Abschied von gestern

BR Deutschland 1965/1966 Spielfilm

Inhalt

1937 in Leipzig als Kind jüdischer Eltern geboren, flüchtet die ehemalige Telefonistin Anita G. in den sechziger Jahren aus der "DDR" in den Westen. Sie bekommt eine Stelle als Krankenschwester. Nachdem sie nach einem Diebstahl mit einer Bewährungsstrafe davonkommt, zieht Anita in eine andere Stadt. Als Vertreterin einer Plattenfirma fälscht sie Auftragsformulare, lebt über ihre Verhältnisse, wird die Geliebte ihres Chefs. Seiner Ehefrau zuliebe lässt er sie jedoch eines Tages fallen, zeigt sie an. Unschuldig des Diebstahls bezichtigt, verliert Anita auch ihren nächsten Job als Zimmermädchen. Schließlich wird sie die Geliebte eines gebildeten Ministerialrats. Als sie von ihm schwanger wird, wendet auch er sich ab. Schließlich stellt Anita G. sich der Polizei.

 

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Falk Schwarz
Die "veränderte Lage"
Abschied von gestern? Es gibt keinen Abschied. Die Verletzungen, die den Menschen durch das Dritte Reich zugefügt wurden, wirken weiter. Anita G. (Alexandra Kluge) ist Jüdin, aus der DDR geflohen und vor dem eiskalten Richter (Hans Korte) findet sie kein Verständnis. Sie hat eine Strickjacke auf dem Spind einer Kollegin genommen und nicht zurückgegeben. Ihr fehlt das Unrechtsbewusstsein. Als sie die Rechnung in einem Hotel nicht bezahlen kann, flüchtet sie durch die Hintertür. Sie wird steckbrieflich gesucht. Anita kommt nicht an, sie kann sich in der Bundesrepublik von 1966 nicht zurechtfinden. Sie fragt: „Wo soll ich hingehen?“ Zum Schluss scheint die karge Gefängniszelle geradezu als ein beschützender Hort . - Dem Film stellt Alexander Kluge ein Motto voran: „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage“. D.h. all das, was Anita G. die „Inklusion“ erschwert, ist noch da, zerrt an ihr und macht sie hilflos. - Im Februar 1962 hatten Kluge und andere erklärt „Papas Kino ist tot“. Vier Jahre danach legte er diesen Film vor als Beweis dafür, wie er es anders machen wollte. In der Tat bricht er mit allem, was in den Fünfzigern auf die Leinwände kam. Die rasante Schnitttechnik, die Ellipsen, die nicht zuende gespielten Episoden, die Brüche, die übereinander gelegten Tonschleifen, die wackelnde Handkamera (Thomas Mauch, Edgar Reitz), die Spitzfindigkeiten in Dialogen, die einzuschätzen und einzuordnen nicht leicht fällt. Kluge hat einen intelligenten, aber auch intellektuellen Film vorgelegt, der bis ans Herz eiskalt ist und obwohl es eine Identifikationshandlung gibt, findet doch nichts dergleichen statt. Hier laufen Bilder, aber der Kopf muss mitdenken, assoziieren und die Fantasie einsetzen. Nichts wird fertig geliefert. Dass damit nicht alle Zuschauer etwas anfangen konnten, war der Preis. Kluge führte mit diesem Film die „neue“ Filmkunst punktgenau in das Getto der Wenigen. Abschied von gestern war auch ein Abschied vom Publikum. Lieben lässt sich dieser Film nicht, bewundern schon.
Heinz17herne
Heinz17herne
Alexander Kluges Spielfilmdebüt ist ein Plädoyer für mehr Mitmenschlichkeit in einer rein materiell ausgerichteten kapitalistischen Gesellschaft. Aber dieses Plädoyer hat Lücken: Es stellt Behauptungen auf, ohne diese zu verifizieren. So bezüglich der jüdischen Familienverhältnisse, aus denen Anita stammt. Auch ihre Probleme in der DDR, die zur Flucht in den Westen geführt haben, werden noch nicht einmal angedeutet.

