Die 1960er Jahre

Nach dem Kinoboom der 1950er Jahre traf die Krise insbesondere die Theaterbesitzer völlig unvorbereitet. Die strukturellen, wirtschaftlichen und künstlerischen Defizite der bundesdeutschen Filmwirtschaft, von den Glanzjahren nur verdeckt, offenbarten sich zu Beginn der 1960er Jahre schonungslos: Spektakuläre Firmenzusammenbrüche erschütterten die gesamte Branche. 1961 hielt die Jury des Deutschen Filmpreises keinen deutschen Film der höchsten Auszeichnung für würdig, ein Jahr später rief eine neue Generation bei den Oberhausener Kurzfilmtagen triumphierend den Tod von "Papas Kino" aus. Das Publikum blieb weg, das Kinosterben setzte ein.

 

Pantoffelkino

Quelle: DIF
Das Foyer des Berliner Kinos Maxim in den 1960er Jahren
 

Zwar waren schon 1957 die Besucherzahlen erstmals zurückgegangen (um 16,5 Millionen oder zwei Prozent im Vergleich zum Spitzenergebnis des Vorjahres) – und der Trend hielt an –, aber wirklich beunruhigt reagierte die Branche erst, als die Zahl der verkauften Eintrittskarten sich Jahr für Jahr um zweistellige Prozentzahlen reduzierte. Zwischen 1956 und 1962 – dem Jahr nicht bloß des Oberhausener Manifests, sondern auch des Zusammenbruchs der Ufa-Produktion und der Verleihfirma Ufa Film Hansa – hatte sich die Zahl der Kinobesuche fast halbiert und war von 817 Millionen auf 443 Millionen gefallen. Im selben Zeitraum war die Zahl der Fernsehteilnehmer um das mehr als Zehnfache von rund 681.000 auf 7,2 Millionen gestiegen.

Schrumpfungsprozesse

Quelle und © Haro Senft Film
Unterzeichner des Oberhausener Manifestes 1962 (v.r.o. nach r.u.) Rob Houwer, Wolf Wirth, Franz-Josef Spieker, Dieter Lemmel, Detten Schleiermacher, Ferdinand Khittel, Hans Rolf Strobel, Peter Schamoni, Fritz Schwennicke, Raimond Ruehl, Wolfgang Urchs, Heinz Tichawski, Bodo Blüthner, Walter Krüttner, Hans Loeper, Alexander Kluge, Haro Senft, Edgar Reitz, Boris von Borresholm, Bernhard Dörries
 

Dem Besucherrückgang sollte zeitverzögert, dann jedoch dynamisch das Kinosterben folgen. 1959 gab es in der Bundesrepublik so viele "ortsfeste Filmtheater" wie nie zuvor: 7.085 mit 2,9 Millionen Sitzplätzen. Zehn Jahre später verzeichnete die Statistik der SPIO gerade noch 3.739. Was zunächst nach einem "Gesundschrumpfungsprozess" nach der überhitzten Konjunktur der 1950er Jahre ausgesehen hatte, erwies sich schließlich als komplette Strukturveränderung: Die meisten Theaterbesitzer mit zu geringem Einzugsgebiet sahen sich zur Betriebsaufgabe wegen Unrentabilität gezwungen.Vor allem in den Dörfern und kleineren Gemeinden, besonders in Bayern, schlossen selbst traditionsreiche Kinos. Überdurchschnittlich viele Lichtspielhäuser machten zudem in jenen Großstädten dicht, die mit anderen Städten in Ballungsgebieten – wie dem Ruhrgebiet – in direkter Konkurrenz standen oder in denen die Kinos nur über ein begrenztes Einzugsgebiet verfügten wie in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen sowie im isolierten West-Berlin. Die größten Überlebenschancen hatten in den 1960er Jahren Kinos in Gemeinden zwischen 10.000 und 100.000 Einwohnern. In den Großstädten veränderte sich das Bild: Die Nachspieler hatten das Nachsehen, das Kino an der Ecke verschwand aus Vororten und Stadtteilen. Nicht nur das zeitversetzte Abspiel machte ihnen den Garaus, sondern auch das veränderte Freizeitverhalten eines immer jünger werdenden Publikums. Dieses war mobiler geworden, von den Innenstädten angezogen, wo in den 1960er Jahren die ersten Treffs, Clubs, Diskos, Läden der sich etablierenden Jugendkultur und neu entdeckten konsumorientierten Zielgruppe entstanden. Auf sie reagierte auch die Filmproduktion.

