Das Schiff der verlorenen Menschen
Das Schiff der verlorenen Menschen
Hans Sahl, Der Montag Morgen, Berlin, Nr. 38, 23.9.1929
Ein deutscher Millionenfilm ist dieser Tage mit sehr viel gutem Willlen und einem noch größeren Aufgebot an Reklame in Berlin herausgebracht worden. Es kommt nicht häufig vor, daß eine deutsche Firma, die sich bisher nicht rühmen durfte, den künstlerisch wertvollen, unabhängigen Film sonderlich gefördert zu haben, daß sich eine solche Firma plötzlich entschließt, einen der interessantesten, eigenwilligsten Regisseure heranzuholen, um mit ihm einen Film zu drehen, der Millionen kostet und Millionen einbringen soll. Aber Maurice Tourneur, den die Max Glaß-Produktion für ihren neuen Abenteurerfilm "Das Schiff der verlorenen Menschen" (Ufa-Pavillon) verpflichtete, hat schon einmal, in der unvergeßlichen "Insel der verlorenen Schiffe", bewiesen, daß er neben einem eminent malerischen Auge zugleich auch die Fähigkeit besitzt, einen Film handwerklich spannend und geschickt aufzumachen. Diesmal ist es ihm, scheints, gründlich vorbeigelungen. Tourneur ist ein Künstler und ein Temperament. Er hat die Atmosphäre der Hafenviertel und Kaschemmen, der Kajüten- und Achterdeckprofile in einer Reihe von Bildern gestaltet, deren wundervoll getöntes, abschattiertes Helldunkel an die Porträtkunst französischer Meister erinnert. (Photographie: Nikolaus Farkas.) Aber es geht nicht an, einen Film lang nichts weiter als eine einzige, tobende Rauferei, ohne Steigerungen und Einschnitte, ohne Pausen und Ruhepunkte, zu zeigen. Immer wieder gröhlende, saufende, dämonisch umherschwankende Komparsen, immer wieder Marlene Dietrich, obzwar herrlich anzusehen, auf der Flucht durch ein Labyrinth von Falltüren und Bullaugen! Und es geht nicht an, Fritz Kortner einen Kapitän spielen zu lassen, der die Kommandobrücke mit dem Regiestuhl bei Jeßner zu verwechseln scheint. Nur Gaston Modot, fremd und bedrohlich in der Maske eines Verbrechers, und Wladimir Sokoloff, der einen Schiffskoch menschlich, einfach und suggestiv hinstellte, hatten jene Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die nicht aus der Überlegung kommt, sondern aus dem Instinkt. Sonst: ein Film der verlorenen Schauspieler.