Systemsprenger

Deutschland 2017-2019 Spielfilm

Inhalt

Bernadette oder Benni, wie sie genannt werden will, ein zartes Mädchen mit ungestümer Energie, ist ein "Systemsprenger". So nennt man Kinder, die radikal jede Regel brechen, Strukturen konsequent verweigern und nach und nach durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe fallen. Wo immer die Neunjährige aufgenommen wird, fliegt sie schon nach kurzer Zeit wieder raus. Und genau darauf hat sie es abgesehen, denn sie sehnt sich danach, wieder bei ihrer Mutter zu leben. Einer Frau, die maßlos überfordert ist von der Unberechenbarkeit ihrer eigenen Tochter.

Nach ihrem mehrfach preisgekrönten Drehbuch inszeniert Nora Fingscheidt ein intensives Drama über die unbändige Sehnsucht eines Kindes nach Liebe und Geborgenheit und das darin liegende Gewaltpotenzial. Zugleich beschreibt der Film die unermüdlichen Versuche von Erzieher*innen und Psycholog*innen, mit Respekt, Vertrauen und Zuversicht eine Perspektive für solche Kinder zu schaffen, die durch ihre unvorhersehbaren Ausbrüche andere und sich selbst zu zerstören drohen.

Quelle: 69. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)

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Heinz17herne
Heinz17herne
Benni ist wild, aggressiv und unberechenbar. Selbst in der Klinik, wo die Ärzte am zarten Körper der Neunjährigen zahlreiche Hämatome feststellen. Die offenbar nicht nur auf Fremdeinwirkung schließen lassen: Bernadette, so ihr eigentlicher Name, hat schon alles durch: Pflegefamilien, Wohngruppen, Sonderschulen. Überall ist sie nach kurzer Zeit wieder rausgeflogen. Denn dieses nervenaufreibende Schreikind ist nicht zu bändigen, ist, so der offizielle Terminus im Jugendamt, ein „Systemsprenger“. Weshalb sich ein älterer Erzieher wie Wolfgang die Zeit zurückwünscht, in der man solche Kinder noch wegsperren durfte. Dabei will Benni doch nur eines: zurück zu ihrer Mutter Bianca Klaaß. Doch die ist völlig überfordert mit ihrer Tochter, welche sich nach traumatischen Erfahrungen in frühester Kindheit mit einer vor den Mund gepressten Windel selbst von ihrer Mutter nicht mehr im Gesicht berühren lässt. Bianca befürchtet nicht ganz zu Unrecht, dass Bennis Verhalten auf ihren kleinen Sohn Leo abfärben könnte. Und weiß genau, dass sie ihren Freund Jens verlieren würde, sollte sie Benni wieder daheim aufnehmen.

Weil niemand mehr die sozialunverträgliche Bettnässerin ertragen will, ist die warmherzige Maria Bafané vom Sozialen Dienst verzweifelt. Die Kinderpsychiatrie ist keine Dauerlösung, wie Dr. Schönemann klarstellt: Sie könne die Kleine für eine Nacht mit Neuroleptika für erwachsene Schizophrenie-Patienten ruhigstellen, im stationären Bereich aber sei nichts frei. Maria Bafané fällt dann doch noch Silvia Schwarz ein, ihre erfahrenste und leidensfähigste Pflegemutter. Sie ist bereit, Benni zum zweiten Mal aufzunehmen – unter der Bedingung professioneller Hilfe. Die mit Michael „Micha“ Heller gefunden wird, einem ausgebildeten Anti-Gewalt-Trainer für straffällige Jugendliche. Maria und der coole Micha, der offenbar selbst so einiges erlebt hat und sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen lässt, setzen beim Jugendamt einen dreiwöchigen erlebnispädagogischen Aufenthalt in der einsamen Natur durch.

Schon die Autofahrt wird zum explosiven Hardcore-Erlebnis für beide, dass sich in der Hütte ohne Strom und fließendes Wasser fortsetzt. Und beim Bauern Bockelmann, bei dem Benni nur Milch holen soll und sich sogleich mit dem Hofhund anlegt. Dennoch: Micha und Benni bestehen die harte Probe in der Waldeinsamkeit. Und Letztere kann erstmals mit Stolz auf ein solches Erlebnis zurückblicken. Mit ungeahnten Folgen für den Schulbegleiter: Benni klammert sich an ihn, will auf Dauer bei ihm und seiner schwangeren Gattin Elli bleiben. Noch gerade rechtzeitig erkennt Micha die Gefahr des Kontrollverlustes, wenn er seine professionelle Distanz zu Benni verliert. Als deren Mutter plötzlich wieder auftaucht, nehmen die Dinge einen unvermuteten Lauf: Bianca ist bereit, sich wieder um Benni zu kümmern...