Produktionsstrategien

Quelle: DIF
Pierre Brice (links) und Lex Barker in "Der Schatz im Silbersee" (1962)
 

Gemeinsam mit dem Dänen Preben Philipsen schuf der Produzent Horst Wendlandt Ende der 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre die beiden Serien, die von bundesdeutscher Seite das Kinoprogramm des Jahrzehnts dominieren sollten: die Edgar-Wallace- und die Karl-May-Reihe. Philipsen eröffnete 1959 noch als dänische Produktion den Wallace-Reigen mit "Der Frosch mit der Maske", dem 24 weitere Filme folgen sollten. Zu Weihnachten 1962 füllte "Der Schatz im Silbersee" erstmals die Kassen und begründete die Serie der May-Verfilmungen, die finanziell die erfolgreichste der Nachkriegszeit und zudem ein Exportschlager wurde. Dezidiert an Jugendliche wandten sich auch die "Lümmel"- und "Pauker"-Filme, ebenfalls in Serie produziert, dazu lösten in Schlagerfilmen Gesangsstars wie Roy Black, Gitte und Rex Gildo ihre Vorgänger Peter Alexander, Peter Kraus und Conny Froboess ab. Zugunsten dieser Filme verschwanden ab Mitte des Jahrzehnts nahezu vollständig bundesdeutsche Melodramen, Heimatfilme und anspruchsvollere Komödien, die Publikumslieblinge der 1950er Jahre mussten zum Fernsehen abwandern. Beim Ausspielen der genuinen Vorteile des Kinos gegen das Fernsehen setzte die Filmproduktion zudem auf Monumentales und Erotik. Dem CinemaScope und den großartigen Landschaften, den Massenschlachten und der Farbenpracht der Sandalen-, Bibel- und sonstigen Kolossalfilme hatte das schwarz-weiße "Pantoffelkino" nichts entgegenzusetzen. So zogen "Cleopatra" mit Elizabeth Taylor und Richard Burton 1962 die Massen an, es folgten aus Hollywood "Barabbas" (1962) und "The Fall Of The Roman Empire" (1964), dazu italienische Hercules- und Maciste-Streifen und britische Fantasy-Vorläufer. Artur Brauner steuerte 1964/65 die internationale Produktion "Dschingis Khan" bei, gefolgt von den Zweiteilern "Die Nibelungen" (1966/67) und "Kampf um Rom" (1968/69).

Sex und Experimente

Quelle: DIF
Werberatschlag: "Der neue Schulmädchen-Report 2. Teil: Was Eltern den Schlaf raubt" (1971)
 

Am 24. Januar 1964 erlebte "Das Schweigen" des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman seine deutsche Uraufführung. Dessen unzensierte Sexszenen schockierten und faszinierten die Massen: Zehneinhalb Millionen Bundesdeutsche sahen den Film in eineinhalb Jahren und machten ihn zum größten Kassenschlager des Jahrzehnts. In seinem Kunstanspruch fand das Werk kaum Nachahmer, die Bestätigung des Mottos "sex sells" aber rief die Produzenten auf den Plan. "Helga", Oswalt Kolle-Filme, die "Wirtin"-Serie des Franz Antel und Alois Brummers Werke boomten in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Das Jahr 1970 sah dann die Premiere der erfolgreichsten Serie der nächsten Dekade: "Was Eltern nicht für möglich halten", des Schulmädchen-Reports erster Teil. Trotz der Beschränktheiten in der bundesdeutschen Produktion war das Angebot in den Innenstadt-Kinos heterogener als heute. Das lag auch an Theaterbesitzer-Persönlichkeiten, die anspruchsvolle ausländische Filme pflegten, Godard, Resnais, Welles zeigten. Auch das anglo-amerikanische Kino spielte seine Stärken aus: "Doktor Schiwago" begeisterte 1968 das bundesdeutsche Publikum, "Rosemaries Baby" schockierte, ein Jahr später faszinierten "Easy Rider" und "Spiel mir das Lied vom Tod". Im herkömmlichen Kinoprogramm fanden jedoch immer mehr Gruppen ihre Interessen nicht vertreten; weder die politisch engagierten Filmemacher noch ein an Experimenten interessiertes Publikum. Osteuropäische, asiatische, kubanische Filmwochen in vielen Städten der Bundesrepublik wurden – häufig von studentischen Filmclubs – organisiert, Kurzfilme der Avantgarde- und Undergroundszene gezeigt, neue Festivals entstanden, neue Abspielformen wurden gesucht. Das Publikum differenzierte sich weiter aus, was nicht ohne Folgen für die Branche bleiben sollte.

 

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Dieser Artikel basiert auf den Texten von Claudia Dillmann und Thomas Möller zur Kinogeschichte des Hauptverbandes Deutscher Filmtheater e. V. (HDF) "50 Jahre Kino in Deutschland"