"Rounds" (Bulgarien, Serbien, Frankreich 2019, Regie: Stephan Komandarev) ist der Gewinner des Hauptpreises der 20. Ausgabe von goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden, der Goldenen Lilie.
Die internationale Jury unter dem Vorsitz von Christoph Terhechte begründete ihre Entscheidung damit, dass der brillant gemachte, vielschichtige Film "das Innerste und die menschliche Zerbrechlichkeit seiner Figuren aufzeigt, indem er ihre ethischen oder moralischen Entscheidungen, ihre Überzeugungen, ihre Stärke oder Fähigkeit, Stellung zu beziehen, in Frage stellt, während sie vor einer radikalen Entscheidung stehen. Mit authentischen Dialogen, ausgezeichnetem Schauspiel und bemerkenswerter Kinematographie gelingt es dem Film, einfühlsame menschliche Porträts zu schaffen. Er verbindet das Persönliche mit dem Universalen und wächst so zu einer Reflexion über die dunkle und helle Seite der menschlichen Natur und ihre Verbindung mit einer größeren Welt heran", betonte die Jury.
107 Filme aus 40 Ländern, mit insgesamt 21 Deutschlandpremieren standen für das Festivaljubiläum von goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films vom 5. bis 11. Mai 2020 bereits in den Startlöchern. Aufgrund der unvorhersehbaren Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie entwickelten die Festivalmacher/innen für die 20. Jubiläumsausgabe eine Hybridlösung mit OnlineAngeboten und Live-Events zu späteren Terminen in diesem Jahr. Das Ziel: mittel- und osteuropäische Film(-kultur) trotz und gerade wegen der Krise in Deutschland weiterhin erlebbar zu machen.
Karolis Kaupinis gewann mit seinem bemerkenswerten Debüt "Nova Lituania" (Litauen 2019) den Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die Beste Regie. "In atemberaubend schönem Schwarz-Weiß im klassischen Academy Format gedreht, führt uns dieser Film zurück nach Litauen im Jahr 1938, wo die Sorge um den bevorstehenden Krieg einen einsamen Politiker dazu veranlasst, über Pläne für ein 'Ersatzlitauen' irgendwo auf einem fernen Kontinent nachzudenken. Oszillierend zwischen grotesken Momenten und melancholischer Reminiszenz, macht der Film die Absurdität seiner Erzählung universell und schafft eine surreale Metapher für Wehrlosigkeit und Verletzlichkeit, die weit über die Schauplätze des Films hinaus nachklingt", so die Jury.
Der Film "Immortal" (Estland, Lettland 2019, Regie: Ksenia Okhapkina) wurde mit dem Preis des Auswärtigen Amtes für Kulturelle Vielfalt ausgezeichnet. Der Film stellt in atmosphärisch und filmisch kraftvoller Form die komplexen Strukturen des Daseins in einem ideologisch aufgeladenen Umfeld dar, betonte die Jury. "Die minutiös choreographierte Struktur des Films entwirft das Bild einer Stadt die einst ein Ort der Trauer für viele war, jetzt aber instrumentiert wird, um pflichtbewusste Bürger eines Staates zu erziehen. Der Staat wird zum Vorbild für andere Geschehnisse auf der ganzen Welt. Die perfekt komponierte Bild- und Tongestaltung des Films und die Wahl der Farben versetzt uns in eine gleichzeitig fesselnde und beängstigende Welt."
Mit einer lobenden Erwähnung bedachte die Jury "Ivana the Terrible" (Rumänien, Serbien 2019, Regie: Ivana Mladenović) eine charmante Mischung aus Fiktion und Dokumentarfilm. Die Regisseurin selbst ist die Hauptfigur im Film, sie platziert sich im Zentrum der Ereignisse als unsympathische, voreingenommene Hypochonderin, die ihre Heimat besucht. Sie schafft es scheinbar mühelos, uns eine realistische Version ihres Heimatdorfes Kladovo in Serbien zu zeigen. Ergänzt wird dies durch glaubwürdige Darstellungen ihrer eigenen Familie, Freunden, ehemaligen Geliebten und lokalen Beamten. Ihr Privatleben wird auf spielerische Art politisch. Fragen über die Zukunft werden mit Fragen über den eigenen Geburtsort verwoben, während Ivana als verwirrter Millennial ironischerweise das Maskottchen des traditionellen Sommer Festival wird, das die serbischeromanische Freundschaft feiert. Der Film zeichnet ein fesselndes Portrait der Generation Y im Balkan.
