Sowohl als auch: Das "deutsch-türkische" Kino heute
Ende der 1990er Jahre lassen einige Filme wegen ihres neuartigen Umgangs mit der Frage der kulturellen Identität aufhorchen: "Geschwister – Kardeşler", der erste Teil einer Trilogie zu jungen Deutschtürken in Berlin, oder der Dokumentarfilm "Nach dem Spiel", der fünf Mädchen porträtiert, die in der einzigen türkischen Frauenfußballmannschaft Europas spielen. Für "Kurz und schmerzlos", einer Gangsterballade aus dem multikulturellen Hamburg, wird 1998 der junge Regisseur Fatih Akin mit dem bayrischen Nachwuchsregiepreis ausgezeichnet.
Grenzenlos transnational
Die Entstehung eines "deutsch-türkischen" Kinos ist sowohl Teil eines internationalen Phänomens, des "Cinema du métissage", als auch Zeichen für ein neues selbstbewusstes Auftreten der Türken innerhalb der deutschen Kulturszene. Wenn hier von einem "deutsch-türkischen" Kino die Rede ist, stellt damit sich zugleich die Frage: Wo sind die Grenzen zu einem "deutschen" Kino? Denn sowohl in ihrer Eigenpositionierung als auch in der Auswahl ihrer filmischen Mittel, Genres und Sujets zeigen die "deutsch-türkischen" Filme eine große Vielfalt. Eine ihrer wichtigsten Tendenzen ist die allmähliche Emanzipation der Filmschaffenden von unterschwelligen Erwartungen und fest gefügten Schablonen: "Wir sind viel deutscher als viele Deutsche", sagt Buket Alakus 2002: "Unsere Wohnungen, unsere Ziele – da gibt es nicht so viele Unterschiede, wie viele früher immer glaubten." Bei der Themenauswahl ist der Bezug der Regisseure und Regisseurinnen auf die eigene, deutsch-türkische Biographie zwar insofern präsent, als ihre Filme immer wieder in einem multikulturellen Milieu angesiedelt sind. Entscheidend jedoch ist dabei die gewachsene Überzeugung, dass ihre Filme durchaus Geschichten von Einwanderern und deren Kindern erzählen können, aber keineswegs darauf festgelegt sind. In seinem Erstlingsfilm "Mach die Musik leiser" porträtiert Thomas Arslan deutsche Jugendliche im Ruhrgebiet an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Auch Mennan Yapos Thriller "Lautlos" hat keinen sichtbaren Bezug zur Einwanderergeschichte. In Filmen wie "Elefantenherz" von Züli Aladag oder Ayse Polats "En Garde" ist Migration nur in der Nebenhandlung präsent.
Auferstanden aus dem Ghetto
Anders als in den Migrationsfilmen der 70er und 80er Jahre, die immer wieder klar abgegrenzte Kulturen aufeinander prallen ließen, stehen im Zentrum vieler dieser neuen Filme offene Formen des Zusammenlebens in einer hybriden, urbanen Gesellschaft. Wie z.B. in "Gegen die Wand" sind "deutsch-türkische" Figuren auf verschiedene Weise – bisweilen auch mit Widersprüchen oder Problemen behaftet – sowohl in Deutschland als auch in der Türkei verwurzelt. Und diese Prägung durch mehrere Kulturen wird seit dem Ende der 90er Jahre immer wieder wie nebenbei, als etwas Alltägliches, gezeigt – sie begleitet die Filme. Thomas Arslan hat es zu seinem Film "Der schöne Tag" so formuliert: "Die Figur der Deniz steht sicher für die Erfahrungen von vielen ihres Alters. (... ) Die vielbeschworene Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen entspricht nicht ihren Lebenserfahrungen. (...) Sie bewegt sich mit Selbstverständlichkeit durch die Umgebung, in der sie lebt."
Als konsequente Weiterentwicklung dieser Orientierung wird ethnische Identität in diesen Filmen als nur ein Eckpunkt neben anderen präsentiert. "Lola und Bilidikid" porträtiert die Ortlosigkeit eines Transvestiten in einem türkisch-deutschen Niemandsland der Geschlechterrollen und -zuschreibungen. "Yara" zeigt die seelische Labilität und die Ausweglosigkeit der Psychiatrie. "Dealer" ist, wie Horst Peter Koll im "film-dienst" meint, "eine existentialistische Geschichte, die nur mittelbar von sozialen Konflikten und deren Brennpunkten handelt". Außerdem ist die anklagende Schwere, die viele Filme über Migranten charakterisierte, nicht mehr unumgänglich: Filme wie Hussi Kutlucans "Ich Chef, Du Turnschuh" zeigen, dass heute sogar das Thema Asyl in einer komödiantischen Form dargestellt werden darf. Dieses Aufkommen von humoristischen Auseinandersetzungen mit der Multikulturalität korrespondiert einerseits mit einem neuen Selbstverständnis der Filmschaffenden, andererseits aber auch mit der Comedy-Entwicklung im deutschen Fernsehen, wo nicht nur Erkan & Stefan, sondern auch Kaya Yanar ("Was guckst Du?") und Django Asül ("Quatsch Comedy Club") mittlerweile einen festen Platz haben.
Gegen die Wand? Filmproduktion – Produktion von Stereotypen
Waren Filme von Einwanderern bzw. Migrantenkindern bis in die 90er Jahre die Ausnahme im deutschen Film, lässt sich heute eine größere Normalität und Kontinuität in der Arbeit der transnationalen Filmeschaffenden – auch bei den deutsch-türkischen Regisseurinnen – beobachten. Dasselbe gilt für die Akteure vor der Kamera: Schauspieler wie Birol Ünel (Gewinner des Deutschen Filmpreises 2004) und Schauspielerinnen wie Idil Üner gehören mittlerweile zu den bekannten Gesichtern des deutschen Kinos. Sie sind nicht nur auf der Leinwand, sondern auch im Fernsehen zu sehen, wo seit einigen Jahren die Anzahl von Darstellern ausländischer Herkunft kontinuierlich wächst. Selbstverständlichkeit, Heterogenität und eine differenzierte und schwer fassbare Verbindung von Biographie und Fiktion sind Merkmale der jungen deutsch-türkischen Filme. Gleichwohl verbinden weite Teile der öffentlichen Rezeption mit diesen Filmen immer noch einen "authentischen" Blick auf die sozialen Probleme der Einwanderer. Der Moment der Phantasie, der Fiktionalisierung, der ästhetischen Verarbeitung, der jeden Film auszeichnet, fällt schnell aus dem öffentlichen Blick. Erwartet wird die Darstellung von "wahren Geschichten" über eine homogene Gruppe der Türken und Türkinnen in Deutschland – also etwas, dem die Filme in ihrer Vielfalt mit Nachdruck widersprechen. Auch wenn einige dieser jungen Filme nach wie vor Stereotypen und sozial-kritische Klischees bedienen: viel mehr als über Migranten machen diese Filme Aussagen über eine hybride deutsche Realität jenseits von Leitkulturen.