2019 markiert die 40. Edition der Berlinale-Sektion Panorama. Seit der Gründung im Jahr 1980, damals noch unter dem Namen Info-Schau, zeigt die Sektion Filme, die aufwühlen und aufrütteln sollen und das Publikum in seinen Sehgewohnheiten und im Denken herausfordern wollen.
Die Filmauswahl ist gleichzeitig Angebot und Aufforderung, Kino anders zu betrachten. Anlässlich des 40. Jubiläums zeigt das Panorama ein Sonderprogramm mit ausgewählten Filmen aus 40 Jahren Panorama-Geschichte.
"Die Auswahl unseres Jubiläumsprogramms ist eklektisch – jedes Werk steht für eine ganze Reihe anderer. So möchten wir mit unserem Rückblick kein Best-of zeigen, sondern die Seele des Programms widerspiegeln: von der Vergessenheit bedrohte Werke wiederentdecken und mit dem aktuellen Zeitgeschehen in Dialog bringen", sagt Wieland Speck, der langjährige Leiter des Panoramas, Mitbegründer des Teddy Award und Kurator des Jubiläumsprogramms.
"Ich gratuliere dem Panorama zum 40. Geburtstag und insbesondere Wieland für die fantastische Arbeit beim Aufbau der Sektion als Plattform für den anspruchsvollen Independent-Film", ergänzt Festivaldirektor Dieter Kosslick.
Als die Filmfestspiele 1980 erstmals von Moritz de Hadeln verantwortet wurden, flankierte er den Wettbewerb mit einer Programmsektion, die mehr Auswahlfreiheit haben sollte als der Wettbewerb, mehr Radikalität ermöglichen und in jedem Falle auch das neu entstandene Kino einschließen würde. Die 70er-Jahre haben ein Füllhorn an Innovationen sichtbar werden lassen. Selbstermächtigte Subkulturen wurden zum gesellschaftlichen Motor, Theorien der Emanzipation wurden laborhaft umgesetzt. Die Normativität war nicht länger erstrebenswert, sondern die Alternativen dazu, was sich auch in neuen Filmsprachen und gar in einer neuen Kinolandschaft widerspiegelte.
Diese energetischen Veränderungen schrien geradezu nach entsprechender Präsentation im Festival. De Hadeln setzte den legendären Kinomacher und Forum-Mitgründer Manfred Salzgeber als Direktor ein, der bereits im ersten Jahr nicht nur Filmemacher*innen wie Catherine Breillat, John Waters, Atıf Yılmaz, Miklós Jancsó oder Helma Sanders-Brahms präsentierte, sondern auch bereits das zukünftige Profil spüren ließ, was Filme aus Osteuropa, Asien und Lateinamerika genauso betraf wie auch den zukünftigen Profilschwerpunkt Schwulesbisches Kino. Queeres Kino, Genderschwerpunkt würde man heute sagen, denn sowohl feministische Ansätze als auch Trans*Themen waren von Anfang an programmatisch dabei - unerhört und ungesehen in der damaligen Festival-Landschaft. In Salzgebers zweitem Jahr dieser damals noch Info-Schau genannten Sektion wählte er einen Kurzfilm von Wieland Speck aus. Die so begründete Zusammenarbeit der beiden Kuratoren führte 1987 auch zur Gründung des Teddy Award - dem queeren Filmpreis der Berlinale - und dauerte über Specks Leitungsübernahme beim Panorama 1992 hinaus bis zu Manfred Salzgebers frühem Tod durch AIDS 1994.
Natürlich diktierte auch die jeweilige Filmauswahl der folgenden Jahrgänge Schwerpunkte: Länder im Fokus, internationale Freiheitsbewegungen, ästhetische Experimentierlust, Entdeckungen heute prominenter Filmemacher*innen und thematische Vertiefungen, bald schon das Thema AIDS als kämpferisches Element des Filmschaffens, und nicht zuletzt der Kurzfilm als unermüdliche Talentschmiede.
