Berlin in Echtzeit. Die "Berliner Schule" und neue Perspektiven Richtung Osten
Aus der Perspektive des jüngeren deutschen Films erscheint auch die Metropole Berlin nicht länger als verheißungsvolle, weil junge Kapitale. In Wolfgang Beckers "Das Leben ist eine Baustelle" (1997) taugte die wieder vereinigte Stadt noch als rauher, aber romantischer Abenteuerspielplatz, der junge Leute eine Weile vom Erwachsenwerden ablenken konnte. Und in Tom Tykwers "Lola rennt" (1998) bildete sie die Rennstrecke für energetische Teens und Twens, denen die Berliner Republik viele Optionen anzubieten schien.
Die Exponenten der neuen "Berliner Schule" - Christian Petzold, Thomas Arslan, Angela Schanelec - haben nun für ihren diskreten Realismus das Tempo drastisch gedrosselt. Bei ihnen erscheint die Hauptstadt, allen hochfliegenden Phantasien von neuem Glamour und Neuer Mitte zum Trotz, als ein Ort der Enddreißiger, die liebgewonnenen Utopien nachhängen und doch längst im saturierten Leben angekommen sind.
Unser langsames Leben
So wie die Protagonisten in Schanelecs Film "Mein langsames Leben" (2001), in dem die Regisseurin ihren Blick durch einen Alltag flanieren lässt, der sich nicht zwischen Banalem und Bedeutsamem entscheiden mag und sich gerade dadurch zu immer feineren Handlungskapillaren verästelt. Zwischen Beobachten, Beschreiben und Erzählen bewegt sich auch Thomas Arslan in "Der schöne Tag" (2001). Arslan begleitet eine junge Türkin bei ihren alltäglichen Verrichtungen, kontert dabei die Zielstrebigkeit des Schritts mit der Flatterigkeit ihres Gefühls und skizziert mit diesem vagen Widerspruch die Mentalität eines Bezirks, nämlich Kreuzberg, gleich mit.Schanelec und Arslan geht es um die schlüssige Dramaturgie eines Moments, nicht um das Konstrukt einer Geschichte. Um Menschen, deren innere Suche in äußere Bewegung übersetzt wird. Gar nicht mehr auf der Suche zu sein scheint indes die junge Phlegmatikerin, der Maria Speth für "In den Tag hinein" (2002) durchs nächtliche Berlin folgt. Hier besteht die Metropole vor allem aus verödeten Tankstellen und Parkplätzen, ökonomische und soziale Wertsteigerungsversprechen werden nicht gegeben. Und die bekannte Weltstadt-Ikonographie sucht man, wie bei allen neuen Berliner Filmen, vergeblich.
Good bye, Mauerfall
In Hannes Stöhrs "Berlin is in Germany" (2001) tauchen Teile dieser Weltstadt-Ikonographie wieder auf - allerdings in befremdlicher Form. Der Ostberliner Fernsehturm ragt hier wie die letzte Koordinate eines untergegangenen Systems über die Dächer der Stadt. Für den Helden des Films, einen Ostdeutschen, der kurz vor der Wende ins Gefängnis gekommen ist und nun ins wieder vereinigte Berlin entlassen wird, stellt der Alexanderplatz die einzige Orientierungshilfe in einer unübersichtlich gewordenen Welt dar. Das Drama zeichnet gleichsam eine der Grundbewegungen des deutschen Films nach: So wie für den Inhaftierten nach elf Jahren das Gefängnistor aufgeht, weiteten die Regisseure ein ganzes Jahrzehnt nach dem Mauerfall endlich umfassend ihr Sichtfeld Richtung Osten.Andreas Kleinert gelingt dies mit seiner "Taxi Driver"-Variation "Wege in die Nacht" (1999), in dem ein ausgemusterter VEB-Leiter mit einer Selbstjustiz-Gang durch die Berliner U-Bahnen zieht. Auf diese Weise wird vom identifikatorischen Vakuum berichtet, durch das sich die Verlierer der Wiedervereinigung schlagen müssen. Außerdem geben Milieustudien wie Andreas Dresens "Die Polizistin" (2001) oder "Halbe Treppe" (2002) Auskunft über die spezifischen Probleme an den Rändern Ostdeutschlands, ohne die Charaktere auf Sozialreportageformat zu schrumpfen. Die Dringlichkeit, die die in Rostock respektive Frankfurt/Oder angesiedelten Geschichten vermitteln, mag darauf zurückzuführen sein, dass sich die gefühlte ökonomische Situation Gesamtdeutschlands sukzessive der realen in den neuen Bundesländern angleicht. In Zeiten, da das Solidarprinzip zur Disposition steht, stellt man sich auch im Westen die Frage: Wie lebt es sich eigentlich mit der Dauerkrise?
Straßen und Ströme, Waren und Währungen
Berlin ist aber auch, wie das Land insgesamt, Transitraum. Über alle subkulturellen Biotope hinweg zeigt Achim von Borries in "England!" (2000) die Stadt als Durchgangslager und ewiges Provisorium: Das spröde Roadmovie begleitet einen Ex-Sowjetarmisten, der seit Tschernobyl hoffnungslos verstrahlt ist, von der Oder bis zum Ärmelkanal auf seinem Weg ins gelobte Königreich und legt dabei in der wieder vereinigten Metropole einen Zwischenstopp ein. Berlin, der leuchtende Westen - für die meisten Flüchtlinge in Hans-Christian Schmids "Lichter" (2003) muss dieses Ziel eine Fata Morgana bleiben, während sich dies- und jenseits der Oder ungeniert die Emissäre eines enthemmten Kapitalismus ausbreiten. An dieser Schnittstelle zwischen westlichem Kapitalfluss und dem Flüchtlingsstrom aus dem Osten betrachtet Schmid das Transitgeschäft der Waren, Körper und Emotionen - und zwar konsequenterweise von beiden Ufern aus.
Quelle: Christian Buß, Birgit Glombitza (Red.): "Deutschland, revisited". (Katalog zur gleichnamigen Retrospektive im Kommunalen Kino Metropolis Mai - Juli 2004). Hamburg: Kinemathek Hamburg e.V., 2004.Für die Reihe "Deutschland, revisited", die von Mai bis Juli 2004 im Hamburger Metropolis- Kino lief, stellten die Journalisten Birgit Glombitza und Christian Buß 22 deutsche Kino- und Fernsehwerke aus den letzten fünf Jahren zusammen. Der Text stammt aus dem dazugehörigen Katalog. Er soll als Navigationshilfe durch eine Filmlandschaft dienen, die stilistisch und inhaltlich oft unübersichtlich ist, deren unterschiedliche Akteure aber allesamt ein untrügliches Gespür für die Phänomene der Gegenwart beweisen.