Das Schiff der verlorenen Menschen
Das Schiff der verlorenen Menschen
Hanns Horkheimer, Berliner Tageblatt , Nr. 448, 22.9.1929
Außerordentlich war die Hingabe, außerordentlich der Aufwand, mit denen hier gearbeitet wurde. Draußen in der Staakener Halle stand die getreue 1:1-Kopie des alten Gaffelschoners. Zwanzig Zentner schwere Segel hingen düster über dem wurmstichigen Holz. Wochenlang strahlten die Scheinwerferbatterien und Lichttopfkolonnen ihren gespenstischen Glanz. Der werkbesessene Produktionsleiter ratterte erregt die Statistik herunter: bis dato 80 000 Nägel verbraucht, 300 Mark kostet täglich der Wind, den die Propellermotoren ersurren, zwanzig Mann schaukeln die riesigen Kufen der Barke, das macht stündlich ..., täglich ..., wöchentlich ... Dreißig Meter hoch reckte sich daneben die Bordwand des Ozeanriesen, in der Ecke stand er als puppiges 12-Meter-Modell, wie Glühwürmer-Bataillone leuchteten die Kabinenfenster durch das Halbdunkel des Ateliers. In anderen Hallen war die Barke seziert: die Kapitäns-Kabuse, der Packraum, der stickig-niedere Mannschaftssaal. Zwischen Schiffsballen und Scheinwerferlicht lag die Dietrich in blasser Schönheit, drüben gab es die Revolte dufter Gestalten, Kortner schlugen sie bis zur Ohnmacht zusammen, dem anderen zerschnitt ein splitterndes Fenster die Ader.
Hingabe und Aufwand imponierten gewaltig. Nahm man die Namen der Spieler hinzu und diesen Gentleman-Kerl Tourneur, der einst unter dem ähnlich gewürfelten Titel "Insel der verlorenen Schiffe" ein Standardwerk schuf, so durfte man hoffen. Aber ach, nur ein Schiff der verlorenen Hoffnungen segelte vom Atelier auf die Leinwand. Denn die getreue Imitation wurde nicht zum Sprungbrett in ein anderes Reich, in das Reich optischer Visionen, sie blieb, was sie war: Imitation der Wirklichkeit, mußte von ihr übertrumpft werden, weil das weite, bunte Leben immer reicher sein wird als die Ateliers-Reportage, die sich auf eine atmosphärenlose Enge beschränkt. Beleuchtungsfehler traten hinzu, die vom groß Gewollten zum peinlich Erscheinenden nur einen winzigen Schritt sein ließen. Bis auf wenige Momente wurden so die Schwächen des Manuskripts nicht verdeckt. Die Einfachheit seiner Handlung sinkt im Detail zur Primitivität. Ein reicher Student findet einen Betrunken-Verletzten, verbindet ihn nicht etwa an Land, sondern rudert ihn ungesehen hinaus aufs Schmugglerschiff. Das setzt sich in nämlicher Viertelstunde in Fahrt, der Reiche bietet dem Kapitän kein Haltegeld, sondern wird partout nach Brasilien gesegelt. Drüben, über dem Wasser, stiehlt sich eine Miß von der Abendgesellschaft, setzt sich ins Ozeanflugzeug, stürzt ins Meer, der Reiche rettet sie, ungesehen, verbirgt sie tagelang im Packraum, ungesehen. Den ganzen Mittelteil füllen rüde Raufereien, Hauereien, Stechereien, Wild-West im Schiffsbauch. Die Rettung bringt eine Taschenlampe, die über die Ozeanwellen Morsezeichen schickt.
Spielgelegenheiten gibt es hier kaum. Kortner repetiert zwanzigmal Dagewesenes, die Dietrich hat sich mit Daliegen und Katz und Maus Spielen zu begnügen, den prächtigen Sokoloff verführt die Spielleere zu Grimassen. Einzig Gaston Modots Usurpator-Kapitän macht Eindruck. Schiff der verlorenen Hoffnungen!