Auf Streife durchs Leben – Migrantenschicksale im Dokumentarfilm

Parallel zu der Welle an Spielfilmen, die in den späten 70er und 80er Jahren die Schicksale ausländischer "Gastarbeiter" in Deutschland, Österreich und der Schweiz dramatisierten, machten sich auch Dokumentarfilm-Regisseure daran, die Lebensumstände sowie die kulturellen und sozialen Konflikte der Einwanderer zu beleuchten. Zunächst ging es in diesen Filmen, wie auch in den Spielfilmen zum Thema, in erster Linie um die schwierige Situation der ausländischen Arbeiter "in der Fremde". "Siamo italiani" (1964), eines der ersten Werke des "Neuen Schweizer Films", war zugleich der erste Dokumentarfilm im deutschsprachigen Raum, der die Situation der italienischen Arbeitsmigranten in der Schweiz thematisierte: Zunächst als Billigarbeitskräfte ins Land geholt, galten sie vielen Schweizer Bürgern bald als vermeintliche "Jobdiebe". Auch bei der deutschen Produktion "Die Kümmeltürkin geht" (1984/85) steht eine "Gastarbeiterin" im Mittelpunkt, die einerseits als Arbeitskraft ausgebeutet und andererseits sozial ausgegrenzt wird – bis sie, von Isolation und Diskriminierung zerrieben, nach Jahren der Demütigung in ihre Heimat zurückkehrt. Mit Jörg Gförers "Ganz Unten" erreichten die Dokumentarfilme, die sich mit den Problemen der ersten Migrantengeneration befassten, eine Art thematischen Höhe- und Endpunkt – denn drastischere (Dokumentar-)Bilder konnte man für die Diskriminierung der ausländischen (vorwiegend türkischen) Arbeiter kaum finden. Basierend auf dem gleichnamigen Buch des Enthüllungsjournalisten Günther Wallraff schildert der Film in einer Mischung aus heimlich gedrehtem Dokumentarmaterial und nachträglich geführten Interviews den schockierenden Berufsalltag von türkischen Leiharbeitern bei den Thyssen-Stahlwerken. 

 
Quelle: DIF
Günter Wallraff (rechts) in "Günter Wallraff - Ganz unten" (1986)
 

Die Kinder blicken zurück
Beschäftigten diese Filme sich ausschließlich mit der ersten Migrantengeneration, deutet sich in Michael Lentz" "Verländert" (1983) bereits ein Blick auf die folgende Generation an: die Kinder der Migranten, die in Deutschland geboren wurden und hier aufgewachsen sind. In "Verländert" porträtiert Lentz eine Tochter türkischer Eltern, die gezwungen wird, sich zu entscheiden zwischen der traditionellen Lebensweise ihrer Eltern, die sie in die Türkei zurückschicken wollen, und einem (relativ) selbstbestimmten Leben in Deutschland – um den Preis, dafür mit ihren Eltern brechen zu müssen. In den 90er Jahren entstanden dann immer mehr Dokumentarfilme, bei denen in erster Linie die Kinder der zweiten Migrantengeneration im Mittelpunkt stehen: Sei es auf familiärer Ebene, wie etwa in Serap Berrakarasus "Töchter zweier Welten" (1990/91) und Seyhan Derins "Ich bin die Tochter meiner Mutter" (1996), in denen die Filmemacherinnen ihr durchaus kompliziertes Leben "zwischen den Kulturen" beschreiben, oder auf gesellschaftlicher Ebene, wie in Aysun Bademsoys "Deutsche Polizisten", der junge deutsche Polizeibeamten ausländischer Herkunft bei ihrem Arbeitsalltag in Bezirken mit hohem Ausländeranteil begleitet. Bademsoys Dokumentationen "Mädchen am Ball" (1995), "Nach dem Spiel" (1997) und "Ein Mädchen im Ring" (1996) handeln von jungen Frauen ausländischer Abstammung, deren Lebensweise sich nicht nur von der ihrer deutschen Freundinnen kaum mehr unterscheidet, sondern die zudem in klassisch "männliche" Domänen vordringen: Als Fußballspielerinnen und Boxerinnen träumen sie von einer Zukunft im Profisport. Das selbstreflexive Element dieser Filme, die durchweg von Regisseurinnen stammen, die selbst zur Generation der Einwandererkinder gehören, erweitert sich bisweilen um den Blick auf ihre eigenen Eltern. Kadir Sözens "Mein Vater der Gastarbeiter" (1994) und Fatih Akins "Wir haben vergessen zurückzukehren" (2000) sind Versuche, die schwierige Situation der eigenen Eltern zu begreifen, die ihre Heimat verlassen mussten, um in einem fremden Land mit einer fremden Kultur ein neues Leben zu beginnen.