Made in Germany
Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 10.06.1992
Es war ein schwüler Sommer – wenige Wochen nach dem Tod von Romy Schneider –, den er nicht überleben sollte. Die internationale Coproduktion nach Genets "Querelle" war abgedreht und geschnitten, aber zu spät für das Festival von Cannes gekommen. Hatte er nicht davon geträumt, nach dem Berliner Goldenen Bären im Februar für die "Sehnsucht der Veronika Voss" mit dem "französischen" Genet-Film im Mai an der Croisette die "goldene Palme" zu gewinnen und dem schnell im Juli zu drehenden "Ich bin das Glück dieser Erde" im September in Venedig um den "Goldenen Löwen" zu konkurrieren? Der Fußballfan sprach von seinem Hattrick noch in Cannes, wohin er ohne einen Film gekommen war – aber mit einer Kassette, von der er sich laufend Herman van Veens Lied vorspielte: "Ich bin das Glück dieser Erde".
Ja, 1982 sollte sein Jahr auf den großen Filmfestivals werden: Die "Krönung" eines in siebzehn Jahren eruptiv herausgeschleuderten Œuvres von mehr als 50 Filmen, Fernsehserien, Theaterinszenierungen und Hörspielen. Dafür hatte er seine Produktivität – die verzehrend viele in seinen Bann zog und verbrauchte, zum Erglühen und Verlöschen brachte – so hochgeputscht und aufgeputscht: wie er sich selbst. Der Tod, mit dem er körperlich Vabanque spielte, war jedoch noch schneller. 1982 wurde beider Jahr, ihr Showdown der 10. Juni.
Rainer Werner Fassbinders plötzliches Abtreten von der Bühne des westdeutschen Films hinterließ eine Lücke, deren Größe auch jene erkannten, die neben ihm zur damaligen kurzen Weltgeltung unseres jungen Films beigetragen hatten. Denn mehr als seine Kollegen Kluge, Wenders, Herzog, Schlöndorff, Schroeter – die alle vor ihm Festival-Preise als internationale Auszeichnungen errungen hatten – war RWF das Markenzeichen für "Made in Germany" im Bereich des Kinos. Gerade im Ausland wurde er mehr geschätzt und geliebt als zu Hause, wo die BILD-Zeitung noch eine große Kampagne gegen den "Schmuddelsex" seines "Berlin Alexanderplatz" initiiert hatte und der schwule "Wärmestrom" (Bloch) fast aller seiner großen und kleinen Filme ohnehin reserviert aufgenommen wurde.
"Der Komet, der vorüberging" – Goethes Wort über Jakob Michael Lenz, der vor 200 Jahren verlassen starb – wurde durch den Tod auf der Höhe seines Ruhms zum Mythos. Als Inkarnation des westdeutschen Autoren-Films, schien dessen Blüte mit RWFs Tod nahezu zeitgleich vorüber: danach begann die Krise der stimmigen Sujets, der treffenden Stoffe, der zeitaktuellen Triftigkeit. Er habe ("rechtzeitig") einen Niedergang nicht mehr erlebt, der auch ihn erfasst hätte, lautet diese Seite des in sich vollendeten RWFs-Mythos.
Dem wäre entgegenzuhalten, daß Fassbinder nie nur der auf schmaler Basis individueller, autobiographischer Ressourcen agierende "Autorenfilmer" war; keiner, bei dem Schmalhans Küchenmeister wurde, nachdem "das Eigene" aufgebraucht war. Er gehörte eher zum Typus Brecht, dessen Lebens- & Schaffenskunst Produktivität hieß, um derentwillen er skrupel- & bedenkenlos in die Mitarbeiterschaft, die er um sich sammelte, mit vollen Händen und Sinnen ausgriff. Fassbinders Produktivität – ein staunenswertes Phänomen künstlerischer Kreativität – schuf sich selbst, was sie zu ihrer Entfaltung brauchte: die materielle Basis, die "Factory", das "Studio", die technische Infrastruktur.
Berührungsängste waren ihm fremd, weil er sich womöglich der eigenen Kraft und deren proteischen Durchdringungsfähigkeit sicherer war als andere, die nur "bei sich" bleiben konnten. Sein Genie formte sich nicht in der solipsistischen Eigenart, sondern in der eigenartig Anverwandlung traditioneller Formen, in deren Mittelpunkt das Melodrama stand und das Verlangen, von Menschen und Gefühlen zu erzählen: von richtigen Wünschen im falschen Leben, von verfälschten Wünschen im richtigen Leben; von der deutschen Geschichte und wie an ihr gelitten, zugrunde gegangen und wie sie überlebt wurde. Mikroskopien im Trivialen, Ausgrabungen im Albtraumschutt und Rekonstruktionen im Medien-Kitsch: tiefenscharfe Momentaufnahmen von den Ambivalenzen und Changements der gesellschaftlichen Alltags und des Kriegs der Gefühle in ihm.
