Ein öffentlicher Ruhestörer
Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 21.01.1984
Wolfgang Staudte ist "on location", am Drehort in Jugoslawien gestorben; der Siebenundsiebzigjährige – wie Max Ophüls in Saarbrücken geboren – hat bis zuletzt gearbeitet. Für seine über sechzig Kino- und Fernsehfilme, für seine Arbeiten als Darsteller und Drehbuchautor (so hatte er bei der UFA begonnen), für seine perfekten Synchronisationen von Stanley Kubricks großen Filmen (nur Staudte hat der amerikanische Regisseur diese Arbeit zugetraut): für sein Lebenswerk sollte Staudte jetzt den Düsseldorfer "Helmut-Käutner-Preis" erhalten. Er hat diese späte Ehrung noch erfahren aber nicht mehr erlebt. Was an dieser Stolle anläßlich von Staudtes 75. Geburtstag stand, ist erinnernd zu wiederholen. Abschied vom Gestern wollte man bei uns nach 1945 schnell nehmen, besinnungs- und kopflos, fluchtartig. Es war eine Flucht in beredtes Schweigen und unausgesprochenes Verdrängen, in denen sich unterdrückte Scham und fortgesetzte Verstocktheit mischten. Denn die Deutschen haben sich von ihrem Faschismus nicht selbst befreit; er wurde nur von außen militärisch niedergeschlagen. Der schmale innere Widerstand war isoliert gewesen, die Emigration wurde scheel angesehen, und bald durfte beides mit erkniffener Wehleidigkeit öffentlich verleumdet werden. Weder kam es zu einem wirklichen Kontinuitätsbruch mit der verheerenden Tradition der deutschen Obrigkeitsstaats, noch gab es eine "Stunde Null" der Kultur. Vollends kam die schleichende Restauration mit dem kalten Krieg zu Ehren; der Antikommunismus als Perifidie offener oder versteckter Verleumdung abweichender, nicht-konformer Personen, Meinungen und Denkweisen wurde zur offiziösen Doktrin der Adenauer-Ära. Es herrschte Ruhe im Land des Wirtschaftswunders.
Wolfgang Staudte, der im und am Faschismus gelernt hatte, welche Verheerungen er verursacht und hinterlassen hat, war da ein Unruhe-Stifter, ein öffentlicher Ruhe-Störer. Der einzige (und kontinuierlich) im deutschen Nachkriegsfilm. Er drehte in der "Ostzone" bei der DEFA und in den Westzonen. Er drehte, wo er arbeiten konnte, um die Filme zu machen, die ihm notwendig erschienen. Es ist leichthin vergessen oder verdrängt worden, daß Staudte deswegen wie kein anderer, der bei uns bis heute Filme gemacht hat, der Unterdrückung, der Verunglimpfung und der reaktionärsten Hetze in jenen Jahren ausgesetzt war. – von einer christlich-sozialen Bundesregierung und den ihr nahestehenden Presseorganen.
Diesen Kampf hat er lange durchgestanden, tapfer und weitgehend einsam; das hat ihn aber auch verbraucht und aufgerieben. Als der mutige Einzelgänger sein Scheitern einsehen mußte, hat er in der Folge fast nur noch Auftragsproduktionen für das Fernsehen gedreht, die freilich nicht selten immer noch seine Handschrift verrieten. Es gibt vielleicht Parallelen zwischen Wolfgang Staudtes schrittweiser Resignation und dem Verstummen des Romanciers Wolfgang Koeppen.
Wie Koeppens drei Nachkriegsromane waren Staudtes drei beste Filme Werke des entschiedenen Eingedenkens, der aufstörenden Erinnerung und der aktuellen Zeitkritik. Mit "Die Mörder sind unter uns", bereits 1946 entstanden, gab er das Thema an, das ihn auch (wie später den Dramatiker Rolf Hochhuth) nicht mehr ruhen ließ; 1949 drehte er "Rotation", die Chronik eines proletarischen Mitläufers; und der 1951 (wie die beiden anderen Filme bei der DEFA) entstandene "Untertan" war die Charakteranalyse eines bürgerlichen Typus, der dann als Medium des Faschismus Dauer hatte.
Humanistischer Moralismus und Ätzungskraft des satirischen Blicks, die Staudtes Werk in seinen herausragendsten Momenten imprägnieren, waren in dieser kongenialen Adaption von Heinrich Manns Roman verschmolzen. Heinrich Manns Stil hatte bis in geringste Details die Grammatik von Staudtes Ikonografie bestimmt: Expressionismus nicht als Exaltation, sondern als Präzision der gesellschaftlichen Physiognomie. "Der Untertan" ist Staudtes Meisterwerk geblieben, ein (freilich folgenloses) Paradigma des satirischen Films, dessen künstlerisch schwächer werdende Echos noch in "Rosen für den Staatsanwalt" (1959), "Kirmes" (1960) und "Herrenpartie" (1961) nachhallen.
Es waren Filme, die den immer wieder verschobenen Prozeß gegen die verdrängte Vergangenheit der Individuen und deren kollektive Vertuschung: eröffneten. Staudte wollte damit "die Gehirne enttrümmern". Er hat dafür wenig Zustimmung, geringen Beifall, immer spärlichere Unterstützung gefunden. Populäres Kino, das von einer Population verachtet und geschnitten wurde, weil sie vor dem Blick in den Spiegel der eigenen Negativität flüchtete. So hat dieser "Autorenfilmer" avant la lettre – der mehr Mut, mehr Unabhängigkeit und mehr individuelle Würde gezeigt hatte als seine zeitgenössischen Kollegen – sich zuletzt auf das Handwerkliche eines metteurs-en-scène zurückgezogen.
Als sich eine andere, jüngere Generation im bundesdeutschen Film in Oberhausen zu Wort meldete und später durchsetzte, war Staudte ihrem sympathetischen Horizont schon so entschwunden wie ihr das cineastische Oeuvre eines Eberhard Fechner, der manches von Staudtes aufklärisch-realistischem Kino aufnahm und fortführte, nur deshalb kaum wahrnehmbar wurde, weil Fechners Arbeiten allein im Fernsehen liefen.
Es sieht jedoch so aus, als verlange der Augenblick vom Neuen deutschen Film eine entschiedene Rückkehr zum militanten Kino des Wolfgang Staudte. Die Stoffe liegen auf der Straße und die gesellschaftlichen und politischen Skandale drängen sich einem Film, der die gesamte Öffentlichkeit wieder an sich ziehen will, geradezu auf; nicht zuletzt die Restriktionen und die Zensurtätlichkeiten Innenminister Zimmermanns müßten eine Herausforderung sein, mit Filmen, die den gesellschaftlichen Zentralnerv treffen, darauf unmißverständlich zu antworten. Es hieße, die künstlerische Waffe der Kritik, des Wider- und Einspruchs dort aufzunehmen, wo sie Staudte niederlegte. Der bundesdeutsche Film, der in ihm einen seiner bislang zu wenig bedachten Väter sieht könnte sein Andenken ehren und sein eigenes Ansehen präzisieren, indem er Wolfgang Staudtes Werk endlich fortsetzt: "Ich benötige keinen Grabstein, aber / wenn ihr einen für mich benötigt / wünschte ich, es stünde darauf / Er hat Vorschläge gemacht. Wir / haben sie angenommen. / Durch eine solche Inschrift wären / wir alle geehrt" (Bert Brecht).