Inhalt
Regisseurin Janna Ji Wonders erzählt die Geschichte der Frauen ihrer Familie über ein Jahrhundert. Verbindendes Element und stiller Chronist ist der bayerische Walchensee, an dem die Familie 1920 ein Ausflugscafé eröffnet, das bis heute existiert. Die imposante Gründerin Apa vermacht ihrer Erstgeborenen Norma das Unternehmen, das diese ohne zu klagen bis ins hohe Alter führt. Normas Töchter Anna und Frauke verlassen den See. Sie wollen sich befreien und bereisen als Musikerinnen die Welt. Doch sie kehren zurück und leben in einer Kommune um Rainer Langhans. Frauke, die sich nach der großen Liebe sehnt, kommt auf mysteriöse Weise ums Leben und wird für die Hinterbliebenen zum Irrlicht. Die rastlose Anna zieht in die USA, wo sie ungeplant eine Tochter bekommt. Von den Schatten der Vergangenheit gerufen, kehrt sie mit Tochter Janna zurück an den Walchensee, wo Großmutter Norma für die Enkeltochter zur wichtigen Bezugsperson wird. Als Regisseurin sucht Janna Antworten auf die Fragen wie: Was ist Heimat? Wie sehr prägt mich meine Herkunft? Was zählt am Ende wirklich? Und findet Anhaltspunkte in der Verbundenheit von vier Generationen von Frauen mit unterschiedlichen Lebenskonzepten.
Quelle: 70. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Apa, eine imposante und stolze, allerdings wohl auch strenge Frau, steht am Anfang der Familienerzählung über vier, am Ende nach knapp zwei hochspannenden Stunden gar fünf Generationen. Von den Kindern bleibt ihr nach der Spanischen Grippe nur die Erstgeborene, Norma, welche sich als ebenso fleißig, zäh und geschäftstüchtig erweist. Nach der Geburt ihrer Töchter Anna und Frauke wird sie von ihrem Gatten Werner, einem gutaussehenden Künstler, verlassen, der mit Schwiegermutter Apa nicht klarkommt. Norma klagt nicht, findet in der Arbeit zu sich – bis ins 104. Lebensjahr hinein.
Und legt ihren zwanzigjährigen Töchtern keinen Stein in den Weg, als sie mit Hackbrett und Gitarre in die große Welt aufbrechen – nach Mexiko und in die USA. Eine Radio-Reportage des Bayerischen Rundfunks porträtiert die beiden mutigen Cowgirls aus der Alten Welt, die quer durch den Kontinent trampen und dort mit Volksmusik aus der Heimat in die Schlagzeilen geraten. Frauke ist auf der Suche nach der großen Liebe, will eine Familie gründen, Kinder gebären. Und landet ausgerechnet in der Kommune 1, dem Harem von Rainer Langhans in Berlin-Moabit. Sie stirbt auf mysteriöse Weise bei einem Autounfall.
Ihre ältere Schwester Anna dagegen wollte von Familie und Kindern nichts wissen. Doch auf einem Esoterik-Trip lernt die in Schwabing zeitweise ebenfalls mit Rainer Langhans zusammenlebende Fotografin den Amerikaner Jazon Wonders kennen und zieht mit ihm in eine Hippie-Kommune nach San Francisco. Als Tochter Janna Ji Wonders, die Filmemacherin, zur Welt kommt, kehrt sie wieder an den Walchensee zurück – einmal mehr ohne Mann. Anna trägt ihr Leben lang den unaufgeklärten, unerklärlichen Tod ihrer Schwester mit sich. Und gibt die Fragen, die sie an das Leben und an den Tod hat, an ihre Tochter Janna Ji weiter. Die wiederum ein Mädchen zur Welt bringt und dieses dem Hippie-Großvater Jazon Wonders auf dessen Farm in den USA vorstellt…
Das berückende und, da zur Reflektion des eigenen Lebens anregende, berührende Familienepos „Walchensee forever“ basiert auf einem einmaligen filmischen Schatz. Die Regisseurin arbeitet sich durch rund einhundert Jahre privates Archivmaterial, das jede einzelne Generation akribisch gesammelt hat. Früheste 8mm-Filmaufnahmen, ungewöhnliche Fotografien und detailreiche Briefe lassen die Zuschauer aus nächster Nähe teilhaben an einer Familiengeschichte, die in ihrer Dichte zugleich ein Porträt speziell der westdeutschen Gesellschaft nach 1945 darstellt. Janna Ji Wonders, die von ihrer Mutter, der Fotografin Anna, von Geburt an gefilmt worden ist, stellt nun Fragen an ihre Mutter, an ihre Großmutter Norma, welche vor der Uraufführung der 70. Berlinale im Alter von 105 Jahren verstarb. Aber auch an Jutta Winkelmann, die an Krebs gestorbene Muse von Rainer Langhans, sowie an den prominenten Kommunarden selbst, der mit den drei Frauen Brigitte Streubel, Gisela Getty und Christina Ritter in München lebt.
„Walchensee forever“ stellt Fragen nach Herkunft und Heimat - und nach individuellem Glück durch Selbstverwirklichung. Was am Ende wirklich zählt, offenbart Janni Ji Wonders‘ Flug mit ihrem Baby in die USA, ist die Familie, und sei sie räumlich auch noch so weit vom eigentlichen Zentrum Walchensee entfernt. Die Regisseurin im Farbfilm-Presseheft: „Ich denke, dass es so etwas wie ein Familiengedächtnis gibt, das sich fortschreibt. Und dass wir es oft gar nicht bemerken, wenn wir innerhalb dieses Familiengedächtnisses handeln. Aber ich glaube, dass die Hoffnung darin liegt, sich dies bewusst zu machen, um dadurch seinen eigenen Weg zu finden.“
„Walchensee forever“ wurde bereits 2016 mit dem Kompass-Perspektive-Preis der Berlinale ausgezeichnet, 2019 kam der Bayerische Filmpreis als Bester Dokumentarfilm hinzu, 2020 der Deutsche Kamerapreis für Anja Pohl (Bester Schnitt) sowie Publikumspreise in Österreich („Der Neue Heimatfilm“ Freistadt), Deutschland (Fünf-Seen-Festival Bayern) und Frankreich („Festival du Cinéma Allemand“ Paris).
Pitt Herrmann