Vom programmtypischen Dialog der Werke mit den Fragen und Themen ihrer Zeit spricht auch die Popularität des Panorama-Publikums-Preises (PPP), der jährlich an einen Spiel- und einen Dokumentarfilm der Sektion verliehen wird. Mit der Beteiligung von etwa 30.000 Zuschauer*innen geht der PPP in Zusammenarbeit mit radioeins (rbb) und dem rbb Fernsehen 2019 in die 21. Runde.
Wieland Speck, der das Panorama von 1993 bis 2017 programmierte und prägte, und sein langjähriger Mitarbeiter Andreas Struck haben aus mehr als 1.800 langen Werken neun Spielfilme und drei Essay-Dokumente sowie aus über 600 Kurzfilmen elf kurze Werke für Panorama 40 ausgewählt.
Der Rückblick und seine Themen:
Panorama First Move
Im Februar 1986 erreichte der damals international kaum bekannte spätere Star-Regisseur Lasse Hallström mit der Panorama-Premiere von "Mitt liv som hund" ("Mein Leben als Hund") weltweite Aufmerksamkeit. Hallström kam 1994 zurück mit "What's Eating Gilbert Grape" ("Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa") und später in den Wettbewerb der Berlinale mit "Chocolat" 2001 und "The Shipping News" (Schiffsmeldungen) 2002. Derart verhält es sich auch mit den beiden anderen ausgewählten Regisseuren: Tsai Ming-liang kam nach seinem fulminanten Debüt "Ching shao nien na cha" ("Rebellen im Neonlicht", 1992) mehrfach zurück in Wettbewerb und Panorama, und Ulrich Köhlers gefeiertes Langfilmdebüt "Bungalow" (2002) ebnete den Weg für "Schlafkrankheit" im Wettbewerb 2011. Die drei Filme, in denen junge Rebell*innen im normativen Dickicht gesellschaftlicher Erwartungen um Selbstbestimmung ringen, stehen gemeinsam für eine lange Reihe von Frühwerken, mit denen Manfred Salzgeber und Wieland Speck heutige Regiemeister*innen für das internationale Publikum entdeckt haben - so wie Ang Lee, Gus Van Sant, Pedro Almodóvar, Małgorzata Szumowska, Kim Ki-duk, Daniel Burman oder Teona Strugar Mitevska, um nur einige zu nennen.
Ikonen der Weltliteratur
2007 gelang der französischen Regisseurin Pascale Ferran mit "Lady Chatterley" eine gleichsam nüchterne und einfühlsame Studie aufblühender weiblicher Sexualität, erfüllt von Glück, befreit von Scham, unabhängig von konträren Gesellschaftsklassen. Der erste von einer Frau inszenierte "Chatterley"-Film konzentriert sich auf D. H. Lawrences Protagonistin und ihren stürmischen Ausbruch aus den Zwängen viktorianischer Häuslichkeit.
Als Tom of Finland nach dem zweiten Weltkrieg begann, seine intimen Fantasien zeichnerisch umzusetzen, konnte er nicht ahnen, dass ein weltberühmtes Gesamtwerk subkultureller Ikonen entstehen würde, das bis heute schwule Männer inspiriert, ihre Erscheinung der eigenen Identität anzupassen. Ilppo Pohjolas essayistisches Dokument "Daddy and the Muscle Academy" (1991) ist der einzige Film, der je mit dem einflussreichen Künstler gedreht wurde.
Freiheitskampf
Der unentwegte Einsatz gegen Menschenrechtsverletzungen, der Kampf gegen Unterdrückung und die Suche nach Freiheit bilden einen roten Faden aller Panorama-Programme. Hierzu vier selten gesehene Werke: Um bewaffneten Widerstand gegen das Apartheid-Regime zu organisieren, reiste Nelson Mandela in den frühen 1960er-Jahren inkognito als Chauffeur eines renommierten Theaterregisseurs durchs Land. Der Mann war Cecil Williams, ein engagierter Freiheitskämpfer, gespielt von Corin Redgrave. Greta Schiller erinnert mit "The Man Who Drove With Mandela" (1998) an diesen vergessenen Helden.
Homosexualität ist in Russland noch immer ein Tabu. Aufwühlend und schonungslos erzählt der russische Regisseur Khusein Erkenov in seinem 1990 gedrehten Spielfilmdebüt "Sto dnei do prikaza" ("100 Tage, Genosse Soldat") die Geschichte von fünf jungen Männern, die ihren Militärdienst in der sowjetischen Armee nicht überleben.
