"Algorithmen" (BRD 1994) von Bärbel Neubauer – Bewegungsmalerei in Bild und Ton
Der rund dreiminütige Animationsfilm "Algorithmen" (1994) von Bärbel Neubauer ist ein abstrakter Film ohne unmittelbar nacherzählbaren Inhalt, allerdings nicht ohne Aussage und Bedeutung. "Man solle sich nichts dabei denken", hatte bereits Walter Ruttmann Anfang der 1920er Jahre über seine abstrakten Animationsfilme "Lichtspiel Opus 1-4" gesagt. Diese Aufforderung bedeutete aber nicht, dass er selbst sich nichts dabei gedacht hatte. Und sie schließt keineswegs aus, dass man sich bei abstrakten Filmen nicht eine eigene Meinung bilden oder sich ihnen mit anderen Sinnen nähern kann.
![]() |
Quelle: Bärbel Neubauer, © Bärbel Neubauer |
Screenshot aus "Algorithmen" (1994) |
Bereits zwischen 1910 und 1912 hatten die italienischen Futuristen Arnaldo und Bruno Ginanni-Corradini Filmstreifen direkt bemalt und so ohne Einsatz einer Kamera bewegte Bilder erzielt. Sie suchten nach Verbindungen zwischen Farbe und Musik – ein Feld, das immer wieder Künstler und Wissenschaftler anregte.
Ruttmann hatte 1921 abstrakte Figurationen auf Glasplatten eines selbstgebauten Tricktischs gemalt. Während es ihm wichtig war, dass seine Filme nachträglich eine Musikbegleitung erhielten, verzichtete Viking Eggeling für seine "Symphonie diagonale" von 1924/25 bewusst auf Musik. Es war schließlich Oskar Fischinger, der ab 1930 den Tonfilm nutzte, um abstrakte Formungen taktgenau zu einer vorgegebenen Musik zu animieren.
Vermutlich ohne Kenntnis der deutschen Experimente begannen ab den 1930er Jahren Len Lye und Norman McLaren direkt auf Film zu malen und zu zeichnen. Seitdem beschäftigten sich immer wieder Künstler mit dem handgemalten Film, der nun zu einer Untergruppe des 'direct film' avancierte – eine Gruppe von Filmen, die auf die verschiedenste Art und Weise ohne Zuhilfenahme einer Kamera entstehen.
In der Bundesrepublik gab es vereinzelte Versuche, handgezeichnete Animationsfilme herzustellen. Sie blieben Einzelerscheinungen und exotische Preziosen wie "Strich-Punkt-Ballett" (1952) von Herbert Seggelke und "X Y" (1954/55) von Haro Senft. Später erweiterte Thomas Struck mit "Herzen" (1982) und "Sterne" (1984) das Format um eine groteske Note.
In der DDR experimentierte Lutz Dammbeck außerhalb der staatlichen Filmproduktion in "Metamorphosen 1" (1978/79) und "Hommage à La Sarraz" (1981) mit der Verbindung von Realaufnahmen und Malen auf Zelluloid und fand so, Anregungen der deutschen Filmavantgarde der 1920er Jahre aufgreifend, zu einem eigenen, heftigen Stil.
Um 1990 wandte sich auch die österreichische Künstlerin Bärbel Neubauer, inspiriert von den Arbeiten Len Lyes, dem kameralosen Film zu. Bis 2001 entstanden acht handgemalte und -gezeichnete Filme, in denen sie das Verfahren abschmeckte, weiterentwickelte und zusammen mit selbst komponierter Musik zu einer ganz eigenen und überraschenden Perfektion führte. 1994 realisierte sie – mittlerweile nach München umgesiedelt – mit "Algorithmen" ihren ersten wichtigen Film im Stil der 'visual music'.
