Der Auswahlprozess für das "Forum" der Berlinale 2022 hat eine klare Erkenntnis hervorgebracht: So sehr die Pandemie das gesellschaftliche Leben lähmt, so wenig verlieren Filmemacher*innen weltweit ihren Einfallsreichtum und ihre Lust an der künstlerischen Arbeit. Die ausgewählten Arbeiten – im Hauptprogramm sind es 27 Langfilme, im "Forum" Special 14 Lang- und Kurzfilme – stellen dies eindrucksvoll unter Beweis.
Zu den schon im Dezember angekündigten Filmen und zum filmhistorischen Programm im "Forum" Special kommen dekonstruierte Spielfilme wie "Nie zgubiliśmy drogi" ("We Haven’t Lost Our Way") von Anka und Wilhelm Sasnal und "Happer's Comet" von Tyler Taormina, entfesselte und lakonische Komödien wie "L'état et moi" von Max Linz und "Najeneun deopgo bameneun chupgo" ("Hot in Day, Cold at Night") von Park Song-yeol und die Theateradaption "O trio em mi bemol" ("The Kegelstatt Trio") von Rita Azevedo Gomes. Außerdem laufen Fiktionen mit dokumentarischem Anteil wie "Mato seco em chamas" ("Dry Ground Burning") von Adirley Queirós und Joana Pimenta oder "Cette maison" ("This House") von Miryam Charles, Archiverkundungen wie Alain Gomis' "Rewind and Play" sowie Mohammad Shawky Hassans queerer Experimentalfilm "Bashtaalak sa'at" ("Shall I Compare You To A Summer’s Day").
Mehrere wiederkehrende Motive zeichnen sich ab, zum Beispiel der Versuch, den dem Kino eigenen Anthropozentrismus zu überwinden. In Raul Domingues' "Terra que marca" ("Striking Land") schaut die Kamera meist auf den Boden, auf Ackerfurchen, Wasserrinnen oder junge Pflanzen. Von Landidyll kann keine Rede sein, vom Sog genau beobachteter Materie umso mehr. Ähnliches gilt für "Geographies of Solitude". Jacquelyn Mills, eine Experimentalfilmerin aus Kanada, hat Sable Island, eine Insel im Atlantik, bereist und dort Zoe Lucas begleitet, die seit Jahrzehnten ehrenamtlich Flora und Fauna der Insel katalogisiert. Ins 16mm-Filmbild setzt Mills vor allem Wildpferde, Wellen, Süßwassertümpel und bizarr verformten Plastikmüll. Manchmal vergräbt sie unbelichtetes Filmmaterial zwischen Wurzeln und montiert es dann in ihren Film. Der Insel mit ihrer spezifischen Topographie kommt so eine Art Ko-Autorschaft zu.
Als weiteres Motiv tritt zutage, dass mehrere Regisseur*innen nach adäquaten, gegenwärtigen Formen des politischen Kinos suchen. Jonathan Perel aus Argentinien und Jeronimo Rodriguez aus Chile steuern mit "Camuflaje" ("Camouflage") und "El veterano" ("The Veteran") Essayfilme bei, die sich mit vergangenen, jedoch heute noch latenten politischen Verwerfungen in ihren Ländern beschäftigen. Dabei knüpfen sich direkte Verbindungen zu anderen, bereits angekündigten Filmen wie "Nuclear Family" von Erin und Travis Wilkerson, in dem es wie in "El veterano" um Atombomben und die Residuen des Kalten Kriegs geht.
Ein zentrales Motiv ist auch die Pandemie. Gustavo Vinagre schaut in "Três tigres tristes" ("Three Tidy Tigers Tied a Tie Tighter") queeren Menschen in São Paulo dabei zu, wie sie dem Virus und dem politischen Versagen ihrer Regierung trotzen. Zheng Lu Xinyuan, eine junge Regisseurin aus China, filmt in ihrem persönlichen Essay "Jet Lag" unter anderem, wie sie von Wien nach China reist. Ganzkörper-Schutzanzüge im Flugzeug und Absperrbänder vor der Zimmertür im Quarantäne-Hotel lassen an Tatorte oder Seuchen-Horrorfilme denken, doch die Gymnastik auf dem Hotelbett durchkreuzt diese Fährte.
Während der Dreharbeiten zu "Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien" wurde der Regisseur Constantin Wulff vom Ausbruch der Pandemie überrascht. Sein Dokumentarfilm verzeichnet die Geschehnisse in der Wiener Arbeiterkammer, einer sozialdemokratisch geprägten Einrichtung, die rechtlichen Beistand für Arbeitnehmer*innen anbietet – bis er schließlich die Kammer selbst als Arbeitgeberin in den Blick nimmt. Ein weiterer Dokumentarfilm zu den Folgen von Corona ist "Scala" von Ananta Thitanat. Die thailändische Regisseurin schaut in ihrem Langfilmdebüt dabei zu, wie ein prachtvoller Kinobau aus den 1960er Jahren ausgeräumt wird. Die Wände bleiben stehen, alles andere kommt weg. Thitanat filmt das von der Pandemie beschleunigte Ende einer Ära, und wirft damit die große Frage auf, wo die Zukunft des Kinos liegt.
