nur wenig gezeigt wird. Denn Christian Petzold zeigt Menschen, die sich inmitten des materiellen Wohlstands einsam und alleingelassen fühlen. Wie Philipp, der den Aufstieg vom Garagenschrauber zum Verkaufsleiter nur durch die Liaison mit der Schwester seines Chefs schaffte und vom Schwager nie akzeptiert wurde. Wie Laura, die im Supermarkt Tiefkühlware einsortiert und sich den Nachstellungen des Abteilungsleiters erwehren muss.
In erster Linie aber ist „Wolfsburg“ ein bei allem Purismus der filmischen Mittel nervenaufreibendes Psycho-Kammerspiel mit zwei herausragenden Protagonisten: Benno Fürmann als smarter, erfolgsorientierter Aufsteiger, hinter dessen Fassade ein Kampf um Leben und Tod tobt. Und Nina Hoss als psychisch gefährdete Frau, die wie eine Besessene um Aufklärung der Tat bemüht ist, dafür ungeahnte Kräfte freisetzt und am Ende blutig Rache nimmt – nicht ohne dem Täter-Opfer noch eine letzte (Überlebens-) Chance zu geben.
Pitt Herrmann