„Systemsprenger“ geht volle 125 Minuten lang unter die Haut. Weil Nora Fingscheidt und Yunus Roy Imer eine dokumentarisch zu nennende Distanz zu den Figuren dieses fiktionalen, aber doch sorgfältig recherchierten Spielfilms wahren. Jede einzelne Szene des an opulenten 67 Tagen gedrehten Films, so der das Projekt begleitende Düsseldorfer Professor für Intensivpädagogik Dr. Menno Baumann, habe sich in Deutschland genauso abgespielt. Hier gibt es keine Schwarz-Weiß-Malerei, kein Gut und Böse, kein Richtig und Falsch. Sondern nur Überforderung – bei allen Beteiligten. Und letztlich trotz gleich dreier am Ende anklingender Möglichkeiten eine Ausweglosigkeit, die Betroffenheit und Trauer auslöst. Bianca Klaaß ist nicht die „blöde Kuh, die sich nicht kümmert“, wie Maria Bafané zunächst urteilte. Und die Heimleiterin Redekamp kein Unmensch, wenn sie darauf besteht, ihre Schutzbefohlenen nicht länger den Gewaltausbrüchen Bennis aussetzen zu wollen. Es gibt Gründe für die Gewalt der Titelheldin, aber keine Rechtfertigung - und eine amtliche schon gar nicht: das Jugendamt muss im Sinne der Familie handeln und dabei das Gemeinwohl nicht außer Acht lassen. Prof. Baumann: „'Systemsprenger' verlangt vom Publikum das, was Benni von jedem einzelnen mit ihr konfrontierten Erwachsenen verlangt: Auszuhalten, dass es auch diese Seite des Menschseins gibt.“

Die beim Cast erst achtjährige, aber bereits filmerfahrene Helena Zengel in der Hauptrolle als wilde Benni ist ein Ereignis. Und konnte anschließend in den USA drehen - an der Seite von Tom Hanks als weibliche Hauptrolle in „News of the World“ von Paul Greengrass. Schon für das Drehbuch zu „Systemsprenger“ erhielt Nora Fingscheidt mehrere Preise, der im Wettbewerb der 69. Berlinale uraufgeführte Film wurde national und international mit Preisen überhäuft. Free-TV-Premiere ist am 17. Mai 2021 im ZDF.

Nora Fingscheidt im Presseheft: „Wir haben diesen Film gemacht, um Verständnis für Kinder wie Benni zu wecken. Der Strudel aus Wohnorten, der dauerhafte Wechsel von Bezugspersonen. Wie soll ein Kind, dessen einzige Kontinuität der Wechsel ist, irgendwo Halt finden? Gleichzeitig reißt Benni uns mit in die wilde und fantasievolle Welt eines Kindes, das um die Liebe seiner Mutter kämpft. Der Film soll trotz aller Tragik Bennis Lebensenergie widerspiegeln, ihren Humor und ihre Sehnsucht, und dabei im besten Fall ein mit allen Sinnen spürbares Kinoerlebnis schaffen. Bennis Verhalten mag schockieren, doch die Zuschauer sollen sie lieben und um sie fürchten. Gewalt von Kindern ist ein Hilfeschrei. Immer.“

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Drehbuch

Szenenbild

Kostüme

Mischung

Darsteller

Co-Produzent

Dreharbeiten

    • 07.11.2017 - 27.03.2018: Lüneburger Heide, Berlin, Hamburg
Länge:
125 min
Format:
DCP, 1:1,85
Bild/Ton:
Farbe, Dolby
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 23.05.2019, 189672, ab 12 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (DE): 08.02.2019, Berlin, IFF - Wettbewerb;
Kinostart (DE): 19.09.2019

Titel

  • Originaltitel (DE) Systemsprenger
  • Weiterer Titel (EN) System Crasher

Fassungen

Original

Länge:
125 min
Format:
DCP, 1:1,85
Bild/Ton:
Farbe, Dolby
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 23.05.2019, 189672, ab 12 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (DE): 08.02.2019, Berlin, IFF - Wettbewerb;
Kinostart (DE): 19.09.2019

Auszeichnungen

Edimotion - Festival für Filmschnitt und Montagekunst 2020
  • Filmstiftung NRW Schnitt Preis Spielfilm
Deutscher Filmpreis 2020
  • Lola in Gold, Bester Spielfilm
  • Lola, Beste Tongestaltung
  • Lola, Bester Schnitt
  • Lola, Beste weibliche Nebenrolle
  • Lola, Beste männliche Hauptrolle
  • Lola, Beste weibliche Hauptrolle
Bayerischer Filmpreis 2020
  • Beste Produktion (ex aequo >Das perfekte Geheimnis<)
Europäischer Filmpreis 2019
  • Europäischer Filmpreis, Beste Filmmusik
Kinofest Lünen 2019
  • Insassenpreis der JVA Werl
  • Perle, Maskenbild
Günter Rohrbach Filmpreis 2019
  • Preis des Oberbürgermeisters
  • Preis des Saarländischen Rundfunks
  • Günter Rohrbach Filmpreis
Filmkunstfestival Schwerin 2019
  • Preis für die Beste Musik- und Tongestaltung im Spielfilm
  • Förderpreis der DEFA-Stiftung
  • FIPRESCI-Kritikerpreis
  • Fliegender Ochse, Bester Spielfilm
IFF Berlin 2019
  • Silberner Bär, Alfred-Bauer-Preis
Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost 2019
  • Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost
FBW 2019
  • Prädikat: besonders wertvoll