Biografie
Wilhelm Oskar Barnack wurde am 1. November 1879 in Lynow geboren. Nach einer Lehre als Feinmechaniker in Berlin-Lichterfelde führten ihn seine Wanderjahre schließlich nach Jena zur Firma Zeiss. Dort lernte er den Filmpionier Emil Mechau (1882-1945) kennen, der 1908 zu Leitz nach Wetzlar wechselte, wo man zu diesem Zeitpunkt noch auf Mikroskope spezialisiert war. Barnack folgte ihm 1911 und wurde bei Leitz als Meister der Versuchsabteilung der mechanischen Werkstatt eingestellt. Sein Aufgabengebiet umfasste auch die Aufnahmetechnik für Kinofilme.
Da er an Asthma litt, fiel es Barnack schwer, die sperrigen und schweren Balgen- und Großformatkameras seiner Zeit zu tragen – für zwölf Aufnahmen musste man damals bis zu fünf Kilo an Equipment mit sich führen. Also machte der begeisterte Hobbyfotograf sich im Jahr 1913 daran, eine kleine, leichte Fotokamera zu entwickeln, die man jederzeit dabei haben kann. Zu diesem Zweck adaptierte er den 35-mm-Kinofilm für den Einsatz in Fotokameras; das Fotofilm-Format von 24×36 mm ergab sich dabei aus der Verdopplung des damaligen Kinoformats (18×24 mm ohne Perforation) durch das "Querlegen" des Films: In einer Filmkamera läuft der Film vertikal am Bildfenster vorbei, die Perforation befindet sich also links und rechts; in Barnacks Fotokamera hingegen erfolgte die Führung des Filmmaterials horizontal, die Perforation ist also oben und unten. Die gezackten Filmrollen hielten das Filmband und erlaubten mehr Präzision als der papiergebundene Rollfilm – die Urform der Kleinbildkamera war geboren. Zwar war Barnack nicht der erste oder einzige, der mit 35mm-Material in Fotokameras experimentierte (es gab ähnliche Entwicklungen in Frankreich und England), doch niemand war in den Details so findungsreich und am Ende so erfolgreich.
Ernst Leitz jun. nahm im Frühjahr 1914 einen frühen Prototyp mit auf eine USA-Reise und zeigte sich hellauf begeistert. Während des Ersten Weltkrieges entwickelte der vom Wehrdienst befreite Barnack seine Kamera weiter. Bei seinen praktischen Tests entstand das erste mit einer Kleinbildkamera aufgenommene Nachrichtenbild, welches das Hochwasser der Lahn in Wetzlar zeigte. Barnack war auch einer der ersten, der bei solcherlei Bildern die Menschen in einem Verhältnis zu ihrer Umgebung zeigte. Wenngleich die Fotografien vor allem Testzwecken dienten, schuf er dank seiner handlichen, schnell einsatzbereiten Kamera dokumentarische Bilder, wie es sie in dieser Unmittelbarkeit bis dahin kaum gab. So verband er seine persönliche Freude an der Fotografie mit der Optimierung seiner Erfindung.
1924 entschied Ernst Leitz jun. gegen den Rat fast aller Mitarbeiter, die Kleinbildkamera für die Serienfertigung freizugeben. Sie erhielt den Namen Leica (hergeleitet von Leitz Camera) und wurde 1925 auf der Leipziger Frühjahrsmesse vorgestellt. Allen Unkenrufen der Fachpresse zum Trotz entwickelte sie sich rasch zu einem Verkaufsschlager.
Wenngleich Oskar Barnack zu einer gefeierten Persönlichkeit der Fotohistorie avancierte, blieb seine Bedeutung für den Film über Jahrzehnte weitgehend unbekannt. Tatsächlich aber konstruierte er bereits 1913 auch eine Bewegtbildkamera; 1914 folgten zwei weitere Modelle. Mit diesen Kameras drehte er bis Mitte der 1920er Jahre kurze Filme in Wetzlar und Umgebung – oft parallel zu seinen Fotoaufnahmen. Wie diese sind Barnacks Filme spannungsreiche Zeugnisse der Zeitgeschichte: aus dem letzten Friedensjahr des Kaiserreichs, der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Anfangszeit der Weimarer Republik. Die Länge der Filme bewegt sich zwischen einer und vier Minuten.
Barnack beobachtete alltägliche Momente, so etwa in "Erholungsheim Oberjosbach" (1914) und "Arbeiter verlassen das Leitzwerk" (1915), aber auch Festlichkeiten und Wettbewerbe in Wetzlar, so etwa in "Karneval" (1914) und "Schützenfest" (1914). In Frankfurt war er mit der Kamera bei einer Ruderregatta und einem Modellflugwettbewerb zugegen. An der Lahn filmte er "Wassersport / Kopfsprünge" (1920) und das "Hochwasser in Wetzlar" (1920). Auf lokaler Ebene hielt er auch kleine Stücke der Weltgeschichte fest, etwa in seinen diversen Kriegsgefangenenfilmen (1914/15), in "Kriegsende in Wetzlar" (1918) und in "Unsere heimkehrenden Kriegsgefangenen, Wetzlar 1919".
Durch die präzise Wahl der Perspektiven wirken Barnacks kurze Filme persönlich, ohne das Gezeigte in eine übergeordnete Struktur oder Idee zu betten, wie es später beim Dokumentarfilm üblich wurde. Auf technischer Ebene experimentierte er mit impressionistischen Licht-und-Schattenspielen, Aufnahmegeschwindigkeiten und amüsanten "Trickeffekten". So zeigt "Wassersport / Kopfsprünge" Menschen, die von einem Sprungbrett in die Lahn springen, und anschließend durch rückwärts laufenden Film aus dem Wasser zurück aufs Brett "fliegen". Barnacks mutmaßlich letzter Film war der vierminütige "Reichsbanner-Umzug" von 1924. (Eine präzise Betrachtung und Einordnung seines filmischen Werks findet sich in Claudia Dillmanns separatem Aufsatz.)
Am 16. Januar 1936 starb Oskar Barnack in Bad Nauheim an einer Lungenentzündung. Genau zwei Wochen zuvor hatte er sein 25-jähriges Betriebsjubiläum bei Leitz gefeiert.
Anlässlich seines hundertsten Geburtstages wurde 1979 erstmals der Leica Oskar Barnack Preis (LOBA) verliehen; er würdigt Fotografien, die "die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt zum Ausdruck" bringen. Bis heute ist die Verwendung von 35-mm-Film Standard in der analogen Reportagefotografie. In Barnacks Geburtsort Lynow wurde 1995 das Oskar-Barnack-Museum eröffnet.
Auf filmportal.de sind alle seine Filme abrufbar.