"Heimat ist ein mentaler Zustand"
Michael Ranze, epd Film, Nr. 11, November 2002
Fatih Akin hat sich mit nur drei Spielfilmen als erfolgreichster türkischstämmiger Regisseur in Deutschland etabliert. In seinen Arbeiten – zu denen auch mehrere Kurz- und ein Dokumentarfilm gehören – beschäftigt er sich vor allem mit dem Zusammenprall der Kulturen. Ein Thema, zu dem er eine ganz eigene Meinung hat, wie sich im Interview mit Michael Ranze zeigt.
Gibt es eine besondere Qualität, die türkischstämmige Regisseure wie Sie, Thomas Arslan und andere in die deutsche Kinolandschaft einbringen?
Unser Blick auf die deutsche Gesellschaft ist ein anderer. Und dadurch auch der auf das Kino. Wir haben noch einen zweiten Blick, den unserer Herkunftsländer. Dann sehen wir das Land durch ganz andere Augen. Wir sehen Sachen, die andere Leute nicht mehr wahrnehmen. Das macht unsere Filme anders. Nicht, dass sie dadurch besser würden, das ist keine Frage der Qualität. Aber wir bringen einfach eine andere Perspektive ein.
Ihr bevorzugtes Thema ist das Leben in zwei Kulturen.
Mein Anliegen ist es, persönliche Filme zu machen. Wenn ich mich zwei Jahre lang mit einem Film intensiv beschäftige, dann muss er mit mir zu tun haben. Ich mache keinen Fernsehfilm, ich mache keine Auftragsarbeiten. Das würde ich nur dann tun, wenn ich einen persönlichen Bezug herstellen könnte. Ein wesentlicher Teil meiner Persönlichkeit ist durch diese doppelte Kultur in mir verankert. Darum greife ich immer darauf zurück. Ich wechsle natürlich das Genre und probiere neue Dinge aus. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Das sind Fragen, deren Antworten ich in meinen Filmen suche.
Was bedeutet für Sie Heimat?
Ich habe spätestens mit diesem Film begriffen, dass Heimat kein Ort im geographischen Sinn ist. Heimat ist ein mentaler Zustand. Es ist nicht wichtig, wo man ist, sondern was man tut.
Kann man in der Fremde glücklich sein?
Ja, sicher. Multikulturalität hat es immer gegeben. Nehmen Sie die Völkerwanderung zum Beispiel. Menschen haben schon immer die Orte, an denen es ihnen nicht gut ging, verlassen. Jetzt leben wir im Zeitalter der Globalisierung. Alles wächst zusammen. Amerika hat es vorgemacht. Die Türkei zum Beispiel ist ein Vielvölkerstaat: Türken, Araber, Kurden, Griechen, Armenier, Georgier leben dort. Ich glaube nicht, dass das zur Entfremdung der Menschen führt. Globalisierung ist das Normalste der Welt. Darum verstehe ich auch die Politiker nicht, die behaupten, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Ist das Angst?
So normal scheint das Leben in der Fremde aber nicht zu sein, wenn man an Rosa, die Mutter in "Solino", denkt. Sie wird nur dadurch glücklich, dass sie wieder zurück nach Italien geht.
Das ist ihr Blick. Das ist der Blick der ersten Generation. Die zweite Generation, die in diese Gesellschaft hineingeboren wurde, hat dieses Problem viel weniger.
Wie war das bei Ihnen?
Ich zum Beispiel hatte diese Probleme gar nicht. Im Gegensatz zu meiner Mutter. Sie ist 1968 in dieses Land gekommen, und bis 1979 wollte sie zurück, weil sie keine Aufgabe zu bewältigen hatte, weil sie keinen Beruf hatte. Sie war in der Türkei Lehrerin, hat dann hier als Putzkraft und Packerin gearbeitet, bis 1979 in Hamburg türkische Lehrkräfte eingestellt wurden. Erst dann war das Problem der Rückkehr nicht mehr so dringlich.
Die Mutter im Film ist sehr isoliert in ihrem Keller, wo sie den ganzen Tag arbeitet. Sie lernt kein Deutsch. Ist sie nicht auch mitschuldig am Scheitern der Integration?
Ja, sicher. Der Keller ist auch eine Metapher für das Abkapseln der ersten Generation. Ihr Mann hält sie zur Arbeit an. Und wenn Rosa nicht kocht, geht die Familie pleite. Sie opfert sich für die anderen auf. Es geht um ihre Existenz. Wenn sie Hausfrau gewesen wäre oder einen anderen Beruf ausgeübt hätte, hätte sie vielleicht einen Draht zu Deutschland bekommen. Eigentlich will sie in ihrem Keller mit Deutschland nichts zu tun haben. Es gibt eben nicht nur die Angst des Deutschen vor den anderen, sondern auch umgekehrt. Türkische Väter haben Angst, dass sich ihre Töchter ihnen entfremden. Sie können nicht loslassen. Man muss aber loslassen können, um existieren zu können. Man muss!
Es gibt zahlreiche Vorbilder in der jüngeren Filmgeschichte, in denen es um Verschmelzung der Kulturen geht, angefangen bei Martin Scorseses "Mean Streets" über das Cinema Boeur in Frankreich bis hin zu britisch-indischen Filmen wie "Kick It Like Beckham". Sind Sie davon beeinflusst?
Ein großes Vorbild von mir ist Martin Scorsese. Das ist ein Kino, dass mich sozialisiert hat. Aber wie im deutschen Punk oder: Hip-Hop ist das, was wir hier machen, kein Kino der Imitation, sondern der Adaption. Wir übernehmen etwas, um es auf uns selbst zu übertragen – und dann etwas Eigenes daraus zu machen. Und so ist auch der türkisch-deutsche; Film etwas Eigenes. Leider gibt es noch keine Bezeichnung dafür. Ich würde es gern den „Bunten deutschen Film“ nennen. Ich kann nicht die Straßen von New York eins zu eins nach Hamburg übertragen. Ich muss es so machen, dass die Leute es hier auch glauben.
Wie hat sich das in "Solino" niedergeschlagen?
"Solino" ist der Versuch, mich an Scorsese zu orientieren. Und ich habe mich gefragt: Wer waren denn Scorseses Vorbilder? Der italienische Neorealismus! Ein Kino, das ich bis dahin kaum kannte – bis auf einige wenige Namen wie Visconti und De Sica. Nun habe ich mich sehr stark an dieses Kino angelehnt, als wir unseren Film aufgelöst haben. "Solino" hat ja zum Beispiel sehr ruhige, sehr pure Bilder. Sie sollten von der Einfachheit her dem Neorealismus entsprechen.
Wie sind Sie als Kind eingewanderter Türken ausgerechnet auf das Thema italienische Gastarbeiter gestoßen, noch dazu in einem anderen Jahrzehnt?
Nun, ich habe das Drehbuch gelesen – und es hat mich sehr ergriffen. Ich habe sofort das Filmische an dem Buch erkannt. Und darüber die ganzen Fragen nach Nationalität oder Zeitraum vergessen. Was mich für dieses Geschichte begeistert hat, war die Frage: Warum verlassen Menschen ihre Heimat? Ich wollte der gesamten ersten Generation von Gastarbeitern ein Denkmal setzen. Dass sie Italiener sind, gibt dem Ganzen etwas Universelles. Es hätten genauso gut Griechen oder Türken sein können.