In ihrem Aufsatz "Thoughts on Abstract Animation" von 1999 weist Bärbel Neubauer darauf hin, dass auch abstrakte Animationen eine Botschaft haben können, diese allerdings auf eine stark reduzierte Weise vermittelten. Das geschehe zum einen über die Emotionen und die Stimmungslage, die der Film transportiere. Zum anderen "oft durch (manchmal sehr alte) Symbole und Strukturen, die in mathematischen Systemen, verschiedenen Wissenschaften und in religiösen Riten enthalten sind. Abstrakte Bilder haben eine sehr enge Verbindung zu Musik und Wissenschaft, wobei Töne und Farben gleichwertig sind. Sie dienen sehr gut als Sprache eines Künstlers/Filmemachers." (S. 58)
Nicht-figurative Bilder entspringen, so Neubauer weiter, häufig, wenn auch nicht zwangsläufig, dem Unterbewusstsein. Bei der Herstellung abstrakter Filme vertraue sie daher ihrem Unterbewusstsein und folge auch "Fehlern", die stets neue Entwicklungen und Ideen generiert hätten: "Viele Filmemacher abstrakter Filme wollen den Entstehungsprozess des Films genießen, das Medium erleben und damit experimentieren." (ebd.)
Ihre handgemalten Filme schuf sie an einem einfachen, selbstgebauten Leuchttisch. Auf zwei kleinen Böcken ruhte eine Pressspanplatte mit einem ausgesparten Rechteck mit eingelegter Milchglasplatte. Zwei Glühbirnen sorgten für die nötige Beleuchtung. Nachdem sie mit "Im Dunkeln ist gut munkeln" (1991) und "Samstag Nachmittag" (1993) erste Versuche mit dieser Technik unternommen hatte, war "Algorithmen" von 1994 ihr erster Film, in dem sie eigens angefertigte Stempel sowie Blätter benutzte, um farbige Motive auf den Film zu drücken. In den 199er Jahren blieb Bärbel Neubauer dem handgemachten und kameralosen Film treu, in enger Abstimmung mit selbstkomponierter Musik, stets neue Techniken erprobend – "Bewegungsmalerei in Bild und Ton", wie sie ihre Kunst selbst charakterisiert.
![]() |
Quelle: Bärbel Neubauer, © Bärbel Neubauer |
Screenshot aus "Algorithmen" (1994) |
Der Film.
Auf Blankfilm gezeichnet und gestempelt, ruft "Algorithmen" die Atmosphäre eines lichtdurchfluteten Sonntags in den scharfen Konturen des kalten Frühlingslichts auf. Im Luftflimmern leuchten und tanzen vielfältige geometrische und florale Formen und Muster; Quadrate, Blattabdrücke, Dreiecke, Kristalle, Sternchen, Spiralen, Punkte und Rhomben umspielen sich, Seeigel und Wellen tauchen auf – Metamorphosen des Ursprünglichen. Manche Gebilde erinnern an Adern, Amöben, Schlangen und Zellen. In dieser Ursuppe drehen sich Schnecken und wimmeln Würmer. Kurz taucht eine Art Tortenstück auf, wie ein Fremdkörper, Organisches kämpft gegen Unorganisches. Im Karussell der Elemente gibt es keine Ruhe; Panta rhei – alles fließt, ein Sog ständiger Bewegtheit und kreativer Unruhe. Die flauschigen Teilchen reagieren aufeinander, umspielen sich, überlappen sich vielfach, so dass Raum und Tiefe entstehen. Muster wie von Pfauenfedern bilden sich, falten sich zu einem Rad auseinander, um sich schließlich in einzelne kleine kristalline Formen aufzulösen. Das giocoso der Elemente verflüchtigt sich und der ausgelassene Reigen endet abrupt. Eine Klarinette begleitet das Geschehen mit einer lässig-luftigen Melodie, die zum Herumspringen und Tanzen anregt. Wohlige Kindheitserinnerungen werden wach, unbestimmt und vage und doch als Erfahrung erinnerbar und warmlebendig.