"The Making of Monsters" (1990) von John Greyson ist ein experimentelles Musical mit Brechtscher Strategie. Das Enfant Terrible des kanadischen Kinos unternimmt eine aktivistische Analyse der Ermordung Kenneth Zellers, eines schwulen Lehrers, durch fünf Teenager-Jungen 1985 in Torontos High Park.
Bereits in seinem zweiten Kurzfilm "Das Geräusch rascher Erlösung" von 1982 beschäftigt Wieland Speck, was seine kuratorische Arbeit über Jahrzehnte hinweg bestimmen sollte: Mut und Fantasie als politische Chance, in einer heterosexualisierten Welt Raum für Alternativen zu entwickeln. In den Abenteuern eines Träumenden entzieht er patriarchalen Angriffen ihre Statik und lässt sie ins Leere schlagen.
Trans*
Die Filmpionierin Monika Treut realisierte bereits 1992 das wahrscheinlich erste Transmann-Portrait der Filmgeschichte. "Max" erzählt von der Reise in ein anderes Geschlecht, von den Erfahrungen mit dem männlichen Sexualhormon Testosteron und Anfeindungen in der eigenen Community.
Im gleichen Jahr entstand "Split – William to Chrysis; Portrait of a Drag Queen" von Ellen Fisher Turk und Andrew Weeks: eine Hommage an den charismatischen Underground-Star International Chrysis (1951 - 1990), der willensstark Weibliches und Männliches im Körper vereinte - im Streben nach absoluter Harmonie.
Obskure Kinowelten
Unerschöpflicher Erfindungsreichtum, progressive Experimentierfreude und Vertrauen in ungewohnte ästhetische Formen – die Filmkünstler*innen im Panorama beeindrucken mit kinematografischen Erneuerungen. 2014 überraschte der damals erst 21-jährige chinesische Regisseur Zhou Hao mit seinem magischen Debüt "YE" ("The Night"). Stilsicher schildert er in eigenwilligen, geheimnisvollen Einstellungen drei Außenseiter, die über Gesellschafts- und Gendergrenzen hinweg Intimität verhandeln und mit ihren Gefühlen spielen.
Pirjo Honkasalo ist die erste Frau Finnlands, die die Kameraarbeit für einen Spielfilm übernahm. In ihrer außergewöhnlichen Regiearbeit "Mysterion" erschließt sie Gegenwelten extremer menschlicher Erfahrungen: Die 1991 entstandenen, von Sprachlosigkeit erfüllten Bilder erzählen vom Klosteralltag 160 orthodoxer Nonnen, die im Norden Estlands Erde, Wasser und Luft im Gebet verehren, während in den benachbarten Kohtla-Järve-Bergwerken Menschen die Natur ihrem Willen unterwerfen.
Ebenso aus Finnland kommt Claes Olssons kurzes Musik-Video "M. A. Numminen Sings Wittgenstein" (1993): Ein Gedanke des bedeutenden Philosophen wird Teil eines subversiven Spiels mit Publikumserwartungen.
Erwartungen sprengt auch Jonathan Reiss' "A Bitter Message Of Hopeless Grief" ("Eine bittere Botschaft hoffnungsloser Trauer") von 1988, ein Science-Fiction-Film, der visionär die Untiefen der Maschinenpsychologie freilegt. Anthropomorphe Roboter performen in albtraumhaften Unterwerfungsszenarien.
Ebenso visionär sind die surrealen Imaginationen Gariné Torossians in "Girl from Moush" (1993). Eine einfühlsame, kubistisch montierte Collage von Mythen und mündlichen Überlieferungen führt in das unterbewusste Armenien der kanadischen Filmemacherin.
Auch die Filmhistorikerin Jenni Olson findet in "Blue Diary" (1997) zu einer unvergleichlichen Form. Geschickt bringt sie Bild und Sprache in einen Dialog, um einen One-Night-Stand festzuhalten.
