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Alle Fotos (3)Biografie
Helga Reidemeister wurde am 4. Februar 1940 in Halle an der Saale geboren. Nach ihrem Abitur 1959 in Köln studierte sie von 1961 bis 1965 freie Malerei an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin. Sie trat 1966 dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei und arbeitete von 1968 bis 1973 als Sozialarbeiterin im Märkischen Viertel in Berlin-Reinickendorf. Im Rahmen dieser Tätigkeit lernte sie die Arbeiterfrauen der dort neu angelegten Trabantenstadt kennen, die gegen die zu hohen Mieten und gegen die mangelhafte Infrastruktur protestierten. Beauftragt, die Konflikte zu schlichten, organisierte Reidemeister ein Kulturprogramm mit Filmen, die sie bei den Freunden der Deutschen Kinemathek entlieh. Die Frauen sahen sich in diesen Filmen allerdings nicht repräsentiert und ermutigten Reidemeister, selbst an der Filmakademie zu studieren, um dann gemeinsam mit ihnen einen Film aus der Perspektive der Arbeiterfrauen zu drehen. Nachdem sie bei ihrer ersten Bewerbung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) von dem ausschließlich aus Männern bestehenden Auswahlgremium abgelehnt worden war, suchte sie sich Unterstützung bei den Filmstudentinnen und wurde 1973 schließlich angenommen. Um auch weiteren Frauen den Zutritt zum Filmstudium zu ermöglichen, trat sie schon nach ihrem ersten Studienjahr selbst dem Auswahlgremium bei.
Bereits 1971 hatte Reidemeister ihren ersten Dokumentarfilm "Wohnste sozial, haste Qual" gedreht, während ihres Studiums an der dffb entstanden dann zwei Dokumentarfilme, die ihr größere Aufmerksamkeit bescherten: "Der gekaufte Traum" (1977) porträtiert die Arbeiterfamilie Bruder, die sie in ihrer Zeit als Sozialarbeiterin im Märkischen Viertel kennengelernt hatte. Von Helga Reidemeister mit einer Super-8-Kamera ausgestattet, hatte die Familie bereits im Herbst 1969 begonnen, ihren Alltag eigenständig zu filmen. Als sie jedoch gemeinsam mit Reidemeister im Sommer 1974 das vierstündige Material am Schneidetisch sichteten, stellten sie fest, dass es die Probleme der Familie nur oberflächlich darstellte und den sozialen Kontext außen vor ließ. Reidemeister, die bisher nicht in den Filmdreh eingegriffen hatte, verbrachte daraufhin viel Zeit in der Familie und dokumentierte gemeinsam mit ihr den Alltag. Das Ergebnis ist eine vielschichtige Mischung aus familiärem Selbstzeugnis und Reflexion sozialer Beziehungen.
Auch ihr dritter Film "Von wegen 'Schicksal'" (1979) entstand in enger Zusammenarbeit mit den Gefilmten. Er porträtiert die 48-jährige Irene Rakowitz, Mutter von vier Kindern, die nach 20 Jahren Ehe die Scheidung einreicht, um ihr eigenes Leben zu führen. Der Film begleitet sie bei ihrem Kampf um ein selbstbestimmtes Leben und den Problemen, Enttäuschungen und Hoffnungen, die ihre Entscheidung mit sich bringt. Für "Von wegen 'Schicksal'", Reidemeisters Abschlussfilm an der dffb, wurde sie 1979 beim Deutschen Filmpreis mit dem Filmband in Gold für die Beste Nachwuchsregie ausgezeichnet.
Eine Vielzahl der weiteren Dokumentarfilme Reidemeisters zeichnen sich ebenfalls durch ihre persönlichen Porträts von Individuen, meist Frauen, aus, deren Lebenswege zugleich auf gesellschaftliche Probleme verweisen. In "Mit starrem Blick aufs Geld" (1983) wirft sie einen Blick hinter die Kulissen der Modewelt und zeigt den beruflichen Alltag, die Herausforderungen und Sorgen ihrer Schwester Hilde Kulbach, die ein Leben als gefragtes Modell führte.