Hauptprogramm des "Forums" 2022
"Afterwater"
Deutschland / Spanien / Südkorea / Serbien
von Dane Komljen
mit Jonasz Hapka, Signe Westberg, Boban Kaluđer
Weltpremiere
"Akyn" ("Poet")Kasachstan
von Darezhan Omirbaye
mit Yerdos Kanayev, Serik Salkinbayev, Klara Kabylgazina
Europäische Premiere
"Bashtaalak sa'at" ("Shall I Compare You To A Summer’s Day")
Ägypten / Libanon / Deutschland
von Mohammad Shawky Hassan
mit Donia Massoud, Ahmed El Gendy, Salim Mrad
Weltpremiere / Debütfilm
"Camuflaje" ("Camouflage")
Argentinien
von Jonathan Perel
mit Felix Bruzzone, Margarita Molfino, Iris Avellaneda
Weltpremiere / dokumentarische Form
"Cette maison" ("This House")
Kanada
von Miryam Charles
mit Schelby Jean-Baptiste, Florence Blain Mbaye, Eve Duranceau
Weltpremiere / Debütfilm
"La edad media" ("The Middle Ages")
Argentinien
von Alejo Moguillansky, Luciana Acuña
mit Cleo Moguillansky, Luciana Acuña, Alejo Moguillansky
Weltpremiere
"L’état et moi"
Deutschland
von Max Linz
mit Sophie Rois, Jeremy Mockridge, Hauke Heumann
Weltpremiere
"Europe"
Deutschland / Frankreich
von Philip Scheffner
mit Rhim Ibrir, Thierry Cantin, Didier Cuillierier
Weltpremiere
"Une fleur à la bouche" ("A Flower in the Mouth")
Frankreich / Deutschland / Südkorea
von Éric Baudelaire
mit Oxmo Puccino, Dali Benssalah
Weltpremiere
"Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien" ("For the Many – The Vienna Chamber of Labour")
Österreich
von Constantin Wulff
Weltpremiere / dokumentarische Form
"Geographies of Solitude"
Kanada
von Jacquelyn Mills
mit Zoe Lucas
Weltpremiere / dokumentarische Form
"Happer's Comet"
USA
von Tyler Taormina
mit Grace Berlino, Jax Terry, Ryan McGlade
Weltpremiere
"Jet Lag"
Schweiz / Österreich
von Zheng Lu Xinyuan
mit Lin Wenqing, Zoe, Zheng Lu Xinyuan
Weltpremiere / dokumentarische Form
"Mato seco em chamas" ("Dry Ground Burning")
Brasilien / Portugal
von Adirley Queirós, Joana Pimenta
mit Joana Darc, Léa Alves, Andreia Vieira
Weltpremiere
"Miền ký ức" ("Memoryland")
Vietnam / Deutschland
von Kim Quy Bui
mit Mong Giao Vu, Thi Thu Trang Nguyen, Van Thai Nguyen
Europäische Premiere
"Mis dos voces" ("My Two Voices")
Kanada
von Lina Rodriguez
mit Ana Garay Kostic, Marinela Piedrahita, Claudia Montoya
Weltpremiere / dokumentarische Form
"Najeneun deopgo bameneun chupgo" ("Hot in Day, Cold at Night")
Südkorea
von Park Song-yeol
mit Won Hyang-ra, Park Song-yeol, Shin Won-woo
Internationale Premiere
"Nie zgubiliśmy drogi" ("We Haven't Lost Our Way")
Polen
von Anka Sasnal, Wilhelm Sasnal
mit Agnieszka Żulewska, Andrzej Konopka, Oskar Hamerski
Weltpremiere
"Nuclear Family"
USA / Singapur
von Erin Wilkerson, Travis Wilkerson
mit Travis Wilkerson, Erin Wilkerson, Matilda Wilkerson
Europäische Premiere / dokumentarische Form
"Rewind and Play"
Deutschland / Frankreich
von Alain Gomis
Weltpremiere / dokumentarische Form
"Scala"
Thailand
von Ananta Thitanat
mit Pongpop Inheen, Saman Watcharasirirot, Nakorn Nuannngein
Weltpremiere / Debütfilm / dokumentarische Form
"Super Natural"
Portugal
von Jorge Jácome
mit Alexis Fernandes, Bárbara Matos, Celestine Ngantonga Ndzana
Weltpremiere / Debütfilm / dokumentarische Form
"Terra que marca" ("Striking Land")
Portugal
von Raul Domingues
mit Maria Alice Sousa, Manual Jesus Duro, Joaquim Sousa
Weltpremiere / dokumentarische Form
"Três tigres tristes" ("Three Tidy Tigers Tied a Tie Tighter")
Brasilien
von Gustavo Vinagre
mit Pedro Ribeiro, Jonata Vieira, Isabella Pereira
Weltpremiere
"O trio em mi bemol" ("The Kegelstatt Trio")
Portugal / Spanien
von Rita Azevedo Gomes
mit Rita Durão, Pierre Léon, Ado Arrieta
Weltpremiere
"The United States of America"
USA
von James Benning
Weltpremiere / dokumentarische Form
"El veterano" ("The Veteran")
Chile
von Jeronimo Rodriguez
Weltpremiere
Quelle: www.berlinale.de