Forschungen zum NS-Film – 1990er bis heute

Von Anfang der 1990er Jahre bis heute

Die Unterscheidung zwischen aggressiver Propaganda und unverfänglicher Unterhaltung bildete lange Zeit einen Streit- und Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit dem NS-Filmerbe. Politische Indoktrination oder unpolitische Zerstreuung? Diese starre Kategorisierung ist in zahlreichen Forschungsbeiträgen seit Beginn der 1990er Jahre in der Forschung in Frage gestellt worden. Arbeiten wie die von Stephen Lowry ("Pathos und Politik. Ideologie in Spielfilme des Nationalsozialismus", Tübingen, 1991), Karsten Witte ("Lachende Erben, Toller Tag. Filmkomödie im Dritten Reich", Berlin, 1995), Eric Rentschler ("The Ministry of Illusion. Nazi Cinema and its Afterlife", Cambridge, MA / London,1996) Linda Schulte Sasse ("Entertaining the Third Reich. Illusions of Wholeness in Nazi Germany", Durham / London, 1996) und Sabine Hake ("Popular Cinema of the Third Reich", Austin, 2002 und "Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895", Reinbek bei Hamburg, 2004) haben sich dabei u.a. mit der ideologischen Funktion gerade jener scheinbar unpolitischen Unterhaltungsfilme in einem weiteren diskursiven Feld auseinandergesetzt. In den neueren Ansätzen stand weniger die Frage nach der Definition eines faschistischen Films im Mittelpunkt, die darauf abzielte, die Identität von Politik und Ästhetik zu beweisen. Vielmehr wurde auf unterschiedlichen Ebenen untersucht, wie Filme im Kontext des Faschismus funktionierten.Zwar war schon in früheren Diskussionen darauf hingewiesen worden, dass auch die Produkte der nationalsozialistischen "Traumfabrik" schon allein darin politische Funktionen hatten, indem sie dem Publikum Ablenkung und Fluchtmöglichkeiten vor dem Alltag im NS-Staat boten. Besonders während des Zweiten Weltkrieges war dies ein nicht zu unterschätzender Faktor, den auch die Nazi-Führung erkannt und in ihren filmpolitischen Strategien betont hatte.

 
Quelle: DIFNachlass Johannes Meyer
Johannes Meyer (vorne 2.v.l.), Joseph Goebbels (vorne 3.v.l.) und Carola Höhn bei einer Vorführung von "Fridericus" (1936)

Diese pauschal getroffenen Feststellung ist mittlerweile durch die Ergebnisse von umfangreichen Einzelanalysen zu zahlreichen Spielfilmen ergänzt worden. Die Filme werden dabei als komplexe, mehrdeutige Texte in einem breiteren Spektrum verstanden, das – wie Eric Rentschler zusammenfasst – "von schriller Propaganda über ideologische Anspielungen bis hin zu seltenen Beispielen ästhetischen Widerstandes reicht".Eine wichtige Erneuerung in der methodischen Herangehensweise besteht in dem erweiterten Ideologie-Konzept, das diesen Untersuchungen zugrunde liegt: Ziel der Analyse ist dabei nicht wie bisher ein Abgleich von Ideologemen im Film mit dem, was die Naziführung und die Filmverantwortlichen selbst als zu übermittelnde Weltanschauungen definiert hatten. Stattdessen wird auf unterschiedlichen Ebenen nach der Wirksamkeit von Ideologie im Kontext sozio-historischer Erfahrungswerte gefragt, nach dem durchaus komplexen Zeichenaustausch zwischen Film und Publikum. "In jüngster Zeit", hat die Film- und Kulturwissenschaftlerin Sabine Hake 2004 diese Entwicklung beschrieben, "sind einige kritische Untersuchungen erschienen, die aufzuspüren versuchen, auf welche Weise populäre Genres eine fiktionale Lösung gesellschaftlicher Konflikte und Widersprüche anboten und moderne Massenmedien das Verhältnis zwischen Kunst und Politik radikal neu definierten."