In "Algorithmen" wird das Filmmaterial – hier der 35mm-Film – zur Leinwand. Das ästhetische Erlebnis dieser Bewegungsmalerei ist "absolut" im Sinne der "absoluten Filme" der 1920er Jahre. Der Klang von "Algorithmen" in seiner strukturierten Abfolge berührt Ebenen des Unbewussten, evoziert Wachträume und ein meditatives Sich-Fallenlassen. Das nur Abstrakte beginnt zu klingen, wird Natur.
Reaktionen.
William Moritz bewunderte 1998 in "Algorithmen" das rotierende dreidimensionale Dreieck, das vollständige Umdrehungen durchläuft, "während andere Elemente und Hintergrundtexturen alle ihre eigenen Bewegungen und Veränderungen durchführen – eine erstaunliche Leistung für Bilder, die direkt auf den Film gezeichnet und gemalt wurden. Übrigens ist auch das Farbgefühl exquisit, mit einer ausgezeichneten Balance zwischen zarten Schattierungen und kräftigen Farben auf den verschiedenen Formen und Hintergrundtexturen." Bärbel Neubauers selbst komponierte und aufgeführte Kompositionen "haben einen sehr persönlichen Klang, leger und entspannt, und passen gut zum Stimmungsprofil des visuellen Erscheinungsbildes.2
Auch Victoria Meng (2005) machte auf das Zusammenspiel von Film und Musik aufmerksam, die die Zuschauer "in eine sensationelle Welt [entführen], in der sich die verbale Logik auflöst: Das Kühne ist zugleich zart, das Unendliche und Intime koexistiert und Farben klingen, während Klänge leuchten." Im gleichen Jahr entdeckte Stanislav Ulver 2005 in "Algorithmen" Elemente, die an die Perforation des 35mm-Films erinnern: „Das Motiv des Filmrohmaterials wird durch die Anwesenheit von Rädern, die an bewegte Filmspulen erinnern, noch verstärkt. Stellen die Körper der kriechenden 'Schlange' nicht auch metaphorisch Filmstreifen dar?"
Schließlich fühlte sich Pier Giorgio Giraudo 2011 bei "Algorithmen" an Wassily Kandinsky und Paul Klee erinnert: "Der Fluss von Formen und Farben, der uns beim Anschauen ihrer Videos überschwemmt, erreicht direkt das Unbewusste, in einem synästhetischen Spiel zwischen den Teilen, das auch Raum für ironische Momente lässt."
Bärbel Neubauer lebt und arbeitet in München.
http://www.spiralsmorphs.de/index.html
Literatur:
Bärbel Neubauer: Thoughts on Abstract Animation. In: Animation Journal, Nr. 2, Spring 1999, S. 58-62
William Moritz: The Film Strip Tells All. In: Animation World Magazine, Nr. 3.6, September 1998. https://www.awn.com/mag/issue3.6/3.6pages/3.6moritzfilms.html [18.3.2025]
Stanislav Ulver: Horizonty abstrakce. Bärbel Neubauerová. In: Film a doba, Nr. 1, 2005, S. 19-26
Victoria Meng: The Synesthetic World of Baerbel Neubauer. iotaCenter website 2005. http://iotacenter.org/the-synesthetic-world-of-baerbel-neubauer/ [18.3.2025]
Esther Schlicht, Max Hollein: Zelluloid. Film ohne Kamera. Bielefeld 2010 [Ausstellung in der Schirn-Kunsthalle Frankfurt, 2. Juni - 29. August 2010]
Pier Giorgio Giraudo: Universi Astratti in Movimento. In: LiveIn, Dezember 2011, S. 44-45
Ulrich Wegenast: Germany after Reunification. In: Giannalberto Bendazzi: Animation: A World History. Volume III: Contemporary Times. Routledge 2016
(Jeanpaul Goergen, März 2025)