Trotz ihrer häufigen Zusammenarbeit mit Frauen sowohl vor als auch hinter der Kamera bezeichnete sich Reidemeister selbst ungern als feministische Filmemacherin. Ihre Arbeit habe ihre Wurzeln in der Arbeiterklasse, welche in den 1970er Jahren, als sie mit dem Filmemachen begann, von den feministischen Diskursen ausgeschlossen war. Außerdem sei es ihr Anliegen, Männer in ihren Filmen nicht auszuklammern. In einem Interview mit dem "Filmdienst" erklärte sie 2015: "Ich würde mich als Filmemacherin bezeichnen, die immer für Gerechtigkeit ist und kämpft oder kämpfen will, wenn sie die Kraft aufbringt".
In einigen ihrer Filme beschäftigte sie sich mit dem Leben in ihrer Wahlheimat Berlin, während und nach der Teilung in West- und Ostberlin, sowie den Auswirkungen des Mauerfalls auf die deutsche Zivilgesellschaft und Identität. Der Dokumentarfilm "DrehOrt Berlin" (1987) zeigt die unterschiedlichen Lebensweisen der Einwohner auf beiden Seiten der Mauer zwei Jahre vor dessen Fall, ohne für eine Seite Partei zu ergreifen. "Rodina heißt Heimat" (1992) erzählt von den letzten Monaten vor dem Abzug der Sowjetarmee, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands, am Beispiel der thüringischen Garnisonsstadt Meiningen und dem umliegenden Grenzgebiet der DDR. Die Dokumentation wurde mit dem Friedenspreis der Internationalen Filmfestspiele von Berlin ausgezeichnet. In "Lichter aus dem Hintergrund" (1998) begleitet Reidemeister den Ostberliner Architekturfotografen Robert Paris und schildert seine Suche nach neuer Orientierung und Identität im für ihn fremden wiedervereinten Berlin. "Gotteszell – Ein Frauengefängnis" (2000) handelt vom Gefängnisalltag in der Strafanstalt Gotteszell in Baden-Württemberg und diskutiert Fragen um Schuld und Sühne mit den Insassinnen sowie den Schließerinnen.
Ihre letzten drei Filme bilden eine Trilogie um das Leben im Krieg in Afghanistan. In "Texas Kabul" (2004) reist sie durch verschiedene Länder und trifft Menschen, die sich kritisch mit dem Afghanistankrieg auseinandersetzen, darunter vier Frauen, die von ihrem vom Widerstand gegen den Krieg geprägten Leben berichten, beispielsweise Jamila Mujahed, die erste unverschleierte Moderatorin im afghanischen Fernsehen. "Mein Herz sieht die Welt schwarz – Eine Liebe in Kabul" (2009) handelt von Hossein und Shaima, die sich seit ihrer Kindheit lieben, aber durch den Krieg und die strengen Gesetze der Familie auseinandergetrieben werden. Sie schaffen es trotzdem, sich zu sehen, jedoch leben sie unter der ständigen Angst vor der Rache der Familie. Für den Film erhielt Reidemeister 2009 den Preis für kulturelle Identität und Diversität des Festival de Cine Internacional de Ourense. In "Splitter - Afghanistan" (2013) liegt der Fokus auf Patienten im Orthopädischen Zentrum des Roten Kreuzes in Kabul, vom Krieg entstellte Menschen, die dennoch ihre Leiden klaglos ertragen und voller Hoffnung in die Zukunft sehen.
Reidemeister war Professorin für Dokumentarfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg und erhielt ab 1988 Lehraufträge im In- und Ausland. Sie war Mitglied der Deutschen Filmakademie, der Niedersächsischen Filmkommission und seit 2001 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.
Am 29. November 2021 starb Helga Reidemeister nach langer Krankheit mit 81 Jahren in Berlin.
Autorin: Sarah Peil
Dieser Text wurde im Rahmen des Masterstudiengangs "Filmkultur - Archivierung, Programmierung, Präsentation" erstellt, der von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und dem DFF - Deutsches Filminstitut & Filmmuseum gemeinsam angeboten wird.