Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen führen gemeinsam mit dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst über die Dauer von drei Jahren ein neuartiges Archivprojekt durch.
Filmgeschichte wird darin als eine Geschichte von konkreten Filmkopien und als eine auch durch Filmfestivals geprägte Wirkungsgeschichte verstanden. Im Rahmen des Projekts werden die analogen Kopienbestände der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen (seit 1954) und des Arsenal (insbesondere die Filme aus dem Programm des Berlinale Forums, seit 1971) sowie ausgewählte andere Filme aus dem Oberhausener Archiv mit einer aufschlussreichen Kopien- und Wirkungsgeschichte abgeglichen und aufeinander bezogen. Das Projekt wird von dem Kurator und Journalisten Tobias Hering betreut.
Filme, die auch im analogen Zeitalter einmal tendenziell unendlich reproduzierbar erschienen, werden allmählich selbst zu Originalen, weil Negative verloren gingen, aber auch weil verschiedene Kopien stark voneinander abweichen können und ihre Wirkungsgeschichte ganz unterschiedlich verlaufen ist. Angesichts des designierten "Endes des analogen Kinos" besteht die Herausforderung darin, die materielle Einzigartigkeit der Kopien für die Filmgeschichte fruchtbar zu machen, die damit auch zu einer Sozialgeschichte des Kinos wird.
"re-selected" formuliert und erprobt neue Formen, archivarische, filmästhetische und soziologische Fragestellungen in Bezug zu setzen. Anstatt die digitale "Rettung" eines filmischen Werkes als Ideal zu propagieren, würdigt das Projekt gerade die individuellen Eigenheiten einer Kopie, die bei der Digitalisierung in der Regel getilgt werden. Damit erhöht sich die Komplexität des filmhistorischen Zugangs wieder, denn wenn Filme in ihrer Materialität, also als Filmkopie, untersucht werden, erscheint ihre künstlerische Relevanz und filmhistorische Bedeutung vor dem Hintergrund ihrer Wirkungsgeschichte an konkreten Orten, zu einer konkreten Zeit und vor einem konkreten Publikum – ob ein Film nun als Klassiker kanonisiert oder als verkanntes Werk zum Gerücht wurde.
Von Details der einzelnen Kopie führt ein direkter Weg zum Kinoerlebnis und der jeweiligen gesellschaftlichen Realität, in der es sich ereignet. Wo wurde ein Film überhaupt gezeigt, wer hat ihn gesehen und in welcher Fassung? Sind Kopienschäden und -verluste Spuren einschlägiger politischer Ereignisse, wie zum Beispiel in den 1990er Jahren kriegsbedingt im ehemaligen Jugoslawien? Womöglich existiert kein Negativ mehr, sondern es gibt nur noch vereinzelte Kopien – wie von dem einzigen Film der iranischen Dichterin Forough Farrokhzad, "Das Haus ist schwarz" (1963), der in seinem Land zensiert wurde und von dem die Kurzfilmtage lange Zeit die einzige verfügbare unzensierte Kopie in ihrem Archiv hatten.
Auch die Präsenz der Kopie an einem bestimmten Ort ist ein Verweis auf eine kuratorische oder bildungspolitische Praxis. Beim Vergleich verschiedener Kopien des gleichen Films können gravierende Unterschiede zutage treten: Unterschiedliche Vorspänne, voneinander abweichende Sprachfassungen, fehlende Fragmente bis hin zu abweichenden Schnittfolgen geben Aufschluss darüber, für welches Publikum eine Kopie konfektioniert wurde – und was diesem womöglich vorenthalten werden sollte.
Das auf drei Jahre angelegte Projekt "re-selected" konzentriert sich auf ausgewählte Arbeiten aus dem analogen Bestand des Archivs der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Ein besonderes aber nicht ausschließliches Augenmerk gilt dabei einem Pool von etwa 80 Filmen, die sowohl hier wie auch im Arsenal-Archiv in Berlin liegen. Aus der eingehenden Recherche zu den Kopien, ihrer Geschichte und ihren Merkmalen entwickelt das Projekt exemplarische Zugänge und stellt diese vor verschiedenen Öffentlichkeiten zur Diskussion.
Die Auftaktveranstaltung findet bei den 64. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen (3. bis 8.05.2018) statt, weitere Veranstaltungen folgen an unterschiedlichen Orten. "re-selected" soll in eine Buchpublikation münden, die die Ergebnisse zusammenfasst und die Systematik des Projekts als einen Beitrag zur Filmgeschichtsschreibung im post-analogen Zeitalter formuliert.
Der Projektleiter:
Tobias Hering, geboren 1971 in Siegen, lebt als freier Kurator und Journalist in Berlin. Seine Arbeit konzentriert sich auf thematische Programmreihen, bei denen oft gesellschafts- und bildpolitische Fragestellungen im Mittelpunkt stehen. Film- und Videoarchiven kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Am Arsenal – Institut für Film und Videokunst in Berlin war er Teilnehmer des Pilotprojekts "Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart" sowie des anschließenden Projekts "Visionary Archive", einer kollaborativen Recherche zu afrikanischen Filmarchiven. Aus diesen Projekten gingen u.a. die Projektdokumentation "Luta ca caba inda: time place matter voice" (Archive Books, 2017) und die DVD-Edition "Specters of Freedom: Cinema and Decolonization" (Arsenal/Filmgalerie 451, 2018) hervor, die Tobias Hering mit herausgegeben hat. Im Herbst 2017 kuratierte er gemeinsam mit Annett Busch an der Akademie der Künste Berlin den Programmzyklus "Sagen Sie's den Steinen", eine Ausstellung und Retrospektive zum Werk von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Seit 2011 ist er an der Programmarbeit des Kasseler dokfests beteiligt, zuletzt mit einer Werkschau von Peter Nestler.
Die Förderer:
"re-selected" ist ein gemeinsames Projekt der Kurzfilmtage mit dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. im Rahmen von "Archive außer sich". "Archive außer sich" ist ein Projekt des Arsenal im Rahmen einer Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und der Pina Bausch Foundation, Teil des HKW-Projekts "Das Neue Alphabet", gefördert von der Beauftragten für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.
Quelle: www.kurzfilmtage.de