"X Y" (BRD 1955) von Haro Senft – Ein Experiment über Farbe im Film
"Ein Film ohne Kamera, gemalt von Haro Senft" heißt es im Vorspann des kurzen farbigen Animationsfilms "X Y" von 1955. Die beiden rot eingefärbten Buchstaben verweisen aber nicht auf ein Koordinatensystem, sondern auf die abstrakte grafische Grundstruktur des Films. Auch wenn gegen Schluss des knapp zweiminütigen Films die nun grün ausgemalten Buchstaben X und Y wieder auftauchen – es sind die einzigen eindeutig "lesbaren" Zeichen des Films – so geben sie dennoch keine Hinweise auf eine irgendwie geartete Bedeutung. Nach der Aussage seines Films befragt, wies Senft häufig auf die Entstehung des männlichen Chromosoms hin: "Das war allerdings gelogen, denn ich hatte nie daran gedacht, aber alle, denen ich diese Antwort gab, waren damit zufrieden." (Ast 2013, S. 42)
Schon Walter Ruttmann hatte in den 1920er Jahren über seine abstrakten Filme "Opus 1-4" gesagt, dass man sich nichts dabei denken solle. "X Y" steht in dieser Tradition des "absoluten Films", zu der neben den Filmen von Ruttmann noch die abstrakten Arbeiten von Viking Eggeling, Hans Richter, Oskar Fischinger und dessen Bruder Hans Fischinger zählen. Jeder von ihnen entwickelte seine eigene Tricktechnik, um abstrakte Formungen, zumeist an Musik angepasst, auf Film zu bannen – Abstraktion in Bewegung, eine neue Formensprache zwischen Bildender Kunst und Filmkunst.
Welche dieser Arbeiten Haro Senft gesehen hatte, als er um Anfang 1954 "X Y" schuf, ist nicht bekannt. Er könnte die Filme von Norman McLaren gekannt haben, etwa "Begone Dull Care" (Trübsal adé!) von 1949, der bei den Berliner Filmfestspielen 1951 eine Silberne Plakette gewann und den die Neue Filmkunst Walter Kirchner als Beiprogramm ins Kino brachte. Er könnte den ebenfalls handgemalten Film "Strich-Punkt-Ballett" gesehen haben, den Herbert Seggelke 1950 in München herstellte. Seggelke hatte am 18. Oktober 1952 in der Süddeutschen Zeitung einen langen Artikel über handgeschriebene Filme publiziert. Falls Haro Senft 1953 die Deutschen Filmtage Göttingen (30. Juni bis 9. Juli) besucht hat, hätte er dort die erste umfangreiche Retrospektive der deutschen und internationalen Avantgarde nach Kriegsende sehen können.
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Standbild aus "X Y" |
Dreharbeiten. Bekannt ist, dass Senft sich Anfang der 1950er Jahre die Kunst- und Filmgeschichte im Selbststudium aneignete. Besonders interessierte ihn dabei die Farbe-Ton-Forschungen vor dem Zweiten Weltkrieg: "Unglaubliche Beziehungsmöglichkeiten zwischen Farben und Tönen wurden hier vorgetragen." (Ast 2013, S. 41). Am 1. Oktober 1951 gründete Senft in Wiesbaden mit der Boheme-Film Haro Senft seine eigene Firma zwecks "Herstellung, Synchronisation und Vertrieb von Kultur-, Dokumentar- und Werbefilmen." Mit "X Y" stellte das Unternehmen aber nur einen einzigen Film her.
Für 20 Mark kaufte Senft eine Rolle Blankfilm "und malte in zwei Monaten einen Film von knapp zwei Minuten Laufzeit auf Zelluloid, über 2.000 Bildchen 18x24 mm, ohne aber die Möglichkeit, eine Kontrolle des Entstandenen zu haben." (Ast 2013, S. 42) Während dieser Zeit wohnte er bei seinen Eltern, wo ihm jedoch kein Schneidetisch zur Verfügung stand. Für seine Arbeit am Film konstruierte er einen kleinen Lichttisch: "In die Mitte der Arbeitsplatte befand sich eine Öffnung, die sich über die ganze Länge erstreckte und von ihrer Fläche her etwa ein Viertel der Platte einnahm. Sie wurde von einer von unten beleuchtbaren Milchglasscheibe bedeckt, die sich horizontal verschieben ließ. Mittig über dem Milchglasstreifen befanden sich, parallel gereiht, vier Stifte für die Perforation des Filmbands, das so "eingelegt" werden konnte, dass es das Glas vertikal, im rechten Winkel, kreuzte. Auf diese Weise konnte Senft das jeweilige Bild fixieren und bemalen.“ (Adolf 2015, S. 78f) Vorzeichnungen dienten ihm als Gedächtnisstütze, um den zeitlichen Ablauf der Motive, ihre Struktur und Bewegungen umzusetzen. Das Malen auf Film erfolgte mit Lasurfarben mit Eiweiß als Bindemittel sowie schwarzer Tinte.
Die Vertonung des Films – ohne nachträgliche Korrekturen und Schnitt – erfolgte in Wiesbaden. Der erfahrene Komponist Erich Robert Kuntzen schrieb seine Komposition somit nach dem fertigen Film, ihn interpretierend und stützend.