Wichtiger erscheint daher die formale, die filmhistorische Bedeutung. 1966 begannen heimische Filmemacher im Zusammenhang mit dem „Oberhausener Manifest“, sich von den unsäglichen deutschen Produktionen der Marke „Opas Kino“ zu lösen. Sozialkritische Filme entstanden, die auch formal alles Bisherige, häufig nur eine Fortsetzung der alten UFA-Ästhetik, über Bord warfen.

„Abschied von Gestern“ ist ein Mittelding zwischen Dokumentar- und Spielfilm ohne durchgängige schlüssige Dramaturgie. In kurzen, teilweise hart geschnitten Sequenzen, gibt Alexander Kluge ein Zeitbild der Adenauer-Ära, das seinerzeit vielfach als Zerrbild angesehen wurde. Heute sehen wir die restaurative Wirtschaftswunder-Ära mit anderen Augen.

Inmitten der hochgradigen Besetzung erscheint Alexandra Kluge wie ein Wesen von einem fremden Stern, das zwar mit weit aufgerissenen Augen durch die neue Welt des prosperierenden Westdeutschlands geht, aber ohne Verhältnis zu ökonomischen Notwendigkeiten. Dieser naive Blick einer „Außerirdischen“ mag erhellend gewesen sein anno 1966, hat jedoch erst mit der deutschen Wiedervereinigung an ungeahnter Aktualität gewonnen.

Die politisch-ideologische und nicht zuletzt religiöse Grundierung der Biographie Anitas bleibt vage. Sodass kritische Fragen die Folge sind: Warum sollte eine junge Frau, auch wenn sie einer unter der Nazi-Diktatur verfolgten Familie, deren Mitglieder größtenteils umgebracht worden sind, angehört, sich über das Gesetz stellen und über alle gesellschaftlichen Vereinbarungen hinwegsetzen können? Auch wenn sie, unausgesprochen, traumatische Erlebnisse gehabt hat und diese nicht verarbeiten kann? In der „Zeitlos“-Filmreihe kam „Abschied von Gestern“ am 19. Oktober 2023 wieder bundesweit in zahlreiche Arthouse-Kinos.

Pitt Herrmann

Credits

Drehbuch

Darsteller

Produzent

Alle Credits

Drehbuch

Kamera-Assistenz

2. Kamera

Schnitt-Assistenz

Darsteller

Sprecher

Produzent

Produktionsleitung

Späterer Verleih

Dreharbeiten

    • Dezember 1965 - Februar 1966: Frankfurt am Main, Mainz, Wiesbaden, München
Länge:
2394 m, 88 min
Format:
35mm, 1:1,37
Bild/Ton:
s/w, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 22.09.1966, 36325, ab 16 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (IT): 05.09.1966, Venedig, IFF;
Kinostart (DE): 14.10.1966;
Erstaufführung (DE): 14.10.1966, Mannheim, IFF, Scala;
TV-Erstsendung (DE): 29.12.1970, ZDF

Titel

  • Originaltitel (DE) Abschied von gestern
  • Arbeitstitel Anita G.

Fassungen

Original

Länge:
2394 m, 88 min
Format:
35mm, 1:1,37
Bild/Ton:
s/w, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 22.09.1966, 36325, ab 16 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (IT): 05.09.1966, Venedig, IFF;
Kinostart (DE): 14.10.1966;
Erstaufführung (DE): 14.10.1966, Mannheim, IFF, Scala;
TV-Erstsendung (DE): 29.12.1970, ZDF

Auszeichnungen

Deutscher Filmpreis 1967
  • Filmband in Gold, Beste männliche Nebenrolle
  • Filmband in Gold, Beste Hauptdarstellerin
  • Filmband in Gold, Beste Regie
  • Filmband in Gold , Abendfüllende Spielfilme, Beste Produktion
Bambi 1967
  • künstlerisch wertvollster deutscher Film 1965/66
IFF Venedig 1966
  • Italian Cinema Clubs Award
  • Luis Buñuel Award
  • Cinema 60 Award
  • Lobende Erwähnung, OCIC Award
  • Silberner Löwe