Oskar Barnack

Kamera
Lynow (Nuthe-Urstromtal) Bad Nauheim

Die Filme von Oskar Barnack und der frühe dokumentarische Film

Claudia Dillmann, Kamera: Oskar Barnack - Frühe Filme aus Wetzlar und Umgebung, Hrsg: Deutsches Filminstitut, Frankfurt.

Der Film als "lebendige Fotografie", als Aufnahme und Wiedergabe von Bewegungen, bildete 1895 den Endpunkt einer Reihe von Entdeckungen und Erfindungen vornehmlich des 19. Jahrhunderts und zugleich den Beginn eines der Leitmedien des 20. Jahrhunderts. In der Fabrik für fotografisches Zubehör der Familie Lumiere in Lyon entwickelten die Brüder Auguste und Louis Lumiere jenes Gerät, das wegen seiner genial einfachen Lösung bis dahin komplizierter Probleme die technische Konkurrenz binnen kurzem verdrängte: den "Cinematographe Lumiere". Mit ihm entstanden die ersten "vues" (Ansichten) genannten 53 Sekunden langen Filme von der Einfahrt eines Zuges im Sommersitz der Familie in La Ciotat, von den Arbeiterinnen und Arbeitern, die die Fabrik verlassen, vom Frühstück im Garten der Industriellen-Villa: für die Kamera hergerichtete Alltagsszenen, aber auch erste kurze Szenen mit Spielhandlung. In dieser Tradition des sorgfältig ausgewählten Kamerastandpunkts, der Beachtung von Lichteffekten, des neugierigbeobachtenden Blicks sind Oskar Barnacks Filmarbeiten zu sehen. 1915 erwies er den Lumieres seine Referenz sogar direkt, indem auch er Arbeiterinnen und Arbeiter beim Verlassen der Fabrik aufnahm, diesmal der Leitz-Werke in Wetzlar.

Waren die frühesten Filme allein deshalb eine Sensation, weil sie bewegte "lebensechte" Bilder auf der Leinwand präsentierten, mussten die frühen Filmemacher und die Kinobesitzer nach einigen Jahren die Neugier des Publikums mit Attraktionen befriedigen, die eher im Sujet lagen: mit kurzen Komödien, akrobatischen Sensationen, Aufnahmen von bedeutenden Ereignissen wie Kaiserbesuchen, Stapelläufen, Katastrophen, mit Reisebildern aus exotischen Ländern - einem Nummernprogramm, eigens für die Bedürfnisse des Publikums vor Ort zusammengestellt. Durch ein Wechselspiel zwischen technischen Weiterentwicklungen, sich ändernder Produktion, Bedürfnissen des Abspiels und Ansprüchen des Publikums differenzierte sich dieses Angebot um 1910 weiter aus: Längere Spielfilme entstanden mit wechselnden Szenerien, mit komplexerem Handlungsverlauf und ersten Versuchen, die einzelnen Szenen so aneinander zu montieren, dass sie den Fluss der Erzählung begünstigten. Und im dokumentarischen Bereich brachte die französische Firma Pathé 1909 erstmals eine Wochenschau auf die Leinwand, mit aktuellen Nachrichten aus aller Welt, die von 1910 an auch in Deutschland zu sehen war.

Fotografie - Kinematografie
In diesen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg experimentierte auch Oskar Barnack mit Foto- und Filmmaterialien, wobei sich seine Erfindungen wohl der Erforschung der engen Wechselbeziehung zwischen beiden Medien verdankten. In dem einzigen von ihm veröffentlichten Rückblick auf jene Jahre, in der ersten Nummer von "Die Leica" (1931/32), benennt er als Beginn der "Leica-Konstruktion" seine Freizeit-Versuche um 1905, die 13x18cm großen fotografischen Platten seiner Fotokamera in kleinere Negative aufzuteilen und trotzdem brauchbare Abzüge zu erzielen. Dies misslang wegen des groben Korns der Emulsion. Mit dem Eintritt in die Firma "Optische Werke Ernst Leitz" im Jahre 1911, den sein Freund Emil Mechau vermittelt hatte, „erstreckte sich mein Wirkungsfeld u.a. auch auf die kinemato-grafische Aufnahmetechnik" (Barnack), ein offensichtlich neues Aufgabengebiet in dem bis dahin auf Mikroskopie spezialisierten Unternehmen. In denselben Jahren zwischen 1911 und 1913, in denen Mechau an seinem Kino-Projektor mit optischem Ausgleich arbeitete, konstruierte Barnack seinen ersten "Kinoaufnahme-Apparat", also eine Filmkamera für 35-mm-Film. Diese Kamera von 1912 ist heute im Besitz der Leica Camera AG.