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Standbild aus "X Y" |
Der Film. Ein Vorhang öffnet sich und das Spiel der Formungen beginnt – Laufzeit des Digitalisats: 1 Minute und 40 Sekunden. Auf einem bräunlich gesprenkelten, an Sandkörner oder das Gewimmel von Kleinstlebewesen unterm Mikroskop erinnernden Hintergrund wird eine Flocke von Spitzen bedrängt. Sie leitet über zu einem zweiten Motiv: Auf einem nun glatten Hintergrund erscheinen breit konturierte, an bleigefasste Glasbilder und Kirchenfenster gemahnende geometrische Elemente wie Dreiecke und Quadrate. Der Hintergrund ist nun klar, erst bräunlich, dann hellblau. In der Folgezeit spielt Haro Senft zahlreiche Variationen der beiden Themen durch. Amorphe Formungen und wurmartige Striche tänzeln und umspielen die scharf gezogenen Motive, an die Pole Gefühl/Verstand oder auch weiblich/männlich erinnernd. Dieses Spiel von Gegensätzen wiederholt sich in zahlreichen Modulationen, bis sich als Synthese die titelgebenden, grün gefärbten X und Y herausbilden. Mit diesen Modulationen ist Senft den Opus-Filmen von Walter Ruttmann näher als die streng durchgerechnete "Symphonie diagonale" (D 1924/25) von Viking Eggeling.
Reaktionen. Die Uraufführung von "X Y" fand 1954 bei den "Internationalen Werbefilmfestspielen" in Venedig (25. bis 28. September) statt. Der Vertreter des Perlon-Warenzeichenverbandes hatte Harro Senft erlaubt, das Logo an den Schluss anzufügen, und unterstützte seine Reise mit 250 Mark. (Ast 2013, S. 45) Der Berichterstatter der Filmblätter (1.10.1954) schrieb: "Die Begegnung mit den gemalten Filmen des Kanadiers McLaren [...] regten Senft zu diesem Experiment an. Ähnliches hatte auch schon Herbert Seggelke mit einer Fettstifttechnik versucht. Senft ist es nun gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, dem keine Beschränkung in der Farbgebung auferlegt ist: Er entwickelte neuartige Farbmaterialien, mit denen er die 2.500 Bilder dieses Films handbemalte." Senft habe eine Synthese zwischen Farbe und Musik angestrebt. "Was dem jungen Produzenten dabei vorschwebt, ist eine Bereicherung der abstrakten Gestaltungsweise mit den Mitteln des Films."
Am 4. März 1955 meldete Haro Senft den Film über seine Boheme-Film bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) an, die ihn als "Experimental-Farbfilm" einstufte, als "rhythmisch bewegte, abstrakte Formkompositionen, von Musik unterlegt." Die FSK gab ihn einstimmig zur öffentlichen Vorführung, auch vor Jugendlichen, frei.
Die deutsche Erstaufführung von "X Y" fand am 15. Mai 1955 im Rahmen der 4. Mannheimer Kultur- und Dokumentarfilmwoche statt, wo er eine "lobende Erwähnung" erhielt. Im gleichen Jahr lief er auch beim Internationalen Filmtreffen des Verbandes der deutschen Film-Clubs in Bad Ems. Das Auswärtige Amt übernahm vier Kopien in den Verleih im Rahmen ihrer Kulturwerbung im Ausland.
Wie bereits Herbert Seggelke 1950 mit "Strich-Punkt-Ballett" knüpfte auch Haro Senft an die Filmavantgarde der 1920er Jahre an – in den 1950er Jahre leider ein aussichtsloses Unterfangen. Es dauerte Jahrzehnte, ehe in Deutschland Künstler wie Lutz Dammbeck ("Metamorphosen 1", DDR 1978), Thomas Struck ("Herzen", BRD 1982, "Sterne", BRD 1984) sowie die in München arbeitende Österreicherin Bärbel Neubauer ("Algorithmen", BRD 1994) mit kameralosen Filmen die Methode des Filmschreibens wieder aufgriffen.
Archive
Wiesbaden, Gewerberegister
Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft, Protokoll der Prüfungssitzung vom 4.3.1955
Literatur
Herbert Seggelke: Filme – handgeschrieben. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 241, 18./19.10.1952
Deutsche Filmtage Göttingen 1953 (= Cinéaste. Zeitschrift zur Förderung des guten Films; Sonderheft). Göttingen 1953
Fbch, In: Filmblätter, Nr. 39, 1.10.1954, S. 1129
Christine Holck: Handgemalter Film. In: filmforum. Unabhängige Zeitschrift für den guten Film, Nr. 5, Februar 1955
Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation. Berlin 1989
Michaela S. Ast: Vogelfrei im Zauberbaum. Aus dem Leben des Filmrebellen Haro Senft. Passau 2013
Der sanfte Lauf. DVD. absolut MEDIEN 2015. Dort auch ist "X Y" enthalten.
Heinrich Adolf: X Y – ein Film ohne Kamera: Anschluss an die Avantgarde der 1920er Jahre in der deutschen Nachkriegszeit. In: Der sanfte Lauf. Booklet zur gleichnamigen DVD. absolut MEDIEN 2015, S.22-24
Adolf Heinrich: "Handgemalter Farbfilm ohne Kamera". Haro Senfts XY (BRD 1954) und der Geist des absoluten Films der 1920er Jahre. In: Filmblatt, Nr. 57, Sommer 2015, S. 74-85
Jeanpaul Goergen, August 2024