Inhalt
Um ihrem restriktiven Elternhaus zu entkommen, bittet die junge Hamburger Türkin Sibel den 40-jährigen Türken Cahit, eine Scheinehe mit ihr einzugehen. Cahit, ein zynischer Alkoholiker, der sich nicht im Geringsten für türkische Konventionen und Bräuche interessiert, geht schließlich auf die Bitte ein. Zunächst genießt die 20 Jahre alte Sibel das Leben in "Freiheit": Sie tanzt die Nächte durch, geht mit verschiedenen Männern ins Bett, tobt ihre Lebenswut aus. Aber auch Cahit schöpft durch das Zusammenleben mit der jungen Frau neuen Lebensmut. Schließlich erkennen Cahit und Sibel, dass sie sich tatsächlich ineinander verliebt haben. Aus Eifersucht erschlägt Cahit im Affekt einen Liebhaber Sibels und landet im Gefängnis. Sibel, die Cahit verspricht auf ihn zu warten, flüchtet vor ihrer Familie nach Istanbul, wo sie erfolglos versucht, ein bürgerliches Leben zu führen. Als geläuterter Mensch wird Cahit Jahre später aus der Haft entlassen. Er reist nach Istanbul, um Sibel zu finden. Mit ihr will er ein neues Leben beginnen. In der Türkei.
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Eine Idealbesetzung: Sibel heißt auch die Figur der weiblichen Protagonistin, die einen Selbstmordversuch begeht, zum Schein den Loser Cahit heiratet, von ihrer konservativen türkischen Familie verstoßen, auch noch verprügelt und vergewaltigt wird, jedoch trotz aller Verzweiflung wieder aufsteht, gar zurückschlägt und mit einem gewinnend strahlenden Lächeln optimistisch in die selbstbestimmte Zukunft blickt.
Ein Märchenstoff? Ein Gefühlskino-Melodram? Nein, ganz und gar nicht. Sondern, zumindest was das Grundgerüst betrifft, die Lebensgeschichte der Sibel Kekilli, einer gelernten Verwaltungsfachangestellten aus Heilbronn, die bei einem Einkaufstrip in Köln von einer Streetcasterin angesprochen worden ist. Sie stammt zwar aus einem liberalen türkischen Elternhaus, aber als ihr Vater aus der „Bild“-Zeitung von ihrer Porno-Vergangenheit erfährt, schlägt er die Tür für seine über Nacht zum Star avancierte Tochter zu.
„Es ist mein Leben“ gestand die seinerzeit an einem geheimen Ort lebende Schauspielerin der „Frankfurter Allgemeinen“. In erster Linie aus Geldmangel habe sie in Hardcore-Pornostreifen mitgewirkt, aber auch aus Rebellion gegen ein vorbestimmtes Leben, aus einem starken Freiheitsdrang heraus, der für junge männliche Deutschtürken selbstverständlich sein mag, für Deutschtürkinnen jedoch keineswegs. Für Sibil Kekilli käme es zwar nicht in Frage, einen Menschen zu heiraten, den sie nicht liebt. Aber Fatih Akin hat einen authentischen Fall zur Grundlage seines Amour-fou-Erfolgsfilms gemacht.
In dem der stille Säufer Cahit als Reinigungskraft im Altonaer Kulturzentrum „Fabrik“ jobbt, wo er nach Veranstaltungen die leeren Bierflaschen einsammelt und anschließend seinen Tageslohn am Tresen wieder versäuft. Nach einem spektakulären Autounfall, den nicht nur der Klinikarzt als Selbstmordversuch deutet, landet Cahit in einer Rehabilitationsklinik.
Dort trifft er auf Sibil, eine junge Frau aus konservativem türkischem Elternhaus, die vor eine schreckliche Wahl gestellt wird: Entweder sie willigt in eine vor langer Zeit abgesprochene Ehe mit einem weitaus älteren, ihr völlig fremden Mann ein, oder sie schneidet sich die Pulsadern auf. Als letzteres nicht den gewünschten Erfolg hat, bringt sie sich als Prostituierte durch – und bricht notwendigerweise mit ihrer Familie.
Die 20-jährige Sibil entscheidet sich für eine Scheinehe mit dem heruntergekommenen, doppelt so alten Cahit – und kann endlich leben wie ein in Deutschland aufgewachsenes Mädchen, wie eine Deutsche – Alkohol, Drogen und One-Night-Stands eingeschlossen. Was sie nicht vermutet: Cahit ist trotz zahlreicher eigener Affären etwa mit der schönen Maren gewillt, um jeden Preis an ihrer Seite zu bleiben. Er setzt sich mit seinem Schwiegervater, der die Fotos seiner Tochter verbrennt, ebenso auseinander wie mit seinem Schwager, der droht, seine Schwester umzubringen, weil sie Schande über die Familie gebracht habe, prügelt sich mit ihren Lovern und erschlägt – ungewollt – sogar einen von ihnen.
Selbst der Preis der Rückkehr nach Istanbul, wohin Sibil geflohen ist, kann Cahit nicht abhalten, nachdem er fünf Jahre wegen Totschlag im Gefängnis gesessen hat. Am Bosporus trifft Cahit jedoch auf eine andere Frau, eine, die durch die Hölle gegangen ist und, Fatih Akin nutzt Reinheit und Reinwaschung als zentrale Metaphern seines Films, nun geläutert und beinahe unnahbar scheint. Beide treffen sich in einem Hotelzimmer, es scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Und doch ist alles anders: Nicht mehr libertinäre Liebhaber, sondern wahrhaft Liebende, frei von Sünde und frei voneinander, könnten sie so wieder zueinander finden. Doch Sibil ist Mutter geworden, hat eine neue Familie, eine neue Heimat gefunden und schreckt letztlich davor zurück, gemeinsam mit Cahit in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen.
Kein happy end also und doch ein verhalten optimistischer Schluss. Den der Schriftsteller und Bildende Künstler Feridun Zaimoglu in einem Beitrag für den Berliner „Tagesspiegel“ als eine Wiederauferstehung der deutschen Romantik feierte. Sein Text ist Teil des Ende März 2004 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Materialienbandes „Gegen die Wand. Das Buch zum Film“.
Pitt Herrmann