In der Rückschau auf die Entstehung der Ur-Leica zieht Barnack eine gerade Linie von seinen Foto-Experimenten um 1905, die am groben Korn gescheitert waren, zu Foto-Experimenten sieben Jahre später, nunmehr mit dem feinkörnigeren 35-mm-Filmmaterial. Sein Interesse für die Verkleinerung des Bild-Negativs, das trotzdem scharfe große Abzüge erlauben sollte, und seine Vorliebe für die Proportion 2:3 hätten ihn demnach dazu geführt, den 18 x 24 mm belichtbaren Kader des standardisierten 35-mm-Films (ohne Perforation) um 90 Grad zu drehen und zu verdoppeln, woraus sich das 24 x 36-mm-Format der Kleinbildkamera ergab. Der Rest ist Fotogeschichte.

Ernst Leitz III. erinnert sich dagegen, dass vor allem das Problem der richtigen Belichtungszeit beim Filmen die Ur-Leica hervorbrachte: als Belichtungsmesser. In der Frühzeit des Films war die richtige Belichtung eines Kinofilms das Ergebnis der Erfahrung eines Kameramannes - und mehrfacher Fehlversuche. Diese Versuche hätte Barnack demnach nicht durch Filmen, sondern durch Fotografieren unternommen, indem er an einem kleinen Gehäuse ein Objektiv wie an der Filmkamera selbst anbrachte und mit verschiedenen Blenden mit derselben Belichtungszeit wie in der eigentlichen Filmkamera belichtete, um den kurzen Filmstreifen danach zu entwickeln.

Ob nun die Ur-Leica die Lösung eines älteren fotochemischen Problems mit Hilfe des Kinofilmmaterials war oder die Beschäftigung mit dem Filmen ein fototechnisches Nebenprodukt hervor brachte, das die Fotografie revolutionieren sollte: Die Gleichzeitigkeit der Konstruktionen und Entdeckungen legt einen steten Austausch der Erkenntnisse aus beiden Gebieten nahe, dem fotografischen wie dem kinematografischen.

Für diese Gleichzeitigkeit spricht auch ein Foto, aufgenommen mit der Ur-Leica, von einer Fahrt mit einem Zeppelin, bei der Oskar Barnack zugleich filmte, die Entwicklung des Materials in seinem "Belichtungsmesser" also gar nicht abwarten konnte; und ein weiterer Ur-Leica-Schnappschuss zeigt Oskar Barnack 1914 bei den Filmaufnahmen des Lahntals, denen wir einen seiner schönsten Filme verdanken.

 
Die Filme
Um 1914 hatten professionelle Kameramänner, "Operateure" genannt, auch im dokumentierenden Film längst Standards gesetzt. Beim Filmen eines nicht wiederholbaren Ereignisses mit nur einer Kamera kam dem Kamerastandpunkt eine große Bedeutung zu; er legte nicht allein den Bildausschnitt fest, sondern auch die Nähe zum Ereignis, die nicht durch Wechsel der Brennweite während der Aufnahme verändert werden konnte; einem Wechsel der Einstellungsgröße ging deshalb eine Bewegung der Kamera voraus, entweder durch einen Schwenk, der die Größe des Dargestellten verändern konnte, oder durch die Platzierung des Aufnahmeapparates an einem anderen Ort, was ein Anhalten des Films bedeutete und einen Sprung in der Zeit. Dabei waren die Lichtverhältnisse genau zu beachten.

Die Aufnahme von Landschaften und Städten stellte andere Anforderungen an den Filmenden; Hier waren vor allem ästhetische Kriterien zu beachten, um Vorstellungen von "Schönheit", "Bedeutung", "Exotik" evozieren oder befriedigen zu können. Panoramaschwenk und sorgfältig gewählte Detailaufnahme waren probate Mittel, deren zeitliche Dauer und deren Wechsel den späteren Rhythmus des Films bestimmten. Um eine Landschaft zu betrachten und ihre Stimmung einzufangen, eigneten sich im Wortsinne Kamerafahrten, bei denen der Apparat auf einen Zug oder ein Boot aufgestellt wurde.

Schließlich konnten auch Ereignisse oder Szenerien für das Auge der Kamera hergerichtet werden, was neben der filmischen Beobachtung auch ein inszenatorisches Geschick des Operateurs verlangte und, da es sich häufig um komische Begebenheiten handelte, einen Sinn für Timing.

Oskar Barnack hat all diese Formen beherrscht. Von ihm ist überliefert, dass er ursprünglich Landschaftsmaler hatte werden wollen. Seine ästhetischen Vorstellungen wie seine langjährige fotografische Erfahrung haben seine Filme beeinflusst, die sich durch sorgfältige Bildausschnitte, gelingende Schwenks und hervorragende Fotografie auszeichnen.