AIDS – Film als Waffe
In Zeiten neu entwickelter Präventionsangebote ist der Kampf gegen AIDS nicht gewonnen. Die Auseinandersetzung mit dieser Krankheit und ihren gravierenden Folgen war von Anfang an ein wesentliches Anliegen des Panoramas. 1985, in den verheerendsten Stunden der AIDS-Krise, realisierte Arthur J. Bressan Jr. "Buddies", einen der ersten Filme zum Thema überhaupt. Die Geschichte von der Freundschaft zwischen einem Aidskranken und einem ehrenamtlichen Volontär wurde sein letzter Film. Im Sommer 1987 starb er an den Folgen der bis heute grassierenden Immunschwäche. Das Werk, mit dem 1985 die Edition Salzgeber gegründet wurde, ist nach 33 Jahren in einer restaurierten, digitalisierten Fassung zu erleben.
"Fear of Disclosure" ("Angst vor Enthüllung", 1989) von Phil Zwickler und David Wojnarowicz schließlich ist der erste Film, der sich mit den Schwierigkeiten der Beziehungen zwischen HIV-positiven und HIV-negativen Männern beschäftigt. Mit fieberhafter Ruhelosigkeit exponieren Videobilder die Korrosion der Lust durch Verlustängste. Der Film wird komplettiert durch die Dokumentation "Self-Portrait in 23 Rounds: A Chapter in David Wojnarowicz’s Life 1989-1991" von Marion Scemama. Die französische Fotografin und Filmemacherin enthüllt in ihrem filmischen Essay bislang nie gezeigtes Material aus David Wojnarowicz' Privatarchiv und verweist in Zusammenarbeit mit den KW Institute for Contemporary Art / KUNST-WERKE auf die Ausstellung "David Wojnarowicz: Fotografie & Film 1978-1992". Eine weitere Ausstellung in den KW zum Thema AIDS ist Frank Wagner gewidmet, dem langjährigen Kurator der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK): "TIES, TALES AND TRACES. Dedicated to Frank Wagner, Independent Curator (1958 – 2016)". 1986 realisierte Wagner die erste große Kunstausstellung zu AIDS in Berlin, bereits damals schon in Zusammenarbeit mit dem Panorama. Die Ausstellungen finden parallel zur Berlinale statt und gehen bis zum 5. Mai 2019.
In den 1990er-Jahren war schwule Sexualität weithin und unmittelbar mit AIDS verknüpft. 1992 realisierte Cyril Collard auf der Grundlage seines gleichnamigen Romans sein Spielfilmdebüt "Les nuits fauves" ("Wilde Nächte") und spielt einen bisexuellen HIV-Infizierten, der sich in die emotionale Achterbahnfahrt einer Dreiecksgeschichte stürzt. Er gehörte zu den ersten Künstler*innen in Frankreich, die öffentlich erklärten, HIV-positiv zu ein. Nur ein Jahr nach Beendigung seines Films starb er mit 35 Jahren an der Immunschwäche.
Eines der raren Zeugnisse der deutschen ACT UP-Bewegung ist Jochen Hicks Kurzfilm "Willkommen im Dom": Ein spektakulärer Protest gegen die Diskriminierung von HIV-Positiven und Aidskranken durch die katholische Kirche während der Deutschen Bischofskonferenz im September 1991 in Fulda.
"The Attendant" entstand zwei Jahre später unter dem Eindruck von Thatcherismus und AIDS-Krise. In kunstvollen szenischen Tableaus verknüpft der britische Videokunst-Star Isaac Julien Imperialismus und queere Lust, um sexuelle und rassistische Machtgefälle kulturhistorisch auszuleuchten.
Mit den Folgen von AIDS beschäftigt sich auch "Jean Genet Is Dead" ("Jean Genet ist tot", 1987). Constantine Giannaris überblendet Super 8-Aufnahmen vereinsamter Männer mit Reflexionen des legendären Dichters, um bildgewaltig Begehren, Ausgrenzung und tödliche Bedrohung zu assoziieren. Giannaris ist zweifacher Teddy-Preisträger und war mit "Dekapentavgoustos" ("Ein Tag im August") im Wettbewerb der Berlinale 2002.
Quelle und sämtliche Filme des Rückblicks: www.berlinale.de