Festivalleiterin Heleen Gerritsen freute sich über einen ganz besonderen Jubiläumsjahrgang von goEast: "Zum ersten Mal fand ein Teil von goEast online statt. Eine neue Erfahrung! Im virtuellen Caligari feierten Avatare sogar echte Parties. Unsere Juries arbeiteten in diesem Jahr online: Jurymitglieder aus verschiedenen Zeitzonen und Ländern wie Belarus, Deutschland, Frankreich, Georgien, Großbritannien, Israel, Lettland, Rumänien und den USA trafen sich online und vergaben die – zum Teil symbolischen – Preise. Dennoch geht nichts übers echte Kino mit echten Begegnungen. Im November sehen wir uns hoffentlich in der realen Caligari FilmBühne für die Vorführungen der 16 Wettbewerbsbeiträge."
Der Preis der Internationalen Filmkritik FIPRESCI in der Kategorie Spielfilm ging ebenfalls an "Rounds" (Bulgarien, Serbien, Frankreich 2019, Regie: Stephan Komandarev). "Die Kritik des Regisseurs an seiner Gesellschaft erhält ihre Kraft durch die Kombination von schwarzem Humor, Absurdität und Sarkasmus. Wenn es in Bulgariens Hauptstadt dunkel wird, beginnt das eigentliche Gespräch. 'Rounds' ist eine brutal ehrliche und doch elegant aufgebaute Reise, die unsere Aufmerksamkeit von Anfang an erregte", hieß es in der Jurybegründung.
In der Kategorie Dokumentarfilm gewann "State Funeral" (Niederlande, Litauen 2019, Regie: Sergei Loznitsa). "Ein faszinierender Dokumentarfilm, dessen Kraft in den Bildern liegt – keine Erzählung, keine Interviewer, keine ausgefeilte Regie, sondern vor allem Schnitt. Das Zusammenspiel von Bildmaterial und Musik macht Sergei Loznitsas 'State Funeral' zu einem zugänglichen Stück Geschichte. Ein unvergleichliches Erlebnis und eine morbide Zeitreise, die keiner von uns je vergessen wird."
Die Regisseure Jacek Naglowski und Patryk Jordanowicz wurden für "Whispers" (Polen 2019) mit dem von der BHF BANK Stiftung für Virtual-Reality-Werke ausgelobten Open Frame Award ausgezeichnet. "'Whispers' erforscht Heilung auf poetische Art und behandelt das sonst unzugängliche Thema Leben und Tod zu einer Zeit, in der sich die Welt besonders stark mit diesem konfrontiert sieht. Jede Szene gleicht einem Gemälde. Ein visuelles Festmahl, von den Farben bis hin zur Komposition – die Kinematografie des 360 Grad Films ist eine Meisterleistung." Die Jury lobt besonders die Vorsicht und die Zärtlichkeit, mit der der Filmemacher dem Thema und dem Zuschauer begegnet. "Wir wurden gehalten, wir hatten Platz zum Atmen. Herzliche Glückwünsche an Jacek Nagłowski!"
Eine lobende Erwähnung sprach die Jury für "Babyn Yar. Virtual Memory" (Ukraine 2020) von Alona Stulii aus. Besonders hervorgehoben werden die sorgsame und sachliche Erforschung sowie Nachstellung der tragischen Geschichte von Babyn Yar in VR. "Herzliche Glückwünsche an die Regisseurin Alona Stulii und die Produzenten Kirill Pokutnyy und Sergey Tereshchenko!"
Der vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain gestiftete RheinMain Kurzfilmpreis wurde in diesem Jahr zum zweiten Mal vergeben. Die Jury aus Vertreter/innen von Programmkinos aus dem Rhein-MainGebiet hat sich nach konstruktiver Diskussion für den Beitrag "In Between" (Kosovo 2019, Regie: Samir Karahoda) und ganz explizit für einen herausragend gefilmten Dokumentarfilm entschieden. "Die einnehmende Komposition der Bilder erlaubt uns Zuschauern intensive Einblicke in Architektur, Historie, Familie, Menschen und Kultur und lädt zum Diskurs über traditionelle Familienstrukturen und Zusammenhalt ein. Weiterhin schafft es die Kurzdoku in ihrer Gesamtheit zu fesseln und mit akribischer Nähe zu den Protagonisten und ihren Geschichten das erzählende Szenario zu bebildern. Herausragend", betont die Jury.
Eine lobende Erwähnung sprach die Jury für "Virago" (Estland 2019, Regie: Kerli Kirch Schneider) als märchenhaftes Plädoyer für nahezu perfektes Erzählkino aus: "'Virago' Beeindruckt mit subtilem Augenzwinkern, Humor und großer Magie. Ein großartiger Beitrag und perfektes Beispiel für die filmische Kunst vom Geschichten-Erzählens mit einer Moral."
Das Renovabis Recherchestipendium für Dokumentarfilmprojekte mit Menschenrechtsschwerpunkt 2020 geht an "Home Is Where the Films Are" von More Raça. Das Gewinnerprojekt unterstreicht, dass zu den Menschenrechten auch ein Recht auf Fantasie und Kultur gehört. "Wir verstehen das Projekt und auch den Preis selbst als Ermutigung für alle Kulturschaffende in diesen schwierigen Zeiten." Thematisiert werden Filmvorführungen für Kinder in Flüchtlingslagern. Die Regisseurin aus dem Kosovo lebte als Kind selbst in einem Flüchtlingslager in Mazedonien und hat hier persönlich erfahren, welche Kraft Film und Kultur entfalten kann. Die Filme, die sie dort gesehen hat, haben sie zur Filmemacherin werden lassen. Für sie wurde das Kino zu einem Zuhause inmitten von Chaos und Elend des Lagers.
"Shut the Fuck Up!" von Taisiia Kutuzova aus Ukraine wurde als bestes Projekt im Rahmen des EastWest Talent Lab mit dem goEast Development Award bedacht. "Ausschlaggebend war die zwingende Relevanz des Projekts als Spiegel für unsere Zeit und als Signal der Hoffnung angesichts schwieriger gesellschaftlicher Verhältnisse", betonte die Jury. Ein junger Protagonist zeigt Zivilcourage in einer kleinen ukrainischen Provinzstadt – und stellt sich allein dem Kampf gegen Korruption. Eigentlich eine lokale Geschichte, die aber auf den Zustand in einem ganzen Land verweist. Dort, wo funktionierende demokratische Strukturen erst noch aufgebaut werden müssen, kann politisches Engagement dieser Art lebensgefährlich sein – nicht nur für den Aktivisten. "Auszeichnen möchten wir deshalb den Mut der Filmemacherin und ihren langen Atem. Möge der Preis ihr den Rücken stärken, um ihre wichtige Arbeit fortzusetzen", so die Jury.
Die Wahl des goEast Medienpartners 3sat, der seit Beginn des Festivals in jedem Jahr den Ankauf für einen Film des Programms anbietet, fiel für 2020 auf den Wettbewerbsfilm "Zana" (Kosovo, Albanien 2019) von Antoneta Kastrati. Der Film soll 2021 bei 3sat seine TV-Premiere feiern. Die Jubiläumsausgabe von goEast drohte mit der Corona-Krise zunächst ein ungewisses Schicksal. Dank des Engagements der Festivalmacher/innen sowie der Unterstützung seitens Sponsoren und Fördern konnte das Festival stattfinden und geht nun über den eigentlichen Festivalzeitraum hinaus. Mit der Preisverleihung zieht goEast so keinen Schlussstrich unter seiner 20. Ausgabe, sondern macht weiter und bringt den mittel- und osteuropäischen Film dorthin zurück wo er hingehört: ins Kino.
Vom 24. bis 27. Juli findet das Symposium "Filmerbe der Umbruchszeit" im Kino des DFF – Deutsches Filminstitut und Filmmuseum statt, im Spätsommer erwartet das Paneuropäische Picknick Kulturinteressierte zu einem nächtlichen Kurzfilmspaziergang, zu einem Picknick und Sprachkursen im Mix Markt und im Rahmen von exground filmfest gibt es im November schließlich die komplette Wettbewerbssektion von goEast zu sehen. In der Caligari FilmBühne begrüßt das Festival dann auch wieder namenhafte Filmgäste in Wiesbaden, darunter unter anderem Stephan Komandarev (Regisseur "Rounds"), Vlad Ivanov (Hauptdarsteller "Servants"), Karolis Kaupinis (Regisseur "Nova Lithuania") und Ksenia Okhapkina (Regisseurin "Immortal"). Im Rahmen der Screenings wird mit dem goEast Publikumspreis auch der letzte Preisträger für das Festivaljahr bekannt gegeben.
Quelle: www.filmfestival-goeast.de