Die Arbeiten lassen sich den sogenannten "vues" oder "Ansichten" zuschreiben, wie die Filmgeschichtsschreibung diese frühen Filme benennt, um sie von den späteren Dokumentarfilmen zu unterscheiden. Wie der amerikanische Filmhistoriker Tom Gunning definierte, ist die "Ansicht" beschreibend und beruht auf dem Akt des Schauens und der Zurschaustellung, während der spätere Dokumentarfilm sein Material in eine argumentative oder dramatische Struktur einbettet. Der Blick des Betrachters, also des Kameramannes wie des Zuschauers, dieser Ansichten ist ein neugieriger, forschender, bisweilen voyeuristischer und überheblicher. Und oft genug schauen die Gefilmten direkt zurück.

Das geschieht auch in Barnacks Filmen, der nicht, wie seine professionellen Kollegen von den Wochenschauen, weite Reisen auf sich nehmen musste, um die "Raritäten" und "Aktualitäten" mit der Kamera einzufangen: das politische Ereignis, die schöne Landschaft, die Katastrophe, das exotische Brauchtum, die technische Errungenschaft oder den sportlichen Höhepunkt. Ihm genügten Wetzlar, Gießen, Frankfurt und Umgebung. Sein politisches Ereignis ist der Auszug der ukrainischen Kriegsgefangenen 1918, im Blick über Bad Ems hält er die Schönheiten des Lahntals fest in jenem letzten Sommer vor Kriegsausbruch 1914, zur Katastrophe wird das Hochwasser in Wetzlar von 1920, das
 
Brauchtum manifestiert sich im Wetzlarer Ochsenfest (1914), die technische Errungenschaft eines ersten Dialyseverfahrens filmt er 1915 in der Universitätsklinik Gießen, und den sportlichen Höhepunkt liefert die Internationale Ruderregatta 1914 in Frankfurt am Main.

Auch die Spaße fehlen nicht: die purzelnden Skifahrer vor der Kamera, die vom Sprungbrett in die Lahn Springenden, die der rückwärts laufende Film anschließend alle wieder aus dem Wasser zurück aufs Brett befördert.

Von solchen Tricks abgesehen, gilt der Beweglichkeit der Kamera und dem Spiel des Lichts augenscheinlich Barnacks besondere Aufmerksamkeit. Mit einem wohl durchdachten Schwenk von links nach rechts verbindet er häufig ein Ereignis mit dem einzelnen Menschen oder einer Gruppe, auch baut er seine Kamera direkt am Straßenrand auf, um die Bewegung der Vorbeigehenden und diese selbst nah einzufangen, darüber hinaus bedient er sich der "fahrenden" Kamera, indem er diese in einem Rennrichterboot installiert, was der "Kaiserregatta" von 1914 zusätzliche Dynamik verleiht. Experimente mit Licht finden sich in einigen der Filme, so in dem - sicher nicht einfach zu filmenden - impressionistischen Licht-und-Schattenspiel auf den Gesichtern der Kurgäste in Bad Ems, in Lichtreflexen auf dem Fell der Ochsen beim Kreistierschau-Fest und in den Aufnahmen der Wellen sowohl im Regatta-Film als auch "Im Freibad an der Lahn". Gegenlichtaufnahmen finden sich im Hochwasserfilm, bis zur Überbelichtung flirrende Glasröhren in der "Blutwäsche"-Aufnahme.

Mit Ausnahme der beiden an der Universität Gießen entstandenen Filme, von denen zumindest einer, der Bewegungsabläufe kranker Kinder zeigt, ein klassischer Lehrfilm ist, ist ein Zweck dieser von Oskar Barnack gedrehten Filme nicht unmittelbar auszumachen - oder jedenfalls keiner, der über das Experimentieren mit oder die Freude am Film hinausginge. Sofern die Überlieferung nicht täuscht, lassen auch die im Werk entstandenen Filme nicht den Schluss zu, Barnack habe Industriefilme drehen wollen. Die Nähe seiner Filme zu den Wochenschauen war dagegen schon Ernst Leitz III. aufgefallen: "In der Art, wie er die Szenen erfasste, konnte er es mit einem Wochenschau-Reporter aufnehmen."

Oskar Barnack, der Filmamateur, der professionelle Standards erfüllte, hat seine Filme (laut dem Zeugnis des Leitz-Archivars Rolf Beck) nie öffentlich vorgeführt, obwohl sein Freund Mechau den von ihm konstruierten Projektor zwecks Dauerbetrieb in ein Wetzlarer Kino einbauen ließ. Die Überlieferung der Filme, die etwa Mitte der zwanziger Jahre abbricht, lässt den Schluss zu, dass mit der Arbeit an der Serienreife der Leica, die 1925 auf den Markt kam, für Oskar Barnack die Arbeit und das Vergnügen mit der Filmkamera in den Hintergrund trat. Von da an, so scheint es, hat nur noch die Fotografie seine letzten Lebensjahre beherrscht.

 

 

Rechtsstatus