In seinen Parabeln und deren stilisierter Didaktik sind Momente eines forcierten Aufklärungswillen erkennbar, die gerade heute, im erneuten Zwielicht von Geschichte und Politik, brechtisch-naiv erscheinen mögen. Seiner Zeit ist dieses Œeuvre tief verbunden, ohne Zweifel; wie es das Säurebad unserer derzeitigen Wahrnehmungen übersteht, wird sich der Gegenwart offenbaren; freilich wäre dies auch noch nicht die Schleuse für das, was in Zukunft davon bleiben wird: als Zeit-Zeugnis bloß – oder als bleibende künstlerische Herausforderung.
Zehn Jahre nach Fassbinders Tod werden jedoch die retrospektiven wie antizipatorischen Tendenzen in seinem Werk kenntlicher als zu seiner leibhaftigen Gegenwart. RWF unternahm den Versuch, der seiner spezifischen Begabung und Generationserfahrung entsprach, Traditionen wiederaufzunehmen und neue Wege einzuschlagen, die den notwendigen Dissens, welchen der Junge und Neue deutsche Film der Bundesrepublik formulierte, transzendieren sollten. "Versöhnung" kann man nicht nennen, was als historische Vermittlung mit der deutschen Filmgeschichte – ihren Sujets, Empfindungslagen und Schauspielern – von ihm intendiert war; und "Opportunismus" noch weniger seine medienexpansive Produktivität und Arbeits-Kontinuität, sein Verlangen nach Popularität und Resonanz.
Das Kino, der Film, die bewegten Bilder des Hören & Sehens sollten für RWF (wieder) eine öffentliche Angelegenheit werden, die Trennung von konsumierender Öffentlichkeit und ästhetischer Erfahrung der Happy few nicht als absolute Popularität sich vertiefen. Was ihm selbst noch als Wechsel zwischen intimen, persönlichen, kleinen und großen, attraktiven und allgemeinen Filmen erschien, hatte gleichwohl seinen Dreh- & Angelpunkt, seinen künstlerischen Katalysator in seiner Person, die beides "konnte" – und in "Der Ehe der Maria Braun" oder "Berlin Alexanderplatz" auch beides zugleich vermochte.
Rainer Werner Fassbinder bleibt nicht nur der Autor eines künstlerischen Œuvres, das er nicht selten vom Drehbuch über die Regie bis zu Darstellung und Schnitt in die eigenen Hände genommen hat: es liegt uns vor; und das Selbst-Opfer, das er ihm brachte, verdeckt zweifellos die zahlreichen Opfer, die er dafür von anderen forderte (wie Brecht oder Thomas Mann).
RWF war jedoch auch das Synonym für den ersten (und wie es derzeit scheint) letzten Versuch des deutschen Films, auf breiter Front und mit allen verfüg- & reaktivierbaren Ressourcen und Mitteln, den öffentlichen Raum audiovisueller Möglichkeiten offensiv zu besetzen und kontinuierlich offenzuhalten: für persönlichste und allgemein treffende erzählerische Debatten über den Lauf der Dinge und die Chronik der laufenden Ereignisse.Wenn es im Gedenken an diesen ebenso selbstmörderischen wie titanischen Versuch eines einzelnen, den kreativen & produktiven Boden für viele zu bereiten, heute eine moralische Verpflichtung gäbe, dann für die Nachgeborenen die gemeinsame Anstrengung, Fassbinders Erbe fortzusetzen. Filmkünstlerische Potentiale gibt es in Deutschland genug, unterschiedliche Talente auch, nicht zuletzt die Kollegen aus den "neuen Bundesländern" besitzen Handwerk, Professionalität und Erfahrung, um die sie mancher aus den alten Bundesländern beneiden müßte.
Der historische Augenblick, in dem wir uns alle befinden, müßte für Künstler der denkbar glücklichste sein: nämlich der einer immer tiefer und weitreichender um sich greifenden gesellschaftlichen Krise. Es wird Zeit, sie nicht nur zu erwittern, sondern ihr voraus zu sein: mit Phantasie und Witz, mit Wut und Empörung. Als einzelner kommt da keiner weiter; der Weg steht nur den Theaterregisseuren offen, die ihre kommunalen Geldgeber gegeneinander ausspielen können. Solange die Filmregisseure & -macher sich damit begnügen, sich auf den langen Marsch durch die bürokratischen Institutionen der aufgeplusterten, provinziellen, niederwalzenden Länderfilmförderungen zu machen, werden sie nie ans Ziel kommen: es sei denn als Gebrochene. Nur zusammen in einer "Einigkeit der Einzelgänger" (Böll) können sie dem unproduktiven Übermut der Ämter entgegentreten. Sie müssen Filmpolitik machen, um zur Filmpraxis zu kommen: alle zusammen für jeden einzelnen.
Fassbinder hat damals Filmpolitik gemacht durch Praxis; aber er wäre heute der erste, der wüßte, daß die Zukunft der deutschen Film- & Medien-Praxis von der Gegenwart der in die eigenen Hände genommenen Film- & Medien-Politik in Deutschland abhängt. Solange sie alle das nicht begriffen und danach gehandelt haben, wird Rainer Werner Fassbinder beispiel- & folgenlos bleiben.