Am gestrigen Abend wurden im Berliner Holzmarkt die First Steps Awards 2021 verliehen.
Eine Auswahl der Preisträger- und nominierten Filme sind noch bis zum 30. Juni auf der unabhängigen Streamingplattform behind the tree kostenfrei streambar.
Kurz- und Animationsfilm:
"Dear to me" Regie: Monica Vanesa Tedja (Kurzspielfilm, 20‘), Filmuniversität Babelsberg "Konrad Wolf"
Dazu die Jury: "Dear to me" ist ein leises, träumerisches Porträt eines heranwachsenden Indonesiers und seiner beständigen Sehnsucht nach einem geliebten Menschen. Im idyllischen Umfeld einer Insel scheint alles, was er im Urlaub mit seinen Eltern erfährt, gegen das zu sein, was ihn glücklich macht. Mit elliptischer Dramaturgie erzählt, entfaltet sich zwischen aufblühender Sexualität und konservativem Glauben nach und nach eine berührende Geschichte über Einsamkeit und Sehnsucht. Der Höhepunkt der schmerzlichen Erzählung kulminiert im gemeinsamen Beten der Familie – feinfühlig inszeniert Regisseurin Monica Vanesa Tedja diese Szene, die voller emotionaler Gewalt steckt und den Schmerz ihres Protagonisten authentisch nahebringt. Assoziative Bilder und ein fantastischer Moment der Imagination lassen den Film zu einem poetischen Kunstwerk wachsen, das sich ganz auf das Innenleben seiner Figur konzentriert und trotz malerischer Kulisse nie in den Kitsch abzurutschen droht.
Mittellanger Spielfilm:
"Neverinland" Regie: Fatih Gürsoy (Mittellanger Spielfilm, 45‘), freie Einreichung
Dazu die Jury: Fatih Gürsoy nimmt uns in seinem Film mit auf eine Insel. Er nennt sie "Neverinland". Wir denken an Peter Pan und sein Nimmerland."Du kannst sein, wer Du sein willst." Doch diese Insel ist ein Asylbewerberheim. Die jungen Männer, Asylsuchende, die Kinder. Statt sorglos und unsterblich sind sie voller Sorgen und gesellschaftlich tot. Sie sind eine Akte. Eine ewige Warteschleife. Dehumanisiert, abgestellt, bald vielleicht abgeschoben. Echte Asylsuchende, die sich selbst spielen und ihre Geschichten erzählen. Tragisch und doch fantastisch. Dass diese harte Realität hoffnungsvoll sein kann, macht der Regisseur deutlich. Denn mit der Utopie im Herzen, lässt er seine Protagonisten zu Helden werden. In seinem ganz eigenen Neverinland.
Abendfüllender Spielfilm:
"Schattenstunde". Regie: Benjamin Martins (Spielfilm, 78'), freie Einreichung
Dazu die Jury: Mit beeindruckendem Mut erzählt "Schattenstunde" von den letzten Stunden des christlichen Schriftstellers Jochen Klepper und seiner jüdischen Ehefrau und Tochter – einer Familie, die in einem nationalsozialistisch regierten Deutschland nur noch den Selbstmord als Ausweg sieht. Kammerspielartig inszeniert Regisseur Benjamin Martins Hadern und Ausweglosigkeit. Obwohl der physische Raum so klein ist, wird die Geschichte gesellschaftsübergreifend erzählt. Dabei greift er auf einen schier unerschöpflichen Ideenreichtum zurück und bricht konstant mit filmischen Konventionen und Sehgewohnheiten. Die so erschafften Bilder treffen einen bis ins Mark und zeugen von einer beeindruckenden künstlerischen Übersetzung emotionaler Klaustrophobie. Eine Freiheit im Geist und in der Neuschöpfung kreativer Mittel, die wir so noch nie gesehen haben.
Götz-George-Nachwuchspreis:
Barbara Colceriu für ihre Rolle in: "Liebe, Pflicht und Hoffnung" (Mittellanger Spielfilm, 30‘), Filmuniversität Babelsberg "Konrad Wolf"
Dazu die Jury: Elisabeth steckt in Schulden, aufgrund eines angeblich geklauten Pfandbons wird sie im Supermarkt entlassen und auf dem Heimweg steht jemand mit Vollstreckungsbescheid vor der Haustür. Doch ihre Bude ist recht runtergerockt, Renovierungen im ganzen Haus, Wasserschäden und wacklige Stromleitungen – zu pfänden gibt es hier nichts. Eine filmische Übersetzung der Abwärtsspirale nach Horváth, die uns vor allem durch das beeindruckend präzise Spiel dieser schrecklich schön scheiternden Figur mitten ins Herz trifft. Barbara Colceriu trägt mit ihrem Gefühl für die Kamera, ihrem präzisen Timing in den Dialogen und ihrem gekonnten Wechsel zwischen Mut und Zerbrechlichkeit jede einzelne Szene des Films. Es sind die leisen Beats in ihrem Rhythmus, die betonten Verzögerungen und ihre feinfühlige Körpersprache, die uns eine leibhaftige, nuancierte Figur zeichnen.
Dokumentarfilm:
"Mein Vietnam" Regie: Tim Ellrich & Hien Mai (Dokumentarfilm, 70‘), Filmakademie Baden-Württemberg
Dazu die Jury: Wo ist Heimat, wenn man nicht mehr dort ist, wo man herkommt? Wenn man zurück gehen, aber bleiben möchte? In "Mein Vietnam" beobachten Hien Mai und Tim Ellrich den Alltag des Ehepaars Bay und Tam, es sind die Eltern von Hien. Sie kamen vor 30 Jahren nach Deutschland. Hier zogen sie Ihre Kinder auf, hier arbeiten sie als Reinigungskräfte und leben allein in ihrer Wohnung in München. Aber im Herzen und Alltag scheinen sie vor allem mit ihrer alten Heimat in Vietnam verbunden zu sein. Mit ihrer Familie und Freunden sind sie täglich online, sie sitzen gewissermaßen mit am Wohnzimmertisch, vor allem Tam ist voller Sehnsucht nach der alten Heimat, per Skype leitet er den Bau des eigenen Hauses, das Ruhesitz werden soll, dann aber schwer von einem Sturm beschädigt wird. In seinen freudigen Momenten sitzt Tam abends in Karaoke Chatrooms und singt melancholische Liebeslieder. Manchmal singt auch Bay mit, sie versucht Deutsch zu lernen, im Sprachkurs und mit Hilfe ihrer Tochter Hien Mai. Dann muss Sie das Leiden und Sterben ihrer Schwester online erleben, bei der Beerdigung bricht der Empfang ab.
"Mein Vietnam" ist ein zutiefst berührender Film über die Frage, wo man zu Hause ist, im Herzen und im Leben. Die filmische Umsetzung ist einfach und klar, die Kamera greift dramaturgisch nicht ein, sie ist gewissermaßen stiller Teil der Familie. Und für Bay und Tam ändert ihre Anwesenheit nichts in ihrem Alltag. Sie arbeiten, kochen, streiten, lachen und schweigen. Und es gibt keine Musik, außer die traurigen Liebeslieder, die Tam mitsingt, in denen man die ganze Sehnsucht und Trauer über den Verlust der Heimat spürt. Hien Mai und Tim Ellrich haben einen Film geschaffen, der lange nachklingt.
Drehbuch:
Dario Haramustek für "Pattern of Life" (Spielfilm, 143‘), ifs international filmschule köln
Dazu die Jury: "Pattern of Life" ist ein Drehbuch von erstaunlicher Reife. Dario Haramustek führt uns mit großer Sicherheit und Kenntnis in die Lebensrealität eines US-Luftwaffenstützpunktes in Ramstein. Es ist eine Art Parallelwelt inmitten der Gesellschaft und die Regeln sind klar: solange Du mitmachst, ohne zu hinterfragen, bist Du Teil eines perfekt funktionierenden Systems. Anhand der Familie Perry erleben wir, wie schnell es gehen kann, aus der Mitte dieser eingeschworenen Gemeinschaft an den Rand gedrängt zu werden. Die Erlebnisse der komplex geführten Charaktere machen die Brutalität der plötzlichen Isolation fühlbar - aber auch die Chance, die darin liegt, Zweifel zuzulassen und Gewissheiten in Frage zu stellen. Denn überraschend werden inmitten der sozialen Kälte wirkliche Begegnungen, Beistand und Zuwendung möglich. Dadurch hat Dario Haramusteks Erzählung jenseits der dargestellten abgekapselten Welt des US-Militärs auch für unser Zusammenleben eine Relevanz, die noch lange zu denken gibt.
Werbefilm:
"Forbidden Colors" Regie: Jakob Harms (Werbefilm, 1’), freie Einreichung
Dazu die Jury: Werbung für die Leinwand! Bunt gesprenkelte Laufschuhe, die in Flammen stehen. Dahinter die in Grau gehüllte Tristesse einer Stadtkulisse. Neugierig folgen wir dem Geschehen der Figuren entgegen seiner kausalen Zeitkette. Und bald schon merken wir: Hier geht es gar nicht um die Schuhe. "Forbidden Colors" überrascht mit jeder Sekunde, die zunehmend eine dystopische Welt hinter seinen invertierten Bildern freilegt. Im Zentrum dieser dynamischen Erzählung stehen zwei Frauen, die sich lieben – vermeintliche Outlaws der Gesellschaft. Doch wie futuristisch ist diese Dystopie eigentlich? Jakob Harms spielt gekonnt mit unseren Erwartungen an einen Commercial Spot, der sich eindrucksvoll in einem Claim für LGBTIQ-Rechte auflöst und die Arbeit der Gilbert Baker Foundation honoriert.
NO FEAR Award für Produktions-absolvent*innen:
Sara Fazilat für "Nico" (Spielfilm, 74‘), Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin
Dazu die Jury: "Nico" stellt eine junge Deutsch-Perserin in den Mittelpunkt, die nach einem fremdenfeindlichen Angriff beschließt, durch Kampfsport-Training nie wieder Opfer zu sein. Fazilat ist nicht nur Co-Autorin und Produzentin, sondern auch Hauptdarstellerin des Films, der teils auf ihren persönlichen Erfahrungen beruht. Von Beginn an verfolgte sie für "Nico" eine klare Vision und gewann in Regisseurin Eline Gehring und Kamerafrau Francy Fabritz hervorragende Mitstreiterinnen. Jeden Rückschlag auf dem äußerst langen und schwierigen Weg der Umsetzung hat sie als Chance begriffen, um einen noch besseren Film zu machen. Dabei setzte sie sich mit beeindruckender Konsequenz für ein diverses Frauenbild sowohl vor als auch hinter der Kamera ein. So entstand ein großartiger, tief berührender, selbstbestimmter Film, deren mutige Produzentin den NO FEAR Award mehr als verdient!
Michael-Ballhaus-Preis für Kameraabsolvent*innen:
Hannah Platzer für "Postkids" (Mittellanger Spielfilm, 39‘), Kunsthochschule für Medien Köln
Dazu die Jury: Mit einer verspielten und facettenreichen Bildgestaltung zeigt uns Hannah Platzer die Welt vierer Abiturientinnen, deren Freundschaft auf Grund eines erschütternden Ereignisses für immer zu zerbrechen droht. So schonungslos die Geschichte, so roh erscheint das Werk zunächst, bis es seine Schönheit durch die hingebungsvolle Beobachtung seiner Protagonistinnen entfaltet. Auf dem kurzen, wilden Trip sehen wir bedeutungsvoll gestaltete Bilder, verschiedene sich abwechselnde Tempi und eine Kamera, die mitgeht und mitreißt – aber auch eine Kamera, die sich zurückhält und ruhig beobachtend Raum für ganz andere Ebenen zulässt. Hannah Platzer versteht es, die Temperatur jeder Szene zu entschlüsseln. So abwechslungsreich ihre visuelle Gestaltung sich über den ganzen Film erstreckt, so einheitlich wirkt diese doch am Ende im Gesamten. Die sehr passende Idee eines einheitlichen schwarz-weiß Looks in Kombination mit lebendigem 16mm Film geraten da fast zu einer Nebensächlichkeit, in Anbetracht der vielen anderen mutigen Entscheidungen, die dem Film "Postkids" eine überraschend neue, frische visuelle Handschrift verleihen.
Die Jurys 2021
Für die Spielfilme: Jonas Dornbach, Yoshi Heimrath, Robert Hofmann, Soleen Yusef, Maryam Zaree
Für die Dokumentarfilme: Alice Agneskirchner, Yunus Roy Imer, Dunja Hayali, Anja Pohl, Jakob Weydemann
Für die Werbefilme: Alice Dwyer, Luitgard Hagl, Imran Khan, In-Ah Lee, Thomas Schnaitmann
Für die Drehbücher: Esther Bernstorff, Toks Körner, Paul Salisbury
Quelle